Schweitzer Fachinformationen
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Als ihre kleine Schwester verschwindet, ist Zoey selbst noch ein Kind. Jetzt, zwanzig Jahre später, sind ihre Erinnerungen daran bruchstückhaft und widersprüchlich. Warum wurde nie nach der Schwester gesucht? Nach dem Tod der Mutter reist Zoey an die französische Atlantikküste, wo sie zu dritt gelebt haben, bevor diese eine Nacht alles veränderte. Zoey ahnt: Sie muss ihre Erinnerungen neu sortieren, die wie Inseln im Licht aus dem Meer ragen und die tief unter der Oberfläche miteinander verbunden sind.
2
Als ich geduscht aus dem Badezimmer komme, ist von draußen Tumult zu hören, mehrere Stimmen rufen durcheinander. Von meinem Zimmerfenster aus kann ich über die Düne blicken, und ich sehe, wie das Auto der Strandwache davonfährt, während eine kleine Gruppe Surfer ratlos zurückbleibt. Ihre Bretter liegen über den Strand verteilt, der Rettungsschwimmer mit dem Megafon steht etwas abseits von ihnen. Neben ihm ist der nasse Sand in Löcher und Fußabdrücke gebrochen, als hätte dort ein Handgemenge stattgefunden. Sein weißes Cape ist jetzt schmutzig und nass, und er hat eine Hand erhoben, wiederholt wieder und wieder »tout est okay« in das Megafon. »Tout est okay.«
Ich muss an ein Gedicht von Sophie Robinson denken, »Edward Scissorhands«:
dadbod jesus bloated on a beach
dadbod jesus watching over me,
und ich wünschte, es gäbe eine Form der Spiritualität in meinem Leben, eine Vorstellung von der Mutter im Paradies, was immer das für sie wäre. Ich wünschte, jemand würde sie dort begrüßen, in einem Nest aus perfekten weißen Wolken und Licht. Ich wünschte, jemand würde ihrer Vorsicht, ihrer Zurückhaltung mit Wärme begegnen und ihr sagen, jetzt ist es vorbei, tout est okay. Ab jetzt ist alles leicht für dich.
Alles wäre immer einfacher gewesen, wenn wir an etwas geglaubt hätten. An eine Schicksalsschreibung, irgendetwas, das aus unserem Leben mehr gemacht hätte. Aber es gab nichts dergleichen in uns. Kein Gottvertrauen und keine Rituale außer den Abläufen des Fernsehprogramms. Ich wünschte, ich hätte eine Praxis für ihren Tod, ich wünschte, es gäbe andere hier, die sie vermissen, die mit mir sitzen, mit mir essen, sich mit mir erinnern. Aber ich bin allein, wie Edward, der alles zerschnitt, was er liebte. Ein Loch in der Brust, wie eine durchschlagene Wand. Monsterscham.
Kein dadbod jesus, der mich zudeckt, der meine Scherenhände hält. Nur ein Vater, den ich kaum kenne. Es gibt niemanden außer mir, der die Mutter geliebt hat.
Die Wasseroberfläche ist jetzt leer, alle Surfer sind den Rufen an Land gefolgt. Die Wellen bilden tiefe Gräben, der Regen zieht wie eine Wand auf das Land zu. Was immer da unten am Strand passiert ist, es ist der zweite Umbruch in kurzer Zeit, den ich verpasst habe.
Ich beobachte, wie die Surfer das nasse Neopren von ihren Körpern pellen, und entdecke dabei eine Gruppe von drei Menschen, die weit vorn im nassen Sand kauert, in einer völlig anderen Welt. Eine Frau mit ihren zwei Kindern. Während der Strand sich leert, graben sie Löcher, die von schnellen Flutwogen überspült und aufgefüllt werden. Sie graben, graben, graben, und wenn das Wasser kommt, springen sie zurück. Ich höre die Kinder lachen, sie rennen ins schwarze Wasser und wieder hinaus. Sie sehen silbern darin aus, klein und glänzend im Licht.
Ich schließe das Fenster und rufe den Vater an, warte auf sein Gesicht in meinem Screen. Das ist die Verbindlichkeit, die er mir gibt: Er ist immer erreichbar. Ich habe kaum eine Vorstellung von seinem Leben, kenne seine Frau nur zweidimensional, hinter ihm auftauchend, um mich zu grüßen, dann wieder in den Tiefen der gemeinsamen Wohnung verschwindend, in Räumen, die mir fremd sind, nichts als fragmentierte Wände, eine fragmentierte Küchenzeile, Regale mit Büchern, die seinen Kopf umgeben.
»Zoey!«, sagt er. »Es passt gerade schlecht.«
Ich frage ihn, ob er schon weiß, wann er hier ankommen wird.
»Das ist alles schwierig«, sagt er und hält mich dabei so, dass ich sein Gesicht von unten sehe, seine schwarzen Nasenlöcher, die Oberlippe, den Hemdkragen. Mein Vater ist immer glatt rasiert, und er trägt weiße Hemden, die akkurat gebügelt sind. Ich habe auch dazu kein Detailwissen, keine Ahnung, wie er sich rasiert, ob elektrisch oder nass, ob er selbst bügelt, ob er alles in die Reinigung gibt, ob seine Frau ihm diese Arbeit abnimmt. Auch er besteht für mich nur aus Fragmenten, aus Einzelfakten, aus dem, was er über sich selbst sagt, was ich ergoogelt habe. Anwalt. Verheiratet. Lebt in Budapest. Ich weiß nicht, ob ihm sein Aussehen, die glatte Haut, das kurze weiße Haar, das Hemd, ob ihm das wichtig ist oder anerzogen. Ich erinnere mich nur daran, wie er einmal, als wir uns in Berlin getroffen haben, seinen rechten Fuß auf den Rand eines Blumentrogs gestellt hat, um mit einem Stofftaschentuch einen Fleck vom glatten Leder zu putzen.
Ich will ihm sagen, dass ich die Asche der Mutter nicht allein verstreuen kann. Aber ich kenne ihn gut genug, mein Wunsch nach seinem Beistand hat für ihn etwas Maßloses, ist das Einfordern einer Bringschuld, zu der er in keiner Weise verpflichtet ist.
Ich stelle mir uns am Strand vor, die Abdrücke seiner Schuhe, eine klar umrissene Spur, die unseren Weg zur Wasserkante markiert. Sein Blick auf die silberne Armbanduhr, später dann das Reinigen des Leders mit dem Taschentuch, feuchter brauner Sand auf weißem Stoff, und ich weiß nicht mehr, aus welcher Fantasie heraus ich ihn je hierhergebeten habe, als wäre der Abschied von der Mutter ein Sofia-Coppola-Film, pastellfarbene Szenen, in denen ein Vater und eine Tochter sich nach Jahren in Südfrankreich wieder treffen, eine stille Zuneigung, mein Gesicht im Close-up, seine Hand auf meiner Schulter, gestreichelt von meinen Haarsträhnen. Die Asche, die aus unseren Händen steigt wie ein Schwarm hellgrauer Falter, die sich weich mit dem Wind dreht und schließlich zu Himmel wird.
Die Realität ist, dass mein Vater kein Interesse an einer solchen Begegnung mit mir hat und diesen kompletten Plan, die Einäscherung der Mutter in Frankreich, das Verstreuen ihrer Asche hier, an diesem Ort, an dem sie seit zwanzig Jahren nicht mehr war, dass er all das unsinnig und übertrieben findet. Die Mutter und ich, wir waren ein bizarres Duo für ihn, und wie es mir scheint, hat er Angst davor, ich könnte jetzt über Gebühr Anschluss an sein Leben suchen.
