Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Victor kannte das Spiel aus der Schule. Die Mädchen sprangen über ein aufgespanntes Gummiband, wodurch ihre Röcke so weit nach oben flogen, dass ihre Oberschenkel und Unterwäsche zu sehen waren. Die Jungs aus den höheren Klassenstufen drängten sich um sie herum, um die schwerkrafttrotzenden Sprünge jedes einzelnen Mädchens mit begierigen Blicken zu verfolgen. Er selbst stand zwischen ihnen und beobachtete die Bewegungen der Mädchen, als handle es sich um ein wissenschaftliches Experiment.
Eines Nachmittags spielte Victor, von der Sonne gebräunt, das Gummihüpfspiel mit seinem Bruder und seinen Cousinen, als ein Transporter die Straße entlangraste und dabei jedes Blatt und jeden Grashalm mit feinem Staub bedeckte. Der Transporter hielt vorm Haus der Nachbarn, und eine Frau Mitte vierzig stieg aus. Ihr folgte ein Junge, um die zehn wie Victor, und streckte sich. Er musterte zuerst die Mädchen und dann Victor, der seinen Blick starr und stumm erwiderte. Der Junge war hoch aufgeschossen, und seine Haut war weiß wie Milch.
Vom Drang erfasst, den Neuankömmling zu beeindrucken, wies Victor seine Spielgefährten an, das Gummiband höher zu spannen. Er rollte die Aufschläge seiner kurzen Hose bis zu den Oberschenkeln hoch und rannte auf das Gummi zu. Er hob beide Arme und machte einen Handstand, wobei er das Gummiband mit den Zehenspitzen streifte, und landete anschließend auf den Füßen. Ein perfekter Salto! Während er sich den Schmutz von den Händen wischte, warf er einen Blick über die Schulter, aber der Junge war bereits ins Haus gegangen.
Nach dem Spiel gingen Victor und sein älterer Bruder Raffy nach Hause. Im Hinterhof stand ihre Mutter und wässerte die Pflanzen mit dem Gartenschlauch.
«Bei den Nachbarn sind heute neue Leute angekommen, Mama», sagte Victor.
«Die haben riesige Kisten mitgebracht», fügte Raffy hinzu.
«Wahrscheinlich Verwandte, die hier ihre Sommerferien verbringen», sagte Mama Grace und warf einen Blick auf ihre Kinder. Deren Gesichter, Hände und Füße waren schmutzig, ihre Kleider rochen nach getrocknetem Schweiß. «Ihr beide nehmt jetzt ein Bad und zieht eure Schlafanzüge an. Bald gibt's Abendessen.»
«Na gut», sagten sie und gingen ins Haus.
Das Abendessen war ein spärliches Mahl aus Mungbohnen und einer Menge Bittermelonenblättern. Als Victor mit dem Essen fertig war, ging er auf sein Zimmer und stellte sich ans Fenster. Das Nachbarhaus war hell erleuchtet, wie das Rathaus bei öffentlichen Festlichkeiten. Aus dem Innern hörte er immer wieder leises Lachen. Der Transporter parkte unter einem Baum und niemand war draußen zu sehen. Nach einigen Augenblicken legte Victor sich auf sein Bett und dachte über den Jungen nach. Wie heißt er, wo kommt er her, wer ist die Frau, wie lange werden sie hierbleiben? All diese Fragen gingen ihm so lange durch den Kopf, bis er einschlief.
Am nächsten Tag wachte Victor auf und schlenderte ins Erdgeschoss. Seine Mama trank am Esstisch ihren Kaffee und sprach mit der Haushaltshilfe, die das Frühstück zubereitete. Manang* Minda war eine entfernte Verwandte, die als Gegenleistung für Kost und dringend benötigtes Geld ihre Dienste im Haushalt anbot. Die beiden wandten die Köpfe nach ihm um, als sie ihn kommen hörten.
Er wünschte ihnen einen guten Morgen und setzte sich auf einen Stuhl neben seine Mama.
«Du bist heute aber früh auf», sagte sie und kämmte sein Haar mit ihren Fingern. «Hast du was vor?»
«Nein», sagte er und gähnte.
Im Hof flatterten und gackerten die Hühner. Victor lehnte sich aus dem Fenster und sah die Frau, die gestern angekommen war, auf sein Haus zuschreiten.
«Mrs. Grace Molina, bist du da?», rief die Frau fröhlich.
Seine Mama lugte durchs Fenster und fragte ungläubig: «Carol? Bist du das?» Dann eilte sie zur Küchentür, um der Frau zu öffnen, und die beiden nahmen einander fest in die Arme. Victor hörte zu, wie sie lebhaft erfreut Nettigkeiten austauschten.
«Jetzt sieh dich mal an! Du hast dir über all die Jahre deine sexy Figur bewahrt», schmeichelte Mutter der Frau und nahm deren schmale Taille in Augenschein. Carol trug ein bauchfreies Oberteil und eine Stretchhose.
«Und du, Schätzchen, bist noch genauso hübsch wie früher», sagte Carol und zwickte seiner Mama in die makellose Wange. «Wie ich sehe, hat sich hier nichts geändert - leider inklusive der schlampigen Arbeit der Gemeindevertreter von Quinarayan. Ich begreife nicht, wieso sie diese wackelige alte Holzbrücke, die jederzeit einstürzen könnte, nicht schon längst ersetzt haben. Obwohl, den Grund kann ich mir schon denken. Aber lassen wir das - wie geht es dir denn, Schätzchen?»
«Gut», antwortete Mutter. «Man lebt halt so vor sich hin.»
«Das mit Nanang* tut mir leid», sagte Carol. «Woran ist sie denn gestorben?»
«Komplikationen mit der Lunge - und sie war halt sehr alt.»
«Wie geht's Tatang*?»
«Der will sich ums Verrecken nicht den grauen Star behandeln lassen.»
«Na, ich denke, wenn du erst so alt bist, willst du auch nicht noch mehr Schmerzen haben, oder?»
«Stimmt auch wieder», sagte Mutter. «Komm doch rein und lass uns reden.»
«Sehr gern, aber ich hab nicht viel Zeit, heute kommen noch Männer, um am Haus zu arbeiten. Du kennst mich ja, ich finde immer irgendwas zu tun. Ich kann nicht einfach nur dasitzen und die Hände in den Schoß legen.»
«Na, du bist eben auch immer noch ganz die Alte», sagte Mutter, und die beiden Freundinnen lachten.
Als sie ins Haus kamen, stand Victor am Esstisch.
«Du meine Güte! Ist das etwa Victor?», fragte Carol.
«Ja», antwortete Mutter. «Raffy, mein Ältester, schläft noch. Ich habe zwei Kinder.»
«Was bist du groß geworden!», rief Carol aus und ging auf Victor zu.
«Das ist deine Ninang* Carol», sagte Mutter, «meine beste Freundin.» Carol und sie seien im Kindergarten und der Schule in der gleichen Klasse gewesen, fügte sie hinzu; später sei sie Ärztin geworden und habe sich einer Ernährungskampagne auf den Visayas angeschlossen, wo sie ihren kanadischen Freund kennengelernt habe. Sie hatten auf den Philippinen geheiratet und waren dann nach Kanada gezogen, wo sie seither lebten.
Victor nahm Carols Hand und legte sie auf seine Stirn.
«Gott segne dich, Schätzchen», sagte Carol.
«Und du?», fragte Mutter. «Wie viele Kinder hast du?»
«Auch zwei Jungs, ich habe aber nur den jüngsten mitgebracht», sagte sie. «Ach, das ist doch wunderbar! Dann hat mein Kenneth einen Spielkameraden, während wir hier sind.»
«Wie lange bleibt ihr denn?»
«Knapp drei Wochen.»
Sie setzten sich an den Tisch, und Mutter bot ihrer Freundin eine Tasse Kaffee an. «Gern, danke dir», sagte Carol. «Nur ein Löffel Zucker, bitte.»
Die Haushaltshilfe brachte Carols Kaffee. Victor saß still dabei, während seine Mutter und seine Patentante sich angeregt über ihre Kindheit unterhielten: darüber, wie sie auf dem einäugigen Pferd seiner Mutter durch die Stadt geritten waren, oder wie sie einmal zum Entsetzen ihrer Eltern mit bloßen Händen Quallen gefangen hatten. Sie sprachen über ihre Mitschüler, von denen die meisten mittlerweile in unterschiedlichsten Teilen der Welt arbeiteten. Sie erinnerten sich an die Lehrer, die lebenden und die verstorbenen, bis ihr Gespräch allmählich zu erlahmen begann. Nach einer langen Pause sagte Carol: «Ich muss dann mal wieder. Vielen Dank für den Kaffee und das Gespräch.»
Mutter brachte ihre Freundin zur Küchentür. «Ach, beinahe hätte ich's vergessen», sagte Carol lachend. «Bei uns findet am Wochenende eine Bienvenida-Party* statt. Ich hoffe doch, dass ihr alle kommt.»
«Das lassen wir uns nicht entgehen», sagte Mutter lächelnd.
Als seine Ninang fort war, trug seine Mama ihm auf, nach Großvater zu schauen. «Essenszeit», sagte sie. Victor flitzte sofort los. Sein Lolo* hatte bereits frische Sachen angezogen und saß auf der Bettkante. Victor setzte sich neben ihn. Er nahm den Kamm vom Beistelltisch und kämmte ihm die grau gewordenen Haare. Selbst die Augenbrauen durchzogen weiße Strähnen. Vorm Fenster sah Victor seine Ninang mit verschiedenen Männern reden, die Bolos* bei sich trugen. Er nahm seinen Großvater an der Hand und führte ihn zum Esstisch für die erste Mahlzeit des Tages.
Am Morgen der Bienvenida-Party kam der Friseur des Viertels, um seiner Mama die Haare zu machen. Victor aß sein Frühstück am Esstisch und beobachtete den Kosmetiker und seine Mutter auf der hinteren Veranda. Hiyas hatte sich ein wenig das Gesicht gepudert, seine Haare wirkten drahtig und spröde. Victor verstand nicht, warum seine Mama ausgerechnet Hiyas ihre Haare anvertraute.
«Aus welcher Provinz kommen Sie?», fragte Mutter ihn, während er ihre Haare mit einem frischen Handtuch trocknete.
«Pangasinan, Ma'am», antwortete Hiyas. Seine Stimme klang tief und rau, als hätte er gestern den ganzen Tag mit seinen Kundinnen geplaudert, dabei sprach Hiyas nur, wenn er etwas gefragt wurde.
«Was hat Sie hergeführt?»
«Mein Bruder hat eine Ilocana* geheiratet, Ma'am. Ich bin zu ihnen gezogen.»
«Ich mag Ihre tiefe Stimme.»
«Danke.»
«Singen Sie?»
«Ja, Ma'am, aber nur für mich.»
Der Friseur legte ihr das Handtuch um die Schultern und machte sich an die Arbeit. Er war so konzentriert, dass er sich auf die Unterlippe biss. Schnipp-schnipp-schnipp machte seine Schere, als er Mutter die Haare schnitt. Hiyas bemerkte Victors Blick und sie lächelten sich an. Seine Mutter bemerkte...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.