Schweitzer Fachinformationen
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Paris, 1887
Christine Daaé schloss die Augen, als die schwere, kostbare Seide ihren eingeschnürten Körper umfing. Sie hätte sich nie träumen lassen, jemals ein derart elegantes Kleid zu tragen, funkelnd von zahllosen Edelsteinen und überreichlich mit Spitze besetzt. Die Seide war in blassem Rosa gehalten, und die Juwelen bildeten einen wahren Regenbogen aus Rot-, Rotviolett-, Rosa- und Grüntönen. Spitze in allen nur vorstellbaren Weißschattierungen - von Schneeweiß über bläuliches Weiß und Eierschale bis hin zu altem Elfenbein - hing ihr von den Ärmeln und strich über den Boden. In den Aussparungen des Spitzenmusters erblühten winzige Rosetten aus pinkfarbener und roter Seide.
Das schwere Kostümkleid strömte einen Geruch aus, der sie an Carlottas aufdringliches Rosenparfüm erinnerte und ihr die Tränen in die Augen trieb. Das war nicht der reine, unverfälschte Duft der Rosen, die ihr Ange de Musique ihr schickte, der Duft, mit dem sie sich liebend gern umgab. Der Geruch von Carlottas abgelegtem Kostüm war auf ebenso unangenehme Weise überwältigend wie Carlotta selbst.
Trotz allem aber wollte Christine das Kleid tragen, denn heute Abend würde sie nicht nur hinsichtlich des Gewands die Rolle der Primadonna einnehmen. Sie würde vor dem gesamten Opernhaus die Arie der Julia aus Gounods Roméo et Juliette singen, weil Carlotta, der Star des Hauses, wenige Stunden zuvor in einem Wutanfall von der Bühne gestürmt war.
Bei der Probe hatte sich ein Teil der Kulisse aus seiner Verankerung gelöst und war unmittelbar neben jenem Kostüm umgefallen, das Christine jetzt anlegte, das in besagtem Augenblick aber die Diva Carlotta trug. Sie hatte soeben das Vergnügen gehabt, die beiden neuen Direktoren des Opernhauses - Monsieur Moncharmin und Monsieur Richard - kennenzulernen, als das Kantholz auf die Bühne stürzte. Es streifte noch den Saum ihres Kleids, bevor es krachend zu ihren Füßen zu liegen kam.
Carlotta sprang so schnell zur Seite, wie ihr üppiger Körper es zuließ, als die schwere Leinwand zu Boden fiel. Ihre Brüste zitterten mit ihrem Doppelkinn um die Wette, während ihre empörten Schreie in der plötzlichen Stille hallten. Sie schlug sich die Hand so heftig gegen die Brust, dass von ihrem Busen eine Wolke weißen Puders aufstieg. «Unerhört! Unerhört!», kreischte sie, riss sich ihren mit Federn bestückten Hut vom Kopf und schleuderte ihn einer der Kostümschneiderinnen entgegen. «La Carlotta ist krank! La Carlotta singt heute nicht!»
Dann stolzierte sie von der Bühne und verschwand in einem Wirbel aus Röcken und Federn, während die neuen Direktoren ihr schockiert nachstarrten.
Auf der Bühne und im Orchestergraben erhob sich entsetztes Geflüster.
«Das war der Geist der Oper!»
«Schon wieder!»
«Sie hätte dabei umkommen können!»
«Meine Puderquaste hat er auch gestohlen», zischte eine der Tänzerinnen.
«Der bewegt sich wie ein Schatten», fügte eine andere hinzu.
«Ja, eine ganz üble Kreatur ist das», bestätigte Joseph Buquet, der Maschinenmeister, mit aufgerissenen Augen, um den jungen Tänzerinnen noch mehr Angst einzujagen. «Seine Augen sind wie Kohlen, seine Zähne schwarz und faulig. Gelbe Haut spannt sich über sein Gesicht, und seine schwarzen Kleider hängen an seinem Gerippe. Er wird euch kriegen und zum Mittagessen verspeisen!»
Madame Giry, die Ballettmeisterin, bereitete dem Geraune mit einem energischen Fingerschnippen und einem stechenden Blick ihrer pechschwarzen Augen ein Ende. «Redet nicht über Dinge, von denen ihr keine Ahnung habt», befahl sie und warf Buquet, der sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte zu flüstern, einen missbilligenden Blick zu. «Jetzt aber wieder an die Arbeit! Das gilt auch für dich, Sorelli. Auch wenn du unsere beste Tänzerin bist, solltest du dich endlich auf die Probe konzentrieren!»
Sie dirigierte die Tänzerinnen hinter den eisernen Vorhang, der das Ballettfoyer vom Rest der Bühne trennte. Mairie, der leitende Choreograph, forderte die Künstler auf, mit den Proben fortzufahren. Und falls noch immer von hier oder da Geflüster oder Gemurmel an Madame Girys Ohr drang, so hörte sie es nicht . oder ließ es sich zumindest nicht anmerken.
Alles in allem war es wahrhaftig ein höchst unglückseliger Vorfall - und das ausgerechnet an dem Tag, als die beiden neuen Direktoren ihren Dienst am berühmten Pariser Opernhaus antraten. Ihre Vorgänger, Debienne und Poligny, waren von den Künstlern gleichermaßen respektiert wie gefürchtet worden und hätten in dieser Situation angesichts des Chaos auf und hinter der Bühne mit einem Tobsuchtsanfall reagiert. Diese beiden neuen aber, die Herren Richard und Moncharmin, die zuvor bei der Müllabfuhr beschäftigt gewesen waren, ließen das Debakel nur konsterniert über sich ergehen.
«Geist der Oper?», hörte Christine, die nahe genug am Ort des Geschehens stand, Monsieur Moncharmin seinen Kollegen fragen. «Davon haben Debienne und Poligny aber nichts erzählt, als sie uns ihre Posten übergeben haben! Was hat das nur zu bedeuten?»
Monsieur Richard, der größere und adrettere der beiden Männer, vergrub die Hände in den Taschen seiner Weste, stellte sich auf die Zehenspitzen und erwiderte murmelnd: «Das ist bestimmt nur eine dieser verrückten Geschichten, Armand. Vergiss nicht, dass wir jetzt im Theatergeschäft sind! Die Leute hier sind ausgesprochen abergläubisch, und ich nehme an, dass wir noch mehr solches Zeugs zu hören bekommen werden - was in gewisser Hinsicht ja auch ganz unterhaltsam sein kann.» Er kicherte nachsichtig vor sich hin und setzte dann eine seriösere Miene auf. «Aber jetzt kommt es erst einmal darauf an, für die heutige Galavorstellung einen Ersatz für La Carlotta zu finden. Keine singt mit einer solchen Anmut wie sie.»
«Absagen können wir die Vorstellung auf gar keinen Fall», murmelte Moncharmin zustimmend. «Schließlich hat Chagny sein Kommen angekündigt, also muss alles wie vorgesehen verlaufen.»
Und dann, ehe Christine sich versah, hatte Madame Giry sich von ihrer Tanztruppe abgewandt, um sie zu packen und vor die Direktoren zu zerren. «Mademoiselle Daaé wird heute Abend einen mehr als zufriedenstellenden Ersatz für La Carlotta abgeben. Ihr Gesang hat sich in den letzten drei Monaten ganz erheblich verbessert.»
Monsieur Richard blickte auf Christine herab. Mit hochgezogener Braue musterte er skeptisch ihr schlichtes Tänzerinnenkostüm, das an der Stelle, wo es von einer nachlässig gehandhabten Lockenschere angesengt worden war, einen Flicken aufwies und am Saum schon ganz ausgefranst war. Christines Handflächen begannen zu schwitzen, als sie die Hände rang, unsicher, ob sie sich nun freuen oder fürchten sollte. Das hier schien die Chance ihres Lebens zu sein. «Eine der Tänzerinnen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass .»
«Ach komm schon, Richard, kann doch nicht schaden, dem Mädel eine Chance zu geben», drängelte Moncharmin. «Wen sollten wir auch sonst nehmen?» Dann wies er Christine mit weitausholender Gebärde an, in die Bühnenmitte zu treten, wandte sich dem Dirigenten zu und forderte ihn mit einer knappen Anweisung zum Spielen auf.
Christines Kehle war so trocken, dass sie glaubte, keinen einzigen Ton herauszubekommen. Beklommen trat sie in die Mitte der Bühne, wobei ihr weiter, bis zur Wade reichender Rock mit jedem Schritt auf und ab wallte. Die Plattform, die von hinten zu den Gaslampen am vorderen Rand ein leichtes Gefälle aufwies, erschien ihr ebenso riesig wie beängstigend, obwohl die vordersten Sitzplätze allesamt leer waren.
Ein paar schräge Töne erklangen, als die Geiger wieder ihre Plätze einnahmen und der Cellist seinen Bogen ansetzte, denn die Mitglieder des Orchesters hatten fluchtartig ihre Sitzplätze verlassen, als die Sache mit der Kulisse passiert war, und mussten sich deshalb erst wieder neu sortieren . und dann - nach einer Ewigkeit, so schien es Christine - erklang endlich die Melodie.
Sie kannte die Musik, öffnete den Mund zum Singen und stieß den Atem aus, wie ihr Engel es ihr erklärt hatte, den Mund immer schön gerundet und die Töne bis zum Ende lang und wahrhaftig. Und während ihr Gesang aus ihr floss - zögerlich zunächst, dann ein bisschen wackelig, dann leise, schließlich aber lauter und klarer -, wurde Christine sich allmählich der Tatsache bewusst, dass dies der bislang aufregendste Augenblick ihres siebzehnjährigen Lebens war.
Sie schloss die Augen. Jede Einzelheit des prächtigen Opernhauses hatte sich in ihr Gedächtnis eingeprägt, und nun stellte sie sich vor, wie sich die ersten, leicht gebogenen Reihen vor dem Orchestergraben füllten und später auch die auf der Galerie. Die hohe, kuppelförmige Decke des Auditoriums war mit Lenepveus farbenprächtiger Darstellung der Musen ausgemalt, die grazil in einem Kreis von Wolken tanzten. In der Mitte des Gemäldes war eine lange Kette befestigt, an der ein prächtiger kristallener Kronleuchter hing.
Die Wände des Auditoriums schmückten karmesinrot ausgekleidete Logen, von denen die nächsten so dicht an Christine heranreichten, dass sie jedes Detail der Kleidung einer Zuschauerin hätte erkennen können. Die einzelnen Logen waren durch massive, goldfarben bemalte Säulen voneinander getrennt, und die Vorderseite eines jeden Balkons war reich mit Blumenmustern, königlichen Wappen und Cherubinen verziert. Über Christines Kopf, oberhalb des Proszeniums, trompeteten weitere Engel auf eleganten Instrumenten.
Selbst wenn die Direktoren sie an diesem Abend...
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