Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
In diesem Sommer des Jahres 1884 flirrt die Hitze über dem Horizont, der sich glasig mit dem Schwarzen Meer vereint. Das mächtige Dampfschiff der Russischen Handelsgesellschaft im Hafen von Odessa ist zum Ablegen bereit. Olga kann von ihrem Fenster aus die Kommandos der Offiziere hören. Matrosen spurten übers Deck. Der Ozean, fast unbewegt, fängt die Sonnenstrahlen und wirft sie als Glitzern zurück. Die schweren Kessel im Bauch des Überseegiganten sind angefeuert. Das kann sie an der dunklen Fahne erkennen, die sich aus dem hoch aufgereckten Schornstein in den blauen Himmel windet und dann auflöst. Olga schaut dem mäandernden Rauch nach, der sich in der Weite verliert, und wird von Sehnsucht überflutet. Bald. Bald. Nur noch eine halbe Stunde, und sie ist frei. Doch ehe sie frei sein kann, muss sie hier heraus, fort aus diesem großen Haus hoch über dem Hafen, einen Weg finden, ungesehen zu verschwinden.
Olga weiß, dass es keine Rückkehr mehr gibt, wenn sie mit ihm geht. Sie wird den Gutshof ihrer Kindheit etwas außerhalb von Moskau und ihren Lieblingsort, die Datscha der Familie nahe Sankt Petersburg, nicht wiedersehen. Das komfortable zweistöckige Holzhaus mit den großzügigen Empfangs- und Wohnräumen, vor allem aber die Bibliothek fehlen ihr schon jetzt. Dem Sommerhaus in Odessa, in dem die Familie gerade lebt, hat sie - außer den Blick auf den Hafen - nie viel abgewinnen können. Nur in der Datscha in Sankt Petersburg gab es die wunderbare Welt der Bücher. Schon der Anblick der Buchrücken, einer neben dem anderen, in den raumhohen Regalen, versprach Wunder und neue Welten. Die Grenze zwischen Sein und Schein, zwischen Wirklichkeit und Traum war in dieser Bibliothek aufgehoben, hatten ihr Freunde wie Puschkin und Tolstoi beschert. Aber auch ausländische Romane standen dort, alphabetisch sortiert.
Die Eltern hatten vergeblich versucht, sie vom Lesen abzuhalten, denn einige diese Bücher waren von der Zensur verboten. Des Vaters konservative Beamtenkollegen wären schockiert gewesen, hätten sie gewusst, welche Literatur dort stand. Am liebsten war ihr Harriet Beecher Stowes Onkel Toms Hütte, die Geschichte eines amerikanischen Sklaven.
Sklaven. Damals war sie zwar noch sehr klein gewesen, aber sie erinnerte sich noch genau, wie der Vater getobt hatte, als der Zar die Leibeigenschaft aufhob. Die meisten Dienstboten hatten jedoch auf dem Landgut bei Moskau ausgeharrt. Es war ihr Zuhause. Sie hatten kein anderes. Zu den Menschen, die für ihn arbeiteten, den Bauern, die zu seinem Besitz gehörten, war Graf Vassilij, der janusköpfige, nachsichtiger und freundlicher als zu seinen Kindern. Gute Landarbeiter waren selten, Land vermehrte sich nicht, Kinder konnte man nachmachen. Viele starben sowieso in den ersten Jahren nach der Geburt.
Wie oft war Olga vor ihrem Vater in den Garten der Datscha mit seinen Apfel-, Pflaumen- und Kirschbäumen geflüchtet. Das war ihr zweites Reich. Am schönsten fand sie es dort, wenn der Flieder blühte. In dieser Zeit hüllte ein verheißungsvoller Duft die Gegend ein, der ihr geheime Botschaften brachte. Du kannst alles, die Welt ist bereit für dich, versprach dieser Duft.
Dann der Fluss, die Newa. An ihrem Ufer fühlte sie sich niemals einsam. »Du bist wie ein schrecklicher Kobold. Benimm dich wie ein Mädchen, nur Jungen steigen auf Bäume«, schalt die Mutter, wenn sie wieder einmal mit schmutzigen oder zerrissenen Röcken von ihren ausgedehnten Streifzügen zurückkam, während Alina, die kleine Schwester, brav mit dem Kindermädchen Krocket oder auf dem großen, breiten Balkon mit ihren Puppen spielte. »Wenn ich groß bin, dann werde ich sowieso ein Junge«, hatte sie damals geantwortet und nicht verstanden, warum die Mutter lachte. Alina. Sie war viel zu früh gestorben, nicht lange nach diesem Ereignis ertrunken beim Spielen an der Newa. Sie war damals nicht dabei gewesen, hatte sich jedoch jahrelang Vorwürfe gemacht, weil sie nicht auf die Schwester aufgepasst, sondern lieber mit den Jungs aus der Nachbarschaft gespielt hatte. Die Mutter hatte den Tod der Schwester, ihres Nesthäkchens, nie verwunden. Damals war der Tod in ihr Leben getreten.
Dem Vater waren seine Töchter egal, er nahm sie meistens nicht einmal wahr. Es gab nur eines, das Olga mit ihm verband: die Liebe zum Schachspiel. Sie hatte es sich selbst beigebracht. Nachdem er bemerkt hatte, wie begabt sie darin war, ließ er sich manchmal herab, sich mit ihr ans Schachbrett zu setzen. »Du hast den Verstand eines Mannes«, sagte er hin und wieder. Olga wusste, das war kein Lob. Da saßen sie dann, der große, massige Mann und seine untersetzte, etwas pummelige Tochter, versunken ins Spiel, nach außen wirkten sie wie eine Einheit.
Nun, sie würde die Datscha nie wiedersehen, auch ihn nicht. Nicht die Mutter, nicht den Bruder, niemals mehr die Weißen Nächte von Sankt Petersburg erleben, in denen die Energie vibrierte und den Geist betrunken machte.
Der Vater. Er würde sie totprügeln, wenn zu früh herauskäme, was sie vorhatte. Doch wie könnte sie nicht mit Sascha gehen! Sie sieht seine lachenden Augen vor sich, die Lebensfreude, die aus ihm sprudelt und sie mitreißt in eine Welt voller Wunder und Abenteuer. Er will sie mit sich nehmen, hinaus aus dieser drückenden Enge von Vorschriften und Zwängen. Wenn sie bei ihm ist, singt ihr Körper, tanzt ihr Geist. Dann kann sie atmen, als wäre sie aus einem Gefängnis befreit. Es ist ihr gleich, dass er in einer Schlosser- und Schmiedewerkstatt arbeitet, dass sein Vater Schauermann im Hafen und er einige Jahre jünger ist. Saschas Denken reicht weiter als Russlands Grenzen, um gesellschaftliche Klassen und Konventionen schert er sich nicht. Er sieht nur Menschen. Und das, obwohl oder vielleicht auch weil die Juden bei den Pogromen so schrecklich gelitten hatten. Er spricht nicht darüber, hat ihr nur erzählt, die Gräuel hätten seine Familie aus der Heimat nach Odessa vertrieben.
Dennoch kommt es ihr vor, als könne er die Welt erobern, sie besser machen. Und sie mit ihm. Er hat ihr das Leben der Armen beschrieben, berichtet, wie die Not krank macht. Hat ihr geschildert, wie die Arbeiter in den Fabriken buckeln, vom Dreck, vom Elend, in dem sie hausen, erzählt. Er wird einmal herrschen, das weiß sie gewiss. Er wird den Marxismus in die Welt bringen, die Arbeiter aus der Knechtschaft befreien; er und seine Freunde von Narodnaja Volja. Dann wird sie an seiner Seite sein. Sie zweifelt nicht eine Sekunde daran, dass er sie mitnehmen wird, wenn er demnächst zum Studium in die Schweiz geht. Vielleicht kann sie dort ja auch studieren. Weit weg vom Vater, der ein Studium für Mädchen kategorisch ablehnt. Olga soll einen reichen Ehemann finden. Sie kann bisher nur einen Bewerber um ihre Hand vorweisen. Einen alten, stinkenden Bauern, der sich als Gutsherr bezeichnet und irgendwo auf dem Land lebt, einen Witwer mit sechs Kindern, der eine Haushälterin und Kinderfrau sucht. Ihr Vater hat sie angebrüllt, als sie die Bewerbung ablehnte. Die Aufgabe von Frauen sei es, einem Mann zu dienen.
Sie wird nicht dienen, niemals. Sie hat ihm diese Worte ins Gesicht geschleudert. Wird sich auch nicht verkaufen lassen für ein Stück Land, ein Dorf und zwei Handvoll Bauern.
Da hatte Graf Vassilij zur Reitgerte gegriffen. Sie hat sich woanders hingeträumt, während er auf sie einprügelte. Sie wird studieren! Ja, ebenfalls in der Schweiz.
Eine Zukunft ohne Sascha? Unvorstellbar. Sie weiß nicht, woher er das Geld für sein Jurastudium an der Universität Petersburg nimmt, denn seine Familie ist nicht reich. Sie hat ihn auch nie danach gefragt, sie weiß nur eines: Es wird alles gut, weil alles gut gehen muss. Das Schicksal hat keine andere Wahl. Sie selbst hat ja das Erbe ihrer Großmutter, das reicht notfalls für sie beide. Sascha, nur Sascha wird ihr Ehemann werden.
Drei Tage danach lag sie zerschunden und übersät von Striemen im Bett. Damals hatte die Mutter ihr zum ersten Mal Laudanum gegeben, und, als sie trotzdem vor Schmerzen wimmerte, schließlich den Arzt mit seiner Opiumspritze geholt. Die sorgte dafür, dass sie in einem angenehmen Zustand vor sich hin dämmerte, auf einer Welle weichen Wohlgefühls schwamm. Keine Schmerzen, keine inneren Kämpfe, nichts dergleichen. Als die Welle abebbte und sie wieder an den Strand der Wirklichkeit gespült hatte, kam die Sehnsucht nach Freiheit wieder und rieb ihr die Seele wund. Der Arzt weigerte sich aber, ihr eine weitere Spritze zu geben. Erst Jahre später hat sie begriffen, was das Medikament anrichten kann, das die Mutter so oft nahm.
Sascha und sie haben verabredet, sich am Hafen zu treffen, an derselben Stelle, an der sie ihn zum ersten Mal sah. Alexander Gregorewitsch Dolgow. Sie lächelt. Schon sein Name klingt wie ein Lied, das von Freiheit erzählt. Viele Frauen kämpfen heutzutage Seite an Seite mit den Männern für die Revolution. Das will sie auch. Lernen und kämpfen, so wie Wera Sassulitsch, die versucht hatte, General Fjodor Trepow, den Gouverneur von Sankt Petersburg, zu erschießen, nachdem dieser die Auspeitschung eines radikalen Studenten angeordnet hatte. Dessen einziges Vergehen war die Weigerung gewesen, ihn angemessen zu grüßen. Wera war freigesprochen worden. Ja, so will sie werden. Wie Wera, eine Kämpferin gegen die Ungerechtigkeit. Zusammen mit Sascha. Er soll stolz auf sie sein.
Leise öffnet Olga ihre Zimmertür. Es ist still in dem großen Haus über dem Hafen von Odessa. Alle haben sich zur Mittagsruhe zurückgezogen. Niemand...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.