Schweitzer Fachinformationen
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ALS ICH IHN DAS ERSTE Mal sah, dachte ich: Der macht's nicht lange.
Ich saß spätnachmittags im Ärztezimmer, da stand er plötzlich in der Tür. Er hatte eine Reisetasche in der Hand und trug leger Jeans und ein braunes Hemd unter seinem weißen Kittel. Er wirkte jung, verloren und leicht verwirrt, aber das war nicht der Grund, weshalb mir dieser Gedanke kam. Es lag an etwas anderem, und es stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben.
»Hallo .?«, sagte er. »Ist das hier das Krankenhaus ?«
Seine Stimme war erstaunlich tief für einen so großen, dünnen Mann.
»Kommen Sie rein«, sagte ich. »Stellen Sie Ihre Tasche ab.«
Er kam herein, doch statt die Tasche abzustellen, presste er sie an sich und betrachtete die rosa Wände, die leeren Stühle, den staubbedeckten Schreibtisch in der Ecke und die welken Topfpflanzen, die ihre Köpfe hängen ließen. Er glaubte wohl, es müsse sich um einen Irrtum handeln. Er tat mir leid.
»Ich bin Frank Eloff«, sagte ich.
»Laurence Waters.«
»Ich weiß.«
»Ach ja .?«
Es schien ihn zu erstaunen, dass er erwartet wurde, dabei schickte er schon seit Tagen Faxe, die seine Ankunft avisierten.
»Wir teilen uns ein Zimmer«, erklärte ich ihm. »Ich zeige es Ihnen.«
Das Zimmer lag in einem anderen Flügel. Wir mussten die Grünfläche gleich neben dem Parkplatz überqueren. Obwohl er denselben Weg gekommen sein musste, betrachtete er den Pfad durch das hohe Gras und die zerzausten Bäume, die schwer an ihren Blättern trugen, als sähe er sie zum ersten Mal.
Wir gingen den langen Flur entlang zum Zimmer. Bis heute hatte ich allein darin gewohnt. Zwei Betten, ein Schrank, ein kleiner Teppich, ein Druck als Wandschmuck, ein Spiegel, ein grünes Sofa, ein niedriger Couchtisch aus Furnierholz, eine Lampe. Die Standardeinrichtung. Die wenigen bewohnten Zimmer sahen alle gleich aus, wie in einem tristen, trostlosen Hotel. Allein im Arrangement der Möbelstücke zeigte sich eine Spur Individualität, obgleich ich mir bis vor zwei Tagen, als das andere Bett hinzugekommen war, nicht die Mühe gemacht hatte, etwas umzustellen. Ich hatte auch nichts hinzugefügt. Das schäbige, schmucklose Mobiliar war völlig unpersönlich. Vor diesem neutralen Hintergrund hätte selbst eine Tischdecke verräterisch gewirkt.
»Sie schlafen da drüben«, sagte ich. »Im Schrank ist noch Platz. Hier ist das Bad.«
»Hmm. Ja. Ist gut.« Doch seine Tasche stellte er immer noch nicht ab.
Ich hatte erst vor zwei Wochen erfahren, dass ich mein Zimmer mit ihm teilen musste. Dr. Ngema hatte mich zu sich zitiert. Ich war zwar nicht sonderlich erfreut, sagte aber auch nicht Nein. Und freundete mich, zu meinem größten Erstaunen, im Lauf der Zeit mit dem Gedanken an. Es war vielleicht doch gar nicht so schlecht. Ein bisschen Gesellschaft konnte weiß Gott nicht schaden, und gesetzt den Fall, wir kamen miteinander aus, würde sich mein Leben dadurch eventuell auf angenehme Weise ändern. Und so sah ich seiner Ankunft mit Vorfreude und Neugierde entgegen. Um ihm das Gefühl zu geben, willkommen zu sein, schob ich das neue Bett unters Fenster und bezog es frisch. Ich räumte ein paar Schrankfächer leer. Ich fegte und putzte, was ich sonst nur selten tat.
Aber jetzt, wo er hier stand, erkannte ich an seinem Blick, dass meine Bemühungen fruchtlos geblieben waren. Das Zimmer war hässlich und kahl. Und Laurence Waters sah ganz anders aus als das Bild, das ich mir von ihm gemacht hatte. Ich weiß nicht, was ich mir vorgestellt hatte, aber gewiss nicht diesen unscheinbaren, beigehäutigen jungen Mann, fast noch ein Kind, der endlich seine Tasche abstellte.
Er nahm seine Brille ab und polierte sie mit seinem Ärmel. Dann setzte er sie wieder auf und sagte müde: »Ich verstehe das nicht.«
»Was ?«
»Das alles hier.«
»Das Krankenhaus ?«
»Nicht nur das Krankenhaus. Ich meine .« Er machte eine weit ausholende Bewegung. Er meinte die Stadt draußen vor den Mauern rings um das Krankenhaus.
»Sie wollten doch unbedingt hierher.«
»Aber da wusste ich noch nicht, wie es hier ist. Warum ?«, fragte er mit jähem Nachdruck. »Ich verstehe das nicht.«
»Darüber reden wir später. Ich bin im Dienst, ich muss wieder an die Arbeit.«
»Und ich muss Dr. Ngema sprechen«, entgegnete er schroff. »Sie erwartet mich.«
»Machen Sie sich deswegen mal keine Sorgen. Das hat Zeit bis morgen früh. Nur keine Eile.«
»Und was soll ich jetzt tun ?«
»Was Sie wollen. Auspacken, sich einrichten. Sie können natürlich auch mitkommen und mir Gesellschaft leisten. Ich habe in zwei Stunden Dienstschluss.«
Ich ließ ihn allein und ging zurück ins Ärztezimmer. Er war bestürzt und niedergeschlagen. Ich konnte das gut nachvollziehen. Mir war es ebenso ergangen, als ich hierhergekommen war. Man hatte bestimmte Erwartungen, und dann kam alles ganz anders.
