Schweitzer Fachinformationen
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Es gibt einen Ort im Inneren des Orkans, wo völlige Stille herrscht. Dort bin ich starr sitzen geblieben. Enriquetas Welt zieht stoßweise, in Schüben, an meinen Augen vorbei, doch ich rühre mich nicht vom Fleck.
Im Stadtteil Belgrano R, wenige Querstraßen vom gleichnamigen Bahnhof entfernt, gab es ein auffällig heruntergekommenes und stolzes Anwesen. Früher war es einmal ein Familiensitz gewesen, später hatten die Eigentümer es jedoch, um den Zusammenbruch hinauszuzögern, in ein Hotel verwandelt. Sie nannten es Hotel Suiza, in der Hoffnung, der helvetische Name werde eine betuchte Kundschaft anlocken. Die Kletterpflanze, die den Eingang zu überwuchern drohte, das quietschende Gartentor und die schwärzlichen Marmorstufen, die zur Tür hinaufführten, verliehen dem Ganzen allerdings einen ausgeprägt altersmüden, melancholischen und abenteuerlichen Anstrich. Kein Wunder, dass das Haus sich mit Bohemiens füllte.
Nach einer mit viel Gin und Zigaretten zugebrachten Nacht taufte der Mieter des am hinteren Ende liegenden Zimmers, ein romantischer Dichter namens Máximo Simpson, den Ort um in Hotel Melancólico.
Des Nachts segelt das Hotel Melancólico
dem Tode entgegen,
mit seinen schwarzen Fluren, auf denen Marschälle wandern,
im Dienst des großen Zaren Alexander ergraut,
mit seinen alten Samowaren und traurigen Korbflaschen
seinen zerbrochenen Fliesen, seiner erloschenen Aristokratie,
seiner illustren Patina -
kleine Archäologie des armen Pensionsgasts,
der sich inmitten von Ruinen die halbe Seele bewahrt hat.
Wer dort gewohnt hat, versichert, zwischen diesen Wänden die glücklichste Zeit seines Lebens verbracht zu haben. Vielleicht stellt die Sache sich ja im Rückblick schöner da, als sie war. Vielleicht auch nicht. Vielleicht gibt es tatsächlich so etwas wie »die glücklichste Zeit des Lebens«, eine Feststellung, die einen ganz schön traurig machen kann.
Das Hotel bestand genau genommen aus zwei durch einen mit Zypressen bestandenen Garten verbundenen Wohnhäusern. Im vorderen lebte die Verwalterin, Madame Maria Iwanowna Vadim, eine so luxuriös wie nachlässig gekleidete Russin mit Sympathien für die Weiße Garde, deren Vater, ein General im Dienst des Zaren, während der Bolschewistischen Revolution mit Frau und Tochter nach Prag geflohen war. Als der General und seine Frau wenig später starben, verwandelte ihre einzige Tochter sich schlagartig in eine alte Frau, lässt einen doch nichts so sehr altern wie der Tod der Eltern. Maria Iwanowna hätte daraufhin in Alaska landen können, aber das erste Schiff, das sie bestieg, nachdem sie von Prag nach Triest weitergereist war, brachte sie nach Argentinien. Nach ihrer Ankunft lösten sich mit der Zeit auch die letzten Mitbringsel aus der Heimat in Luft auf, und wirklich froh sollte ihre Besitzerin nie wieder werden, trotz der monumentalen Anstrengungen, sich nicht entmutigen zu lassen. Die einzige Verbindung zur Vergangenheit war die Freundschaft zu einem blutjungen Ex-Admiral der Flotte von Wladiwostok, Lozinski. In Buenos Aires hatten sich die beiden in dem Nachtclub Chez son Altesse kennengelernt. Der Admiral erschien regelmäßig am späten Nachmittag im Hotel und führte Madame Vadim am Arm durch den Garten. Gerne blieb sie vor dem Mimosenstrauch stehen, der bei Berührung die Blätter einklappt und so tut, als würde er eingehen, um sich erst wieder zu öffnen, wenn man sich entfernt hat.
Hinten, im zweiten Haus, lebten die Pensionsgäste - Künstler und Verliebte, bei denen, auf verschlissenen Sesseln fläzend, Gespräche dieselbe genussreiche Wirkung hervorzurufen schienen wie Musik. Alle waren sie intelligent, alle hatten sie die eine oder andere besondere Begabung, weit bringen sollte es aber keiner von ihnen. Über Politik sprachen sie nie, und sie hielten sich streng an die Regel, die Schuhe draußen, im Vorraum, auszuziehen - Madame Vadim hatte die Gewohnheit der russischen Museen übernommen, deren Besucher in Filzpantoffeln schlüpfen müssen, damit sie das Parkett nicht zerkratzen.
Das Gittertor steht offen. Auf dem Weg zum Eingang des Hotels stolpert Enriqueta über einen am Fuß der Treppe liegenden, nicht ordentlich aufgerollten Gartenschlauch. Zu ihrem Ärger bietet sie dabei einen ziemlich unwürdigen Anblick, es sieht sie jedoch niemand. Auf ihr Klingeln öffnet sich eine Tür aus kunstvoll bearbeitetem Walnussholz, woraufhin eine menschliche Gestalt unter den Rahmen tritt. Es handelt sich um die Negra höchstpersönlich, die Augen mit Kajal umrandet, der Blick hart wie Stein. Ihre Haut ist schwarz, aber nicht glänzend schwarz, sondern matt, als hätte die Sonne sie jeder Möglichkeit, ihr Licht widerzuspiegeln, beraubt. Sie trägt ein verwaschenes rotes T-Shirt, mit einem halben Dutzend münzgroßer, offensichtlich von Zigarettenglut verursachter Löcher, eine graue Wollhose und einen überraschend eleganten Gürtel aus schwarzem Krokodilleder. Hält man sich an die Vorgaben der Zeitschrift Hola des Jahres 1963, ist sie nicht nach der neuesten Mode gekleidet - sie hat weder einen Pagenschnitt noch ein Hütchen auf dem Kopf, und auch keinen Pelzkragen oder einen gerade geschnittenen Rock -, und trotzdem passt ihr das, was sie anhat, so perfekt, dass man meinen könnte, sie lasse sich nur von den besten Schneiderinnen des Landes Maßkleidung anfertigen.