Um ihn von dieser Vorstellung zu befreien, nehme ich einen geschäftigen Tonfall an, den ich von ihm gelernt habe: »Ari kümmert sich um den internationalen Leichenpass, damit der Körper hierhergebracht werden kann. Er wird dann irgendwo in der Nähe kremiert, und dann kann ich die Asche abholen.«
Ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Vater sich nicht erinnert, wer Ari ist, dabei war sie meine erste Freundin, dabei hatte ich ihm damals Bilder geschickt, aus dem einen kurzen Urlaub, den wir als Paar gemacht hatten. Ari und ich am Lido, hinter uns das Meer und in meiner Hand eine Banane. Es ist ihm egal, wer sie für mich ist, aber er sagt, es freue ihn sehr, dass jemand sich dieser Sache angenommen hat, und ich vermute, mit »dieser Sache« meint er nicht allein den Leichenpass, den Transport und die Einäscherung, sondern auch mich.
Er sieht mich jetzt nicht mehr an. Während wir sprechen, bewegt er sich, er legt mich ab, ich sehe ihn nicht mehr, ich sehe seine weiße Zimmerdecke, seine Designerlampe.
Ich höre ihn Englisch sprechen und warte, ich höre seine Frau antworten. Dann wird der Screen schwarz. Eine Weile lasse ich mein Handy noch so neben mir auf dem Hotelbett liegen. Der schwarze Screen, die Taschengeräusche, das Taschendunkel meines Vaters, der offenbar irgendwohin aufgebrochen ist.
Ich war Teil eines bizarren Duos, jetzt bin ich eine bizarre Einzelheit. Allein, in diesem Zimmer am Atlantik, im bläulichen Licht, während draußen der Regen auf den Sand fällt. Ich warte auf den Transport der Mutter, und in mir liegen die Gedanken an sie wie ein Pool, in den ich eintauche, sobald es keine Ablenkung gibt.
Die Mutter in ihrem Bett, ihr Körper unter der Decke, weil sie fror, obwohl es so heiß in der Wohnung war, dass das Linoleum des Bodens sich unter meinen Fußsohlen warm und nachgiebig anfühlte.
Die Mutter, die in ihrer Verwirrung plötzlich an diesen Ort zurückgekehrt war, an das Meer, den Strand, den Bauwagen, obwohl unser Leben hier so viele Jahre zurücklag. Oda, die dadurch plötzlich eine Präsenz in unserer Wohnung war, obwohl wir all das immer totgeschwiegen hatten. Aus ihrem Bett heraus fragte mich die Mutter, ob noch Gas in der Flasche war, ob das Dach noch immer die undichte Stelle hatte, sagte mir, dass ich daran denken musste, einen Eimer drunterzustellen, falls in der Nacht ein Gewitter käme, und ob Oda schlief. Oda, für immer Kind, und die Mutter, selbst wie eines.
In mir krampft es sich zusammen, wenn ich daran denke, wie wütend mich diese Fragen gemacht haben, wie ich sie nicht in Ruhe lassen konnte mit dieser Rückkehr, wie ich ihr diesen Frieden nicht gönnen konnte. »Jetzt hör endlich auf damit, es nervt.« Die Zurückweisung in meiner Stimme liegt mir noch immer im Mund, kalt und bitter. Meine Härte und ihr ratloser Blick, beides werde ich nicht mehr los. Edward Scissorhands.
Natürlich wollte sie hierher zurück, in die Zeit, an den Ort, an dem unser Leben noch in Ordnung gewesen war. Ein einsames französisches Bullerbü. Wir drei am Strand, sie, die Oda und mich mit einem Handtuch jagte. Und wir, nass und lachend, in verschiedene Richtungen Haken schlagend, sodass sie sich entscheiden musste, links oder rechts, Oda oder ich.
Ich weiß nicht mehr, wann mir die Idee kam, sie hier einäschern zu lassen und zu verstreuen, ich weiß nicht mehr, wie die Recherche dazu verlief, das Buchen meines Tickets, das Finden eines geeigneten Bestattungsunternehmens. Ich vermute, dass Ari mir die logistischen Schritte abgenommen hat. Hat sie telefoniert, hat sie gegoogelt, als der Körper der Mutter noch im Bett in der warmen Wohnung lag und ich die ganze Zeit herumgeräumt habe, die leeren Plastikflaschen in...
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