London, März 1560
»Das Eisen ist heiß«, sagte der Constable, und das Funkeln in den Augen verriet seine freudige Erwartung.
»Hier ist ein Mann, der seine wahre Bestimmung gefunden hat«, murmelte Isaac.
»Halt lieber die Klappe«, warnte die Marktfrau, die in der dicht gedrängten Menge neben ihm stand.
Der Constable legte die Hand um den hölzernen Griff des langen Brandeisens, das in einem Kohlebecken zu seiner Linken lag, hob es hoch und zeigte den Zuschauern das rot glühende »M«. Ein beifälliges Raunen ging durch die Menge.
Die junge Frau am Pranger fing an zu schluchzen. Sie stand in unwürdiger Haltung leicht vorgebeugt, Hals und Handgelenke steckten in den dafür vorgesehenen Löchern. Ihr ohnehin schmuddeliges Kleid war mit Flecken übersät, wo die Dreckfladen und sonstigen Wurfgeschosse der Umstehenden sie getroffen hatten, die vornehmlich auf ihr schmales Hinterteil gezielