1. Abgründe und Felsvorsprünge
Als wir in unserem Hotelzimmer in Mitzpe Ramon zu Bett gingen, wussten wir, dass wir am nächsten Morgen mit winterlichen Verhältnissen rechnen mussten. Man erwartete einen Kälteeinbruch in Israel. Meine Fantasie ging mit mir durch, als ich unsere Wanderkarten vor mir auf dem Bett ausbreitete und an die vor uns liegende, unbekannte und allem Anschein nach verlassene Gegend dachte. Genügten die zwei Tage, die mein Mann und ich eingeplant hatten, um unsere nächste Versorgungsstation zu erreichen, oder würden uns vorher Lebensmittel und Wasser ausgehen?
Es gab Momente, in denen mir dieses «Israel Trail»-Projekt anspruchsvoller erschien als ursprünglich angenommen. Dennoch grübelte ich nicht lange darüber nach, sondern führte mir vor Augen, wie dankbar viele Leute wären, auch nur einen einzigen Blick auf diese biblischen Landschaften werfen zu können. Außerdem hatten wir davon geträumt, eine Auszeit von unserem betriebsamen Alltag zu nehmen, und nun war es so weit.
Immerhin schlief ich problemlos ein. Dank unserer heutigen siebenstündigen Wanderung durch den Ramon-Krater und empor an dessen Randfelsen war Schlaflosigkeit so gut wie ausgeschlossen. Doch am nächsten Morgen klopfte mein Herz vor Aufregung. Es galt, Mitzpe Ramon zu verlassen und entlang dem Kraterrand nach Osten zu wandern.
John und ich wappneten uns gegen den Wind, als wir in der Morgendämmerung aus dem Hotel ins Freie traten. Mitzpe Ramon, eine kleine Stadt auf dem Randplateau des mächtigen Kraters, war in den 1950er-Jahren gegründet worden, als eine Busladung Neueinwanderer aus Marokko mitten im Negev abgesetzt wurde. Diese Juden waren aus dem Land, in dem ihre Vorfahren seit der spanischen Inquisition im Jahre 1492 gelebt hatten, in ihre biblische Heimat zurückgekehrt. Sie wurden in der Wüste in einigen Frachtcontainern untergebracht, wo sie im Auftrag der Einwanderungsbehörde eine neue Stadt errichten sollten - ein bis heute schwieriges Unterfangen. Die Kleinstadt lebt vor allem von umliegenden Militärstützpunkten und vom Verkehr aus Elat Richtung Norden. In den letzten Jahren erlangte sie allerdings neue Bedeutung als Zentrum für Ökotourismus in der Wüste.
Vorbei an Kindern, die fest in ihre Winterjacken gehüllt zur Schule gingen, ließen wir die Stadt bald hinter uns und wanderten entlang der Felskante, etwa fünfhundert Meter über der Sohle des Kraters. Wie oft ich auch mit dem Auto durch den Krater gefahren war, jedes Mal staunte ich über die atemberaubende Aussicht von oben. Der fünf Kilometer entfernte südliche Kraterrand, die verschiedenfarbigen Sand- und Felsformationen und die schwarzen Höcker in der Mitte waren Zeugen längst vergangener vulkanischer Tätigkeit. Als wir diesmal den Weg zu Fuß zurücklegten, wirkte die Landschaft noch viel intensiver auf uns. Die Ehrfurcht, die ich empfand, mischte sich indes mit Sorge, denn der Himmel überzog sich mit dunklen Wolken, und in der Ferne sah man schräge Regenstreifen wie Girlanden herunterhängen.
«Gott sei Dank haben wir Rückenwind», bemerkte John.
«Es wäre nicht auszudenken, an einem Tag wie heute auch noch gegen den Wind zu wandern», sagte ich. «Ob es wohl regnen wird? Überall am Horizont sieht man Regen.»
«Schwer zu sagen.»
Dieser Weg entlang dem Krater, eher Jeep-Route als Wanderpfad, bereitete uns wenig Mühe. Ich war froh, Handschuhe und eine warme Mütze mitgenommen zu haben. An anderen Tagen hatten wir um diese Zeit längst unsere Jacken ausgezogen, doch heute war nicht im Entferntesten daran zu denken.
Wir fielen in einen gleichmäßigen Schritt und kamen gut in Richtung Nordwesten voran. Nach zweistündiger Wanderung meldete sich mein Magen. Es wurde Zeit für eine kleine Zwischenmahlzeit. Allerdings konnten wir unmöglich anhalten, um etwas zu essen, da wir überall dem Wind und einem leichten Nieselregen ausgesetzt waren.
Endlich bemerkte ich, dass der Weg ein Stück vor uns in ein Wadi1 hinabführte und dass dort im Flussbett Büsche wuchsen, die uns etwas Schutz bieten konnten. Ich war wirklich reif für meinen Müsliriegel.
Vor unserem Aufbruch zum Israelpfad («Israel Trail») hatten wir uns darauf geeinigt, nur zu essen, wenn wir hungrig wären, doch wie sich herausstellte, war es ausnahmslos mein Appetit, der unsere Essgewohnheiten bestimmte.
John hatte aber nichts gegen eine kurze Pause einzuwenden. Er blickte hinauf zum Himmel und zog sich dabei die Jacke fester zu. «Schade, dass es letzte Nacht nicht geschneit hat.»