Man erwartete ein modernes Krankenhaus - klein, aber fein, von reger Betriebsamkeit erfüllt - in einem belebten Ort in der Provinz. Dies war immerhin die Hauptstadt eines früheren Homelands, also erwartete man - ungeachtet der Moral der Politik, der sie ihren Aufstieg verdankte - Beamte, Händler, Menschen überall, ein einziges Kommen und Gehen. Wenn man von der Grenzstraße abbog und stattdessen eine der kleineren Zufahrtstraßen nahm, sah die Stadt, von weitem, eigentlich immer noch aus wie erwartet. Die Hauptstraße führte ins Zentrum, wo der Brunnen und die Statue standen, mit den Fensterfronten, Gehsteigen und Straßenlaternen und all den anderen Häusern und Gebäuden. Alles wirkte sauber, ordentlich und adrett. Hier ließ es sich aushalten.
Doch wenn man schließlich da war, sah man, wie es wirklich war, das erste Anzeichen nichts weiter als ein störendes Detail: ein Riss, der sich durch eine sonst makellose Mauer zog, oder die zerbrochenen Fensterscheiben eines Bürogebäudes. Oder der Umstand, dass der Brunnen trocken war und voller Sand. Und man hielt inne, schaute sich - erfüllt von einer dunklen Ahnung - um, und mit einem Mal stand einem alles klar vor Augen. Das Unkraut in den Fugen zwischen den Gehsteigplatten und Ziegelsteinen, das Gras, das hier und da die Fahrbahn überwucherte, die durchgebrannten Lampen und leer stehenden Ladenlokale hinter kahlen Schaufenstern, der Schimmel, die Feuchtigkeit, die blätternde Farbe, die Stockflecken überall, der schleichende Verfall von Bauten, hier im Kleinen, dort im Großen. Und plötzlich wusste man nicht mehr, wohin man geraten war.
Und nirgends gab es Menschen. Das fiel einem als Letztes auf, und plötzlich wurde einem klar, dass dies der eigentliche Grund war für das dumpfe, ungute Gefühl, das einen von Anfang an beschlichen hatte: Die Stadt war verlassen. Zwar rollte dann und wann ein Auto langsam eine Seitenstraße entlang, stand hier ein Uniformierter auf dem Gehsteig, krauchte da eine Gestalt über ein verwildertes Grundstück, aber im Großen und Ganzen war die Stadt verlassen. Unbewohnt. Keine Menschenmassen, kein Kommen und Gehen.
Eine Geisterstadt.
»Als ob hier etwas Schreckliches passiert wäre«, sagte Laurence. »So kommt es einem vor.«
»Ja, aber das stimmt nicht. Ganz im Gegenteil. Hier ist noch nie etwas passiert. Und hier wird auch nie etwas passieren. Genau da liegt das Problem.«
»Und warum .?«
»Warum was ?«
»Nichts. Bloß warum.«
Er wollte sagen: Warum gibt es sie dann überhaupt ? Und das war die eigentliche Frage. Diese Stadt war nicht auf natürlichem Wege und aus den üblichen Gründen entstanden, aus denen sich Menschen irgendwo ansiedeln, wie zum Beispiel ein Fluss in trockener Umgebung, eine Goldader oder ein historisches Ereignis. Diese Stadt war am Reißbrett entworfen worden, von bösen Bürokraten aus der Großstadt, die vermutlich niemals hier gewesen waren. Das ist unser Homeland, sagten sie, und zeichneten die Grenzen in eine Karte ein, und wo soll nun die Hauptstadt hin ? Warum nicht gleich hier in die Mitte ? Sie machten ein Kreuz mit rotem Filzstift, und alle waren hochzufrieden, schickten nach den Staatsarchitekten und beauftragten sie mit den Plänen für die neue Stadt.
Laurence Waters' Verwirrung war also keineswegs ungewöhnlich. Ich kannte sie aus eigener Erfahrung. Und deshalb wusste ich auch, dass sie vorübergehen würde. In ein oder zwei Wochen würde sie anderen Gefühlen weichen: Verdrossenheit, zum Beispiel, oder Unmut, Zorn. Der sich früher oder später wiederum in Resignation verwandeln würde. Und nach zwei, drei Monaten würde Laurence, genau wie wir anderen, seine Strafe still erdulden und insgeheim Fluchtpläne schmieden.
»Aber wo sind sie alle ?«, fragte er, eher an die Decke als an mich gerichtet.
»Wer ?«
»Die Menschen.«
»Da draußen«, sagte ich. »Wo sie leben.«
Das war Stunden später, abends in meinem oder, besser, unserem Zimmer. Ich hatte eben das Licht ausgemacht und versuchte zu schlafen, als seine Stimme aus der Dunkelheit kam.
»Und warum leben sie da draußen ? Warum sind sie nicht hier ?«
»Was haben wir ihnen hier denn schon zu bieten ?«
»Alles. Auf der Fahrt hierher habe ich das Land gesehen. Da draußen gibt es nichts. Keine Hotels, keine Geschäfte, keine Restaurants, keine Kinos . Nichts.«
»Das brauchen...
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