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Selbstzweifel war die Triebfeder von Giacomettis Schaffen: "Ich muss wissen, warum ich versage." Seine unverwechselbaren Plastiken sind überlange, bis auf den Wesenskern ausgebrannte Körpergerüste. In allen Sammlungen moderner Kunst sind sie zu finden. Manche sehen darin den ausgelieferten Menschen des 20. Jahrhunderts, beziehungslos, von Sinnlosigkeit ermattet. Andere erkennen ein Echo auf Kultfiguren frühzeitlicher Religionen.
Seltener verbindet man mit dem Namen Alberto Giacometti den bedeutenden Maler und Grafiker. Dabei nahm das Porträt einen gewichtigen Teil der künstlerischen Potenz des Schweizer Künstlers in Anspruch. Familienmitglieder und Freunde mussten ihm oft viele Stunden, ja Tage, Modell sitzen. Die Ergebnisse, wenn er sie nicht schon vorher als ungenügend oder misslungen vernichtet hat, lassen "in die Tiefe schauen", lassen den Schmerz spüren, der in ihnen ist. Ähnliches empfindet man bei den nahezu körperlosen Skulpturen, gleich ob es sich um einen "schreitenden Mann" oder um eine "stehende Frau" handelt - oder um einen Hund, der ausgemergelt und mit gesenktem Kopf eine Spur wittert.
Wochenlang hatte ich täglich das Gesicht Alberto Giacomettis vor Augen. Fotografiert von Franz Hubmann. Ich hatte mir das Porträt als Hintergrundbild auf der Startseite meines Notebooks eingerichtet. Zuvor hatte ich den Film Les heures chaudes de Montparnasse gesehen, der drei Jahre vor dem Tod des weltberühmten Bildhauers und Malers gedreht worden ist. Giacometti beim Skizzieren, beim Modellieren und beim Nachdenken. Freundinnen, Freunde und anonyme Passanten sprechen darüber, was es für sie bedeutet hat, diesem Menschen in den Gassen des 14. Arrondissements zu begegnen. Täglich hatte man ihn leicht hinkend und mit gesenktem Kopf in sein Stammcafé gehen sehen oder irgendwann spät in der Nacht zurück in sein Atelier. Die meist jungen Leute in diesem Film erzählen von einer großen Wärme, die zu spüren war, wenn er vorüberging. Liebenswürdig war er, auch fremden Menschen gegenüber. Très gentil, très très gentil. Wie er einen anschaute, wenn er für einen Gruß dankte, wie er sich noch einmal umdrehte, mit einem breiten Wohlwollen im Gesicht.
So blickte er mich an, wenn ich in der Früh mein Notebook öffnete: Mit gefurchter Stirn unter dem kräftigen graumelierten Wuschelhaar, tiefen Kerben um den breit-sinnlichen Mund und mit dem Blick, der sich nicht recht entscheiden kann zwischen Empathie und Selbstzweifel. Ungefähr ein Jahr vor seinem Tod antwortete er auf die Frage, ob er gern an seine Kindheit denke: "Nein. Meine Kindheit ist jetzt. Denn jetzt erst lerne ich, wie ich das machen muss, was ich machen will."
Mit zwanzig Jahren entdeckte Alberto in Florenz und später im Louvre die alte ägyptische Kunst für sich. Diese ins Zeit- und Raumlose blickenden Stand- und Schreitfiguren. Ähnliche Haltungen fand er in den etruskischen Skulpturen, die man damals vor 2300 Jahren den Toten ins Grab mitgegeben hatte. Der wohl berühmtesten darunter, dem sogenannten "Schatten des Abends", einer unendlich langgestreckten Figur - gleichermaßen Jüngling und Mädchen - begegnete Giacometti erstmals in den sechziger Jahren. Die Ähnlichkeit zu seinen eigenen Skulpturen überraschte ihn. Das Todesthema liegt nahe. Giacometti drückte sich nie davor. "Alles ist bedroht!" Seit er aber das Sterben eines Freundes mitansehen musste, konnte er im Dunkeln nicht mehr schlafen. Lebenslang. Einmal meinte er sogar, dass Kunst wohl die beste Vorbereitung auf den Tod sei.
Was wollte Giacometti mit seiner Kunst? Mit seinen "stehenden Frauen", die gefroren in Hoheit, Verlangen und sublimiertem Schmerz im Raum stehen. Mit den "schreitenden Männern", die begegnungsfern aufeinander zumarschieren und doch großen Schrittes das Weite suchen. Mit seinen Köpfen, Büsten, Halbfiguren. Mit den grauschwarzen Porträtbildern, für die er vornehmlich seine Frau Annette, den Bruder Diego, eine langjährige Geliebte und einige ausgewählte Freunde zwang, stundenlang still zu sitzen, tagelang. Beim Zeichnen oder Malen hatte Giacometti den Arm mit dem Pinsel oder dem Bleistift immer völlig gestreckt - ähnlich der Haltung eines Menschen, der sich blicklos "seinen Weg in der Finsternis ertastet". Die Gespräche, die auf Filmdokumenten von solchen Sitzungen existieren, sind eigentlich Monologe. Wenn er zu erklären versucht, dass er im Besonderen eines Gesichts das Allgemeine sichtbar machen möchte; alles, was an Kraft in einem Kopf wohnt. Den ganzen Menschen, gebildet aus allen Menschen, der "so viel wert ist wie sie alle, und so viel wert wie jedermann". So steht es bei Jean-Paul Sartre im letzten Satz seiner "Wörter". Vielleicht eine Quintessenz aus den vielen Gesprächen des Philosophen mit Giacometti, noch zu Zeiten ihrer Freundschaft.
Gelegentlich äußerte sich Giacometti über die zuerst winzigen, später in eine faszinierend schmale Länge gezogenen Skulpturen. Er betonte, dass es ihm vor allem um den Raum gehe, der um eine Skulptur herum entstehe. Je geringer das Volumen einer Figur wäre, umso mehr Raum könne sie dem Raum schaffen. Während der Urtrieb des Bildhauers die gestaltgebende Ausdehnung sei, war Giacomettis Prinzip das Zusammenziehen, ähnlich dem Zimzum in der Kabbala: Gott ist Schöpfer, indem er sich zusammenzieht, damit um ihn herum alles entstehen könne, was ist. Giacomettis Figuren, geschaffen nach 1945, stehen nicht im Raum, vielmehr laden sie den Raum ein, sich zu "entfalten". Entäußerung. Demut. Kenosis. Wer das einmal gespürt und begriffen hat, weiß sich wirklich von Giacometti ergriffen.
Giacomettis Hund. Er hatte natürlich keinen lebendigen. Giacomettis Wohnort war ja das Atelier, das mit seinem Chaos voller Gipsstaub und penetrantem Terpentingeruch keinem anderen Lebewesen zugemutet werden konnte, nicht einmal einem Hund. Sein Bruder Diego, der nebenan die Werkstätte hatte, fütterte zugelaufene Katzen. Sie besuchten Giacometti manchmal am Morgen, stiegen über sein Bett, sodass er ihren runden Kopf über seinem Gesicht spürte. Aus dieser Erfahrung modellierte Giacometti seine Katze, 80 Zentimeter lang, dünn wie eine Zündschnur, ovaler Kopf, heutiger Schätzwert 16 bis 22 Millionen Dollar oder noch mehr.
Eine zweite Tierskulptur, die er schuf, war der berühmte Hund. Giacomettis Hund. Trottend mit gesenkter Schnauze sucht er eine Spur, abgemagert zum Skelett, einsam und herrenlos. Kinder, so wird erzählt, haben oft Mitleid mit ihm im Museum und versuchen, ihn an der bronzenen Schnauze zu streicheln. Der Hund, sagte Giacometti einmal, das bin ich. Man assoziierte diesen Hund auch mit den schroffen und zerklüfteten Felsen des Graubündner Alpentals und mit der Treue des Künstlers zu seinem Heimatdorf Stampa, wo bis zwei Jahre vor seinem Tod die Mutter lebte. Er besuchte sie regelmäßig.
Die Katze war der andere Lebensmittelpunkt: Paris. Zwielichtige Modelle liefen ihm zu wie dem Bruder Diego die hungrigen Katzen. Der Giacometti von Paris war ein Nachtgeschöpf. Apropos Katze: Wenn er sich entscheiden müsste, entweder einen Rembrandt oder eine Katze aus einem brennenden Haus zu retten, dann, meinte er einmal, würde er die Katze retten.
Giacomettis Atelier ist zum Mythos geworden, man nannte es "Geburtshöhle und Grabkammer in einem" und "jeder Hoffnung und jeden Komforts beraubt". Selbst als er schon sehr viel Geld hatte, verließ er sein Atelier nicht. Es lag in der Rue Hippolyte-Maindron 46, Halbstock, fünfundzwanzig Quadratmeter, Wasser und Klo außen im Hof. Das Atelier war seine zweite Haut. Und der einzige Ort, an dem er sich wirklich geborgen fühlte. Rundum warteten die mit feuchten Tüchern umhüllten Gespenster unfertiger Skulpturen auf ihre Erweckung zum Leben. Beleuchtet war alles von nackten Hundert-Watt-Glühbirnen. Der Fußboden war übersät mit unzähligen Brandspuren ausgetretener Zigarettenstummel. Die Wände, über und über bedeckt mit graffitiähnlich hingeworfenen Kritzeleien, Bleistiftzeichnungen und Malskizzen, den Zeugen von vierzig Jahren kreativer Unrast. Als in den 1970er Jahren das Atelier geräumt wurde, nahm man den Verputz der Wände ab wie bei alten Fresken und übertrug sie in die Sammlung der Giacometti-Stiftung.
Wie viele andere Künstler empfing auch er Kollegen, Gäste und Händler gerne in seinem Atelier. Die chaotische Unordnung des Schauplatzes der Kämpfe zwischen Idee und Materie wurde zur mystischen Aura. Alle waren sie zu ihm gepilgert: Michel Leiris, Picasso, Sartre, Genet, Artaud, Cartier-Bresson und Marlene Dietrich. Für Samuel Beckett schuf er hier in langen Gesprächen den...
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