«Geschneit?! Das fehlte noch!» Der Gedanke an kaltes Wetter hatte mich schon vor Beginn dieser langen Wanderung nicht zur Ruhe kommen lassen. «Hoffentlich wird aus dem Nieseln kein richtiger Regen. Racheli klang besorgt, als sie uns gestern Abend anrief und sagte, der Wetterbericht habe für Mitzpe Schnee gemeldet.»
«Ach, komm, Jupe, kein Grund zur Sorge!» Jupe ist Johns holländischer Spitzname für mich. Nur er nennt mich so, und ich mag die Art, wie er den Namen ausspricht («Dschjup»). Und ich muss zugeben, ich mag es auch, dass John stets für alles zu haben ist. «Das Wetter ändert sich meist schnell in dieser Gegend», fügte er optimistisch hinzu.
Beim Weggehen von zu Hause hatten wir jedoch zueinander gesagt, dass uns allein schlechtes Wetter daran hindern könnte, diese Wanderung bis zum Schluss durchzuziehen. Und mir war klar, dass wir bei starken Niederschlägen aufgeben müssten, zumindest vorübergehend. John, der unverbesserliche Optimist, glaubte offensichtlich nicht an ein Stärkerwerden des Nieselregens.
«Stell dir vor, wir sind bis nach Mitzpe Ramon gewandert!» Johns Stimme klang begeistert. «Ganz gleich, was jetzt noch geschieht: Das kann uns niemand mehr nehmen.» Jedes Mal, wenn wir einen weiteren Meilenstein erreicht hatten, wiederholte John diese Feststellung, und diesmal sagte er es, um uns beiden Mut zuzusprechen.
Nach vier Stunden gelangten wir zum östlichen Ende des herzförmigen Kraters, wo der Wanderweg eine scharfe Kurve nach Norden nahm, weg vom Kraterrand. Der Wind trieb uns nun nicht mehr von hinten an, was wir sofort zu spüren bekamen.
Obwohl die Strecke bis hierher nicht ganz eben gewesen war, hatten wir auch keine nennenswerten Höhenunterschiede zu überwinden gehabt. Das sollte sich jetzt ändern. Der Pfad bestand zudem nicht mehr aus einer Jeep-Route, sondern führte durch eine unwegsame Steinhalde bergauf. Die einzigen Bäume in diesem Teil der Negev-Wüste wuchsen unten in den Wadis, die sich bei Regen mit Wasser füllten. Hier oben wuchsen nur niedrige, stachelige Pflanzen mit genügend Widerstandskraft, um den Großteil des Jahres ohne Regen auszukommen und dem unablässigen Wind zu trotzen.
Wir hielten ständig Ausschau nach den Markierungen des Schwil Israel2: drei parallele Streifen in weiß, blau und orange. Es waren nicht alle Wegzeichen an gut sichtbaren Stellen angebracht, und so liefen wir Gefahr, uns zu verirren. Den Wind im Gesicht und von der Last des Rucksacks zu Boden gedrückt, sagte ich mir immer und immer wieder: «Einen Schritt nach dem anderen», während wir auf dem Gebirgszug bergauf und bergab wanderten.
Eine Stunde nach meinem Müsliriegel knurrte mein Magen schon wieder und mein Schritt verlangsamte sich. Ich brauchte die Mittagsverpflegung, doch wo sollten wir bei diesem Wetter anhalten?
«Keine Bange», sagte John, «wir finden sicher einen windstillen Ort, an dem wir unsere belegten Brote essen können. In dieser Gegend gibt es viele natürliche Höhlen.»
Ich sah einige Höhlen auf der anderen Seite des Wadis, wollte mich jedoch von unserem Wanderpfad nicht allzu weit entfernen, da wir noch einen langen Weg vor uns hatten.
Meine Gedanken schweiften in die Zukunft. Wenn wir heute nicht weit genug kämen, würden wir es morgen niemals bis nach Sde Boker schaffen. Und wir hatten lediglich Proviant und Wasser für zwei Tage mitgenommen.
Wir entdeckten ein Seiten-Wadi, das vielversprechend aussah. Es war eng genug, um ein wenig Schutz zu bieten, und vielleicht würden wir dort eine Höhle finden. Doch als keine zum Vorschein kam, ließen wir uns zwischen Geröllbrocken auf einer einigermaßen flachen Stelle nieder. Käsebrote, ein Apfel, eine Orange und Wasser - all das schmeckte zu Hause nie so gut wie an der frischen Luft nach fünfstündiger Wanderung. Als Nachspeise genehmigten wir uns noch einen Kraftriegel. Immer wieder fiel leichter Nieselregen.
«An so einem Tag sollte man mit einem guten Buch am Kaminfeuer sitzen und heißen Apfelpunsch trinken», sagte ich lachend, «und was tun wir?!»
Schon bald nahmen wir den Weg wieder unter die Füße. Jede kleine Steigung kostete Kraft. Sooft es auch schien, als hätten wir die höchste Erhebung erreicht, tauchte noch eine weitere vor uns auf. Als wir uns schließlich über eine ausgedehnte Hochebene schleppten, mussten wir uns förmlich gegen den Wind stemmen und uns auf unsere Wanderstöcke abstützen.
«Gut, dass wir Rucksäcke haben», sagte John. Auf einigen Abschnitten unserer Wanderung hatten wir viel miteinander gesprochen, doch heute konzentrierten wir uns hauptsächlich darauf, uns in Bewegung zu halten. «So werden wir wenigstens...