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Kurz nach dem Vorfall mit der eingeweichten Schmutzwäsche im Internat hörte ich zum ersten Mal Edith Södergrans Gedicht Das Land, das nicht ist. Und auch wenn ich unglücklich über meine Unzulänglichkeit war, über all die Dinge, die ich nicht konnte und vermochte, war es doch gerade dieser Mangel, der mir ermöglichte, die Welt, die in diesem Gedicht aufschien, vor mir zu sehen; es waren die Risse und Sprünge, durch die ich einen Blick auf die Bedeutung der Worte erhaschte.
Zwei Jahre nach den Ereignissen, in denen meine Schwäche sich so eklatant offenbart hat, kehre ich erneut zu Södergran zurück, diesmal jedoch zu Ediths Mutter, Helena, in der Hoffnung, durch sie einen Blick auf mich und meine Situation zu bekommen. Oder besser gesagt: in der Hoffnung, durch die Offenlegung ihres Makels meinen eigenen klarer zu erkennen.
Ich beginne im Juni 1897, mit einem Nachmittag, an dem Helena Södergran sich auf die Treppe vor dem großen Sommerhaus in Raivola auf der Karelischen Landenge setzte und einen dicken Umschlag öffnete, den sie im Postkontor abgeholt hatte. Vorsichtig zog sie eine steife Pappscheibe heraus, die großzügig in Seidenpapier eingeschlagen war, und öffnete Schicht um Schicht, bis das Foto ihrer Tochter auf ihrem Schoß lag und sie anstrahlte. Das Porträt war drei Wochen zuvor während eines Besuchs bei Helenas Mutter in Sankt Petersburg aufgenommen worden. Edith war im April fünf geworden, und Matts und sie hatten beschlossen, dies zum Anlass zu nehmen, sie verewigen zu lassen. Und hier war also endlich das Foto. Helena betrachtete die Pappscheibe näher, um die Einzelheiten in sich aufzunehmen, gespannt vor allem in Anbetracht der Hektik, die dem Ganzen vorausgegangen war; sie selbst hatte Edith, nur Minuten bevor sie in die Kutsche gestiegen und zum Atelier des Fotografen gefahren waren, mit der großen Küchenschere ihrer Mutter den Pony geschnitten. Ediths Kleid war immerhin bereits am Vortag sorgfältig gebügelt worden, und so konnte Helena erleichtert feststellen, dass ihr der karierte Schottenstoff in weichen Falten von den Schultern fiel und die Fasern des Wollflanells im Blitzlicht weich schimmerten. Edith war gerade vom Spielen im Garten hereingekommen, als sie umgezogen und für die Sitzung vorbereitet werden sollte, und wahrscheinlich hätte Helena sich mehr Mühe geben und dem Mädchen die Hände gründlicher waschen sollen, aber egal, dachte sie und rückte ein Stückchen zur Seite, wen kümmerten schon solche Kleinigkeiten, wenn er ein Gesicht wie Ediths betrachten durfte, mit diesem engelhaft sanften Ausdruck und dem verträumten Blick, kindlich, aber ernst, als wüsste sie etwas, das normalen Leuten selten bewusst ist. Wehe dem, der etwas anderes denkt, dachte Helena, ihre Pupi, ihre Edith Irene, war zweifellos eine seltene Blüte in Gottes Flora von reizenden Kindern, vor allem deshalb, weil es ihre Tochter war. Doch obwohl Edith ihre Mutter mühelos um den Finger wickelte, war sie alles andere als zart und empfindlich, sondern eher energisch, beinahe störrisch und widerspenstig. Das bewies etwa die ausgestopfte Kohlmeise in ihrer Hand, eine Requisite, die dem Bild dem Fotografen zufolge ein gewisses Etwas hinzufügte. Helena fand den Vogel zwar übertrieben, doch als sie versucht hatte, ihn Edith wegzunehmen, klammerte ihre Tochter sich nur umso energischer daran fest und weigerte sich, ihn wieder herzugeben. Helena gab nach, ließ ihr ihren Willen. War es so, dass Edith sich mit einer Kohlmeise ablichten lassen wollte, dann musste es wohl so sein. Und so wurde das Foto gemacht und die Tochter auf diese etwas eigenartige Weise verewigt.
Helena hielt das Foto in beiden Händen und fuhr nachdenklich mit den Daumen über die Kanten, dann schlug sie es behutsam wieder ein und legte es in den Umschlag zurück, fest entschlossen, es vergrößern und rahmen zu lassen.
Ein Windstoß fuhr durchs Haus, als Helena ein paar Stunden später auf die Glasveranda trat, um die Tageszeitungen zu lesen. Die Fenster, die einen Spaltbreit offen gestanden hatten, zerrten krachend und polternd an den Haken, dazu das Klappern ihrer Schritte und das Aufschlagen ihrer Fersen auf dem Holzboden. Sekunden später war aus der Küche metallisches Lärmen zu hören, wahrscheinlich war Kirsti bereits mit den Essensvorbereitungen beschäftigt, und als Helena hinging, um die Haushaltshilfe zu begrüßen, gerade die Hand auf die Klinke legte, um die Tür zu öffnen, begann es von der Kirche neben ihrem Grundstück zu läuten. Nach fünf Jahren hatte sie sich eigentlich daran gewöhnt, dass die Glocken mehrmals täglich die Geräusche im Haus übertönten, doch plötzlich schien es ihr, als ob die Klänge vom Turm unter der Zwiebelkuppel den Lärm dissonanter überdeckten als sonst. Sie hielt inne, stand wie angewurzelt da und starrte ins Zimmer, fing sich dann aber schnell wieder und griff sich eine Rockfalte, drehte sich um und kehrte in die Bibliothek zurück, zum Sekretär, auf dessen geöffneter Tischklappe sie den Umschlag abgelegt hatte. Rasch schlug sie das Seidenpapier zur Seite und hob die steife Pappe hoch, und nachdem sie ihr Lorgnon gefunden und sich auf einen Stuhl gesetzt hatte, betrachtete sie noch einmal das Foto ihrer Tochter. Dieser Vogel - sie mochte ihn nicht; wie hatte sie Edith nur erlauben können, diesen Kadaver in die Hand zu nehmen, eine tote Kohlmeise, die Flügel parodistisch zum Flug ausgebreitet, die Augen lebendig auf ein Ziel gerichtet, die Füße, die schmale Brust und der gespannte Körper, alles an diesem Vogel war bereit, frei aufzufliegen, stattdessen war er im Netz eines Taxodermisten gelandet, der ihn in böser Ironie ausgerechnet in dieser lebendigen Pose verewigt hatte, sozusagen startbereit für die Reise in den Tod. Helena schauderte, und sie schüttelte sich, als spürte sie, wie die kalten Schwingen des Vogels sie aus dem Jenseits streiften. Wie immer, wenn sie sich aufregte, merkte sie, dass ihre Brust sich verengte, und mit raschem Atmen und schwerem Herzklopfen sah sie sich selbst vor vielen Jahren vor sich, als sie den kleinen Jungen in seinen einfachen Sarg gelegt hatte, einen Sarg von der allerkleinsten Größe, so klein, dass eine Mutter ihn allein zu Grabe tragen, und so leicht, dass sie ihn selbst in die Erde hinunterlassen konnte.
Mit zweiundzwanzig Jahren und unverheiratet war sie schwanger geworden, und als die Geburt des Kindes nahte, wurde sie per Mietdroschke in den Kreißsaal des Krankenhauses gefahren, beides bar bezahlt von ihrem Vater, dem Fabrikbesitzer Holmroos - um anschließend, tags darauf, in ihr Elternhaus zurückzukehren, ins Wochenbett in ihrem ehemaligen Kinderzimmer. Ohne Aussicht auf eine Ehe war sie als mit einem Schandmal versehene, gefallene Frau zu betrachten, und wie sie so als einziges Kind ihrer Eltern mit dem Neugeborenen im Arm aus der Kutsche stieg, wie sie auf die zweiflüglige Tür zuging, wo Mutter und Vater auf sie warteten, schämte sie sich, die Decke beiseitezuschieben und ihnen den Jungen zu zeigen, als hätte sich das lose Leben, das sie geführt hatte, in dessen Zügen niedergeschlagen.
Das Kind war schwächlich und mager und gab, wenn es weinte, nur ein dünnes Heulen von sich, das in lautloses Schluchzen überging, und wenn Helena ihn zum Stillen anlegte, ließ er die Brustwarze gleich wieder los und ruckte verzweifelt mit dem Kopf. Sie hielt ihn fest, drückte ihn an sich und legte zwei Finger um seinen mageren Kiefer, und möglicherweise fühlte sie ihre Brust schwellen und die Milch fließen, doch das Kind vermochte kaum zu schlucken, bevor es...
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