Schweitzer Fachinformationen
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I'm a fountain of blood
In the shape of -
Er steht und schaut. Hinunter auf ihn. Steht reglos, ebenso reglos, wie der daliegt, auf den er hinunterschaut. Wie eigenartig Blut riecht. Er versucht, sich den Geruch einzuprägen, will ihn sich merken, vergleicht ihn mit anderen, mit vertrauten Gerüchen. Der Vergleich macht es leichter: säuerlicher als anderes, süßlicher als anderes. Plötzlich wird ihm bewusst, dass Vergleiche ganz unnötig sind, ihm wird klar: Dieser Geruch hat sich ihm schon eingeprägt, und er wird sich unweigerlich erinnern, ihn erkennen, sobald er ihn erneut in die Nase bekommt. Noch nach Jahren oder in vollkommener Dunkelheit, wo das Auge keine Hilfe ist und nicht unfehlbar leitet, wo nur auf den Geruch Verlass wäre, würde er zweifelsfrei sofort wieder wissen, dass es Blut ist, er wird diesen Geruch mit nichts anderem verwechseln, und das nicht, weil er ihn bewusst in sein Gedächtnis einsortiert hätte, ihm neben allen anderen Gerüchen einen Platz zugewiesen und ihm einen Namen gegeben hätte, nein, eher im Gegenteil, denn was er jetzt empfindet, kann er mit keinem anderen süßlichen, säuerlichen, angenehmen oder unangenehmen Geruch verbinden. Und sich Außergewöhnliches einzuprägen ist leicht. Er steht und schaut auf den Körper hinunter. Schön ist er, denkt er. Diesen Gedanken kann er nicht zurückhalten. Auch nicht all die anderen Gedanken, viel zu schnell jagen sie dahin, einer genau wie der andere oder nur geringfügig verschieden, und diese Ähnlichkeit ist verwirrend, so verwirrend wie die Artikel der deutschen Sprache. Wären es ganz unterschiedliche Gedanken, könnte er sich selbst vielleicht wieder in den Griff bekommen und sie abwehren, doch sie ähneln einander zu sehr, reihen sich so dicht aneinander, dass nicht zu unterscheiden ist, wo der eine endet und der andere beginnt: Bald schießt ihm durch den Kopf, wie schön dieser Körper ist - bald, wie attraktiv - bald, wie maskulin - bald, wie doch noch immer jungenhaft und trotzdem maskulin; gleichzeitig denkt er an die Blutlache, die große Lache, die sich rot auf dem nicht sehr sauberen weißen Teppich ausgebreitet hat. Weiß ist eine heikle Farbe, denkt er, sie verbirgt nichts. Der Körper scheint wie mit Absicht so sorgsam hingebettet zu sein, mit dem Kopf auf dem Teppich, damit sich rings um ihn herum das Blut zu einem Glorienschein sammelt. Ein neuer Gedanke durchfährt ihn: Nein, kein Glorienschein, eine Blüte. Die Beine sind ein bisschen gespreizt, eine Hand liegt auf dem Bauch, der andere Arm ist ausgestreckt. Sein Blick löst sich vom Körper, gleitet zurück zum Teppich. Eine frisch gepresste Blume im Herbarium, denkt er, und der nächste Gedanke widerspricht sogleich: eine frisch gepflückte Blume, deren Farben noch nicht stumpf geworden sind. Nach wie vielen Minuten verfärbt sich Blut, wann wird es dunkler? Wann verliert sich sein Geruch? Soll ich hierbleiben und abwarten? Und woher nur kommen diese unsinnigen Vergleiche? Er kann sich nicht in den Griff bekommen, seine Gedanken überschlagen sich, rasen, einer zieht den anderen nach sich. Schön ist der sterbende Körper, schön die Blutlache; unheimlich still sickert das Blut aus der zerschmetterten Stirn, kaum merklich wird die Lache auf dem Teppich größer und größer. Die Augen stehen offen, dabei dachte er immer, nur im Kino werde so gestorben, damit der Zuschauer den bedeutungsschweren Blick des Schauspielers in Nahaufnahme sehen, der Geliebte oder der Freund dem toten Helden mit zitternder Hand die erloschenen Augen schließen kann, als bitte er um Verzeihung, dass er ihm nicht zur Seite stand. Aber nein, es ist wohl tatsächlich so: Der Körper stirbt mit offenen Augen. Wie seltsam, denkt er, ich vermag ihn nicht als Menschen wahrzunehmen, er ist ein schönes Bild, das einen Geruch verströmt, das einer frisch gepflückten Blume gleicht, das eine Farbe, eine Form hat und sich nicht bewegt. Ist er schon gestorben? Wie, wann, in welchem Augenblick genau? Mit dem letzten Atemzug hat er seine Seele ausgehaucht - da, noch so eine Platitude, denkt er und lässt den Blick über den schönen Leib wandern, beginnend mit dem Gesicht, von der Stirn über die Nase zu den Lippen. Nein, der Mund steht nicht offen, die Lippen sind zusammengepresst, das Kinn gereckt. Die Kehle. Der Adamsapfel. Er bückt sich zum Hals hinunter, so nah, dass er links, an der Wölbung zwischen Kiefer und Hals, drei Stoppeln entdeckt, die der Rasierklinge entgangen sind. Was für eine Diskrepanz, diese Stoppeln dürfen nicht da sein, denkt er, und bevor er diesen Gedanken gleich selbst verwerfen kann, eilt sein Geist weiter zu einem neuen: Das Gesicht riecht nach Aftershave, aus dieser Nähe ist der Rasierwasserduft intensiver als der Blutgeruch. Nein, das darf nicht sein, dieser Duft stört. Da, nah über den Lippen schwebt auch noch Zigarettengeruch. Für einen kurzen Augenblick meint er, dieser Geruch sei in Wirklichkeit sein eigener; sein Gesicht ist dem des anderen jetzt so nah, dass er Eigenes einem Toten zuschreibt.
Er hält inne. Ihn berühren? Fühlen, wie viel Wärme noch in dem Körper ist? Nein. Er ist schön, schön, er ist schön, wiederholt er für sich und weicht erschrocken zurück. Schaut wieder auf den anderen hinunter. Wovor hat er sich bloß erschrocken? Was soll ein Toter ihm schon anhaben können? Was könnte jetzt denn passieren? Ist es ein Lebenszeichen, dass er riecht? Er weiß, der Geruch besteht aus in der Luft schwirrenden Molekülen und wird sich früher oder später verflüchtigen, im frischen Zug vergehen, der zum Fenster hereinweht. Er denkt: Diese Moleküle schlucke ich, sie geraten mir in Nase und Hals. Blutgeruch in die Nase zu bekommen ist genauso wie Blut trinken -
Hier stockt sein Gedanke, springt nicht zum nächsten, ähnlichen weiter. Er bückt sich wieder und nimmt die Brust in Augenschein. Blonder, fast farbloser Flaum umgibt die Brustwarze. Er blickt auf den seitlich ausgestreckten Arm und denkt: Könnte ich aus diesem Abstand, genau aus diesem Winkel eine Aufnahme machen, und könnte die Kamera genau dasselbe erfassen, was ich jetzt sehe? Das sprießende Achselhaar, den straffen Armmuskel, die gerundeten Fingerspitzen und die blutige Handfläche und die Brustwarze mit dem weichen Flaumhaar. Lange schaut er so, prägt sich das Bild ein. Könnte ich das zeichnen, ersetzt ein neuer Gedanke den vorherigen, dann würde ich ihn so zeichnen, genau so. Er bückt sich noch etwas tiefer, kneift das linke Auge zu und blickt auf den ausgestreckten Arm, richtet den Fokus bald auf die Hand, bald auf die Achsel, denn die Brustwarze ist zu nah; sein Auge beginnt zu schmerzen, und wie er es reiben will, streift sein Unterarm plötzlich den Körper, die Brust. Unwillkürlich. Ohne Bedacht. Sofort kommen seine Gedanken ins Stocken, nein, schlimmer: Sämtliche Gedanken lassen ihn im Stich, es bleiben nur Empfindungen, die sich noch schneller abwechseln als die Gedanken. Der Körper ist warm, fühlt er, die Brust befleckt kein Tropfen Blut, sie ist trocken - nein, ein wenig klebrig müsste sie sich anfühlen, denn der Schweiß ist noch nicht vollkommen verdunstet, sondern überzieht die Haut mit warmer Feuchte.
Jetzt kehren die Gedanken wieder zu ihm zurück: Und wenn er noch lebte? Wenn er lebte und sich plötzlich regte? Nein, er weiß, dass er tot ist. Er weiß es, und nur deshalb kommen ihm all diese Gedanken. Was empfinde ich?, überlegt er. Er kann es nicht benennen. Genuss? Gefallen? Wäre es schön, das Gesicht auf die noch warme Brust zu betten und mit einem Auge auf den ausgestreckten Arm zu blicken? Er macht eine kleine Bewegung zum Körper hin und berührt ihn jetzt sogar mit der Hand. Er befühlt die Kompaktheit der Muskeln. Er hatte immer geglaubt, ein toter Körper müsste starr und hart sein, aber dieser hier ist weich und nachgiebig. Vermutlich erstarrt er in ein, zwei Stunden, überlegt er, und an die Stelle der Verwunderung tritt jetzt wieder das Denken: Nie könnte ich in einem Leichenschauhaus arbeiten, auch Arzt wäre nichts für mich und noch viel weniger Chirurgie . Aber was mache ich jetzt? Das hier ist anders, er ist noch warm, wie ein Lebendiger, so warm. Heißt das, dass die Wärme das Hauptkennzeichen für Leben ist? Das würde dann bedeuten, er lebt noch. Was mache ich denn, wenn er noch lebt?
Vorsichtig legt er ihm die Hand auf den Bauch. Er hat eine schmale Taille, eine ungewöhnlich schmale Taille, breite Schultern und eine schmale Taille. Er berührt die Hand, die auf dem Bauch liegt: Seine Finger sind lang, sie verströmen keine Wärme mehr. Die Finger sind tot, denkt er. Schnell ergreift er die kalte Hand und nimmt sie vom Bauch herunter. Beide Arme sind jetzt seitlich ausgebreitet.
Er richtet sich wieder auf und schaut auf ihn hinunter. Unnatürlich liegt er da, nie hätte er so fallen können. Aber er ist schön. Noch immer sickert Blut aus der zerschmetterten Stirn, der Teppich hat sich mittlerweile vollgesogen. Kein roter Kreis mehr, der den Kopf wie ein Glorienschein umgibt, das Rot hat eine ganz unregelmäßige Form angenommen. Aber wer sagt denn, dass ein Glorienschein unbedingt rund sein muss? Der Blick huscht wieder in Richtung Bauch. Da, wo die Rippen aufhören, wo der Bauch sich einwölbt, ist eine kleine Narbe zu sehen, die von einer Naht geblieben sein muss. Wahrscheinlich war da eine Drainage, überlegt er. Würde ich ihn umdrehen, wäre auf der anderen Seite wohl eine große Narbe. Soll ich ihn drehen?, überlegt er. Vom Nabel abwärts wieder flaumiges blondes Haar; die sprießenden Härchen verlaufen in einem gleichmäßigen Streifen, fast schockierend symmetrisch, obwohl das in der schwachen Beleuchtung nicht mal besonders...
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