Schweitzer Fachinformationen
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Schlecht gelaunt legte Paula Hagedorn ihren Löffel auf den Rand des tiefen Tellers. Die Kartoffelsuppe in der Cafeteria des Reichstags hatte auch schon einmal besser geschmeckt! Lag es an der eine Weile zurückliegenden Auflösung des Parlaments, dass hier nicht mehr anständig gekocht wurde? Selbst in den entbehrungsreichen Jahren nach dem Großen Krieg und während der Inflation war das Essen besser gewesen. Doch nun machten sich die Wunden der drei Jahre zurückliegenden und nach wie vor anhaltenden Weltwirtschaftskrise überall bemerkbar. Offenbar auch in der Kantine des Reichstags.
Ein bisschen erinnerte sie das Essen an die wässrige Brühe mit Sago, die es in ihrer Kindheit so oft gegeben hatte, weil das Geld im Kaiserreich für Arbeiter und Handwerker noch viel knapper gewesen war. Paula war als unterprivilegierte Tochter eines Tischlers aufgewachsen, die nur dank ihres scharfen Verstandes, ihrer Liebe zu den Büchern, die sie in der Bibliothek ausleihen durfte, und eines damals für Mädchen ungewöhnlichen Sinns für Mathematik weitergekommen war. Und - wie es leider so meist der Fall war - dank eines Mannes.
Als Mädchen hatte sie sich in einen der jüngeren Lehrer an der Volksschule in der Alsenstraße verliebt, der Visionen von einer gerechteren Welt vor seinen Schülerinnen ausbreitete. Erich Hagedorn war Marxist und ein glühender Verehrer von August Bebel. Wenn er über den Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands sprach, hatte nicht nur die vierzehnjährige Paula an seinen Lippen gehangen. Als er sich um einen Sitz in der Bürgerschaft beworben hatte, war nicht nur sie auf ihr Fahrrad gesprungen und hatte Wahlwerbung mit seinem Namen verteilt. Doch im Gegensatz zu ihren Mitschülerinnen, deren Schwärmereien sich nach ihrem Abschluss verflüchtigten, vergaß Paula den jungen Lehrer auch während ihres anschließenden Dienstjahres auf einem Gutshof im Alten Land nicht. Hier machte sie sich, anders als geplant, im Büro des Verwalters besser als in der Küche, woraufhin sie eine Empfehlung für die Handelsschule erhielt. Nach ihrer Ausbildung und einer ersten Anstellung als Stenotypistin bei einem Kaffeehändler heiratete sie Erich Hagedorn. Kurz darauf trat sie, seiner Ermutigung folgend, in die SPD ein.
Und wohin hatte sie das geführt?, fragte sich Paula. Zu einem Teller ungenießbarer Suppe. Man darf kein Essen stehen lassen, sagte sie sich sofort still und nahm ihren Löffel wieder auf. Die Suppe schmeckte natürlich nicht besser als zuvor, daran ließ sich nichts ändern, aber sie war heiß und deshalb eine Wohltat an diesem Wintertag. Außerdem brauchte sie etwas im Magen, weil in etwa zehn Minuten die Fraktionssitzung fortgesetzt werden sollte, die schon den ganzen Vormittag über stattgefunden hatte. Das Ende war nicht absehbar, und es stand zu befürchten, dass sie erst am späten Abend zurück in ihre kleine Wohnung in Köpenick kommen würde. Müde und durchgefroren und ganz sicher nicht bereit, sich an den Herd zu stellen. Das war noch nie ihr Ding gewesen.
Selbst als sie kurz nach ihrem Parteieintritt ungewollt schwanger geworden war und dann im Laufe der Jahre zwei Söhne und eine Tochter geboren hatte, war es die schlimmste Vorstellung für sie gewesen, nichts weiter als eine Hausfrau zu sein. Also engagierte sie sich für die Rechte von Frauen und für die Gewerkschaften und erreichte dank ihres Redetalents einiges. Über kurz oder lang entdeckte auch Erich ihre Begabung für Rhetorik: Anfangs bat er sie nur, die Reden, die er in der Bürgerschaft hielt, zu korrigieren, später ließ er sich seine Wahlkampfauftritte von ihr organisieren und schreiben.
Paula schauderte es jetzt noch bei dem Gedanken daran, ihre Fähigkeit so lange für jemand anderen aufgebraucht zu haben. Sie war keine Strippenzieherin im Hintergrund und hatte schon bald beschlossen, ihre Begabung für die eigene Karriere zu nutzen, dafür brauchte sie keinen Mann. Und als sie Reichstagsabgeordnete wurde, hatte sie sich von Erich getrennt. Ihre Kinder waren zu dem Zeitpunkt schon fast erwachsen und konnten auf eigenen Beinen stehen, blieben anfangs aber beim Vater. Manchmal, in ihren - wie sie es nannte - schwachen Momenten, fragte sich Paula, ob sie nicht ihnen zuliebe hätte bleiben sollen. Doch dann sagte sie sich, dass sie nun einmal nicht zur Mutter geschaffen war. Immerhin hatte sie von Berlin aus stets Kontakt zu Erich in Hamburg gehalten, selbst nachdem ihre Söhne und die Tochter eigene Wege gingen. Zwischen ihr und ihrem Ehemann hatte sich eine Freundschaft entwickelt, und weil es ohnehin fast zu spät war, an eine Scheidung zu denken, blieben sie verheiratet, obwohl Erich längst mit einer anderen Gefährtin zusammenlebte. Die vermutlich anständige Suppe kochen konnte .
«Verzeih meine Verspätung .»
Paula wurde abrupt aus ihren Gedanken gerissen. Ihr kam es vor, als wehte ein kalter Windzug über ihren Tisch. Sogar ein paar Schneeflocken hatte Marlene Emden mitgebracht, die noch an ihrem Mantel und ihrem Hut hafteten. Paula nickte und wollte ihre Genossin gerade darauf hinweisen, dass Otto Wels, der Fraktionsvorsitzende, der richtige Empfänger für eine Entschuldigung war, doch dafür musste sie erst einmal den letzten Schluck Brühe hinunterschlucken.
Ihre Freundin achtete nicht auf Paulas Unpässlichkeit und plapperte unverdrossen weiter: «Ich musste noch Akteneinsicht im Kriminalgericht nehmen. Das hat so lange gedauert.» Dabei zog Marlene ihren Mantel aus und warf ihn über die Lehne des freien Stuhls. «Ich vertrete diesen armen Jungen, der wegen Diebstahls angeklagt ist», fügte sie hinzu, während sie ihren Hut abnahm und sich setzte.
Paula schluckte. «Welchen? Gibt es nicht nur noch arme Jungen, die wegen irgendetwas angeklagt werden, damit die Rechten wieder einmal gegen die verrohten Jugendlichen schwadronieren können?»
«Der Sohn der erwerbslosen Arbeiterin, der ein Lebensmittelgeschäft überfallen und geplündert hat. Du erinnerst dich bestimmt, die Sache hat hohe Wellen geschlagen. Leider wurde er von dem Besitzer überrascht und hat ihn dann in einem Handgemenge verletzt. Aber mein Mandant hat eigentlich nur aus Hunger gehandelt, verstehst du?»
«Ich verstehe das», seufzte Paula. «Hoffentlich tut es das Kriminalgericht auch.»
«Ein junger Mensch wie er hat doch heutzutage keine Perspektive. Er ist Mitglied im Kommunistischen Jugendverband .»
«Ich wünschte, die Kommunisten würden sich ihre eigenen Anwälte nehmen. Du handelst dir noch einmal Ärger ein.» Sie hatte Marlene davor gewarnt, dass sie im Fokus der Rechten stand, solange sie sich so stark für Mandanten aus der kommunistischen Bewegung einsetzte. Doch Marlene hatte sich bereits ihr ganzes erwachsenes Leben lang für Frauenrechte und vor allem für Arbeiterinnen eingesetzt, die auch schon mal dem radikalen Bolschewismus zugetan waren. Dabei spielte es keine Rolle, dass sie selbst eher liberal eingestellt war. Um die Welt ein bisschen besser zu machen, hatte sie Rechtswissenschaften studiert und war in die Deutsche Demokratische Partei eingetreten, als den weiblichen Bürgern des Deutschen Reiches gleich nach dem Großen Krieg das aktive und passive Wahlrecht zugebilligt worden war. Paula hatte sie als Abgeordnete der Nationalversammlung kennengelernt, ihrer beider politischer Aufstieg hatte damals begonnen, Marlenes in der DDP, Paulas in der SPD. Nach dem Rechtsruck der Liberalen vor drei Jahren war Marlene Sozialdemokratin geworden, was sie nach Paulas Meinung im Herzen schon immer gewesen war.
«Ich vertrete einen Jugendlichen, der aus Not gehandelt hat», verteidigte sich Marlene. «Das hat nichts mit seiner politischen Einstellung zu tun.»
«Würdest du das auch sagen, wenn er in der Hitlerjugend wäre?», wollte Paula prompt wissen.
«Wohl nicht. Nein.»
Die Kellnerin trat an den Tisch und erkundigte sich nach Marlenes Wünschen. Sie bestellte nur einen Tee.
Paula war erleichtert, weil sie der Freundin nicht von der Kartoffelsuppe abraten musste. «Ich frage mich allerdings», griff sie das Gespräch wieder auf, «ob wir uns nicht früher um genau diese Klientel hätten kümmern müssen. Wir hatten seit Jahren immer nur unsere Stammwähler vor Augen und haben in deren Interesse gehandelt. Sie danken es uns nun jedoch, indem sie zur KPD abwandern - oder Schlimmeres.»
«Sicher macht es keinen Sinn, am rechten Rand zu fischen. Immerhin hat die NSDAP bei der letzten Reichstagswahl im November Stimmenverluste erlitten. Deren Zenit ist überschritten, und unsere Politik wird bald wieder das Ansehen genießen, das sie verdient.»
«Dein Wort in Gottes Ohr. Ich bin mir noch nicht im Klaren, ob die abwartende Haltung unserer Genossen richtig ist. Das haben wir auch vorhin in der Fraktionssitzung diskutiert. Anscheinend gibt es bisher nur den Willen zu außerparlamentarischem Widerstand.» Aus den Augenwinkeln nahm Paula eine gewisse plötzliche Unruhe in der Cafeteria wahr. Der holzgetäfelte Saal mit der beeindruckenden Kassettendecke war nicht gut besucht, deshalb fiel das hektische Herumlaufen der Gäste stärker auf, das Getuschel unter den anderen Politikern wirkte lauter als bei einem vollen Haus. Offensichtlich kursierte gerade eine Neuigkeit. «Entschuldige mich kurz», bat sie und erhob sich von ihrem Stuhl.
Paula spürte Marlenes erstaunten Blick in ihrem Rücken, als sie zu einem Tisch ging, an dem...
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