»Na sowas - du hier! Was für eine Überraschung, komm rein!«
Das Hin und Her kennt Enriqueta bereits - einerseits möchte sie allein am sicheren Ufer bleiben, andererseits sehnt sie sich danach, von den anderen ins tiefere Wasser gezerrt zu werden. Die Negra zieht sie jetzt hinein. So hat es Enriqueta mir zumindest erzählt.
Was sind das für Leute? Sie haben etwas von einer heruntergekommenen Freimaurerloge, eine bunte Mischung vom sogenannten Schicksal oder Zufall zusammengeführter Persönlichkeiten. Enriqueta wird vom einen zum anderen geleitet, beugt sich schließlich der Verwalterin des Hotels entgegen, einer Rothaarigen mit einem auffälligen, zu ihrem Haar passenden falschen Rubin am kleinen Finger. Neben ihr steht Ex-Admiral Lozinski in seiner verschlissenen grünen Jacke.
»Madame Vadim, darf ich Ihnen meine verzogene Kleine vorstellen?«, sagt die Negra, und alle drehen sich zu ihnen um.
Aus einer Musiktruhe im Hintergrund dringen wilde Trompetenklänge. Die Männer tragen abgenutzte dunkle Jacketts und weiße Hemden - aber keine Schlipse - und haben Seitenscheitel. Ein Dichter mit buschigen Augenbrauen hat den Fuß aufs Kamingitter gesetzt und rezitiert eigene Verse. Ein Ex-Kommunist spricht über Werbung, er strahlt die verzweifelte Energie mancher Schoßhündchen aus. Ein selbstsicher wirkender Lockenkopf ergeht sich in Ausführungen über eine neue Galerie, er ist vor allem ein Schurke. Die Frauen haben Kurzhaarschnitte à la Jean Seberg und tragen kleine Zweiteiler. Eine Chilenin fängt an, mit dem Dichter zu streiten - die Poesie müsse zum Volk sprechen, deshalb mache sie Musik. Eine andere, gertenschlanke Frau erweist sich als Übersetzerin. Ein wenig abseits steht ein blonder Mann mit weißer Haut und dreieckigem Fuchsgesicht und sieht zum Fenster hinaus. Er kommt aus der Ukraine, hat eine Fotokamera um den Hals und eine Aktenmappe in der Hand, in der er seine Negative aufbewahrt, die er keine Sekunde aus den Augen lässt. Alle kommen auf Enriqueta zu und entfernen sich anschließend wieder, bieten ihr schottischen Whisky an und fragen sich: Ist sie eine von uns?
Ab und zu wirft Madame Vadim einen Blick auf ein über dem Eichenholztisch hängendes Gemälde und ruft: »Za vashe zdorovie!« Dann unterbrechen die Gäste, was immer sie tun, und prosten ihr zu.
Auch Enriqueta betrachtet das Bild. Eine Frau in Seitenansicht, sie hat schwarzes Haar, funkelnde Augen und ist von Schnecken umgeben. Was Enriqueta bei dem Anblick empfindet, kann sie nicht in Worte fassen. Allerdings nichts Übernatürliches, so viel sei hier klargestellt.
»Mariette Lydis«, sagt sie schließlich.
Kurz darauf stellt Enriqueta entsetzt fest, dass sie mit dem Dichter tanzt, er erzählt ihr was über französische Taschendiebe. Die geschicktesten unter ihnen trügen angeblich künstliche Arme, die sie für alle sichtbar über der Brust kreuzten, um in ihrem Schutz umso dreister ihrer Arbeit nachgehen zu können. Als der Dichter einen Moment unaufmerksam ist, nutzt Enriqueta die Gelegenheit und lässt sich auf einen Sessel sinken. Der Ukrainer setzt sich neben sie und fängt an, vom Hotelgespenst zu erzählen: eine Frau, die nachts Eier aus der Küche klaue und im Garten vergrabe, damit es aufhört zu regnen und ihre Tochter gesund und unversehrt wieder auftaucht.
»Fühl dich wie zu Hause«, sagt die Übersetzerin, die so schlank ist, dass man sie für eine Erscheinung halten könnte. »Was Gäste angeht, sind wir ziemlich wählerisch. Aber wenn wir jemanden mal akzeptiert haben, ist er Teil der Familie.«
Wie bin ich eigentlich hier gelandet?, fragt sich Enriqueta, und da fällt es ihr wieder ein.
Sie kennen sich von der Escuela de Bellas Artes. Enriqueta und die Negra haben zusammen in der Kalkgrube gearbeitet und Fresken im Stile Corregios angefertigt. An der Kunsthochschule hat man ihnen das Kopieren beigebracht, das ist die Methode, mit der man dort das Malen lernt. Die Negra hat Enriqueta damals zur einzigen Freundin erkoren, allen anderen sprach sie ab, denkende Wesen zu sein, sie gestand ihnen...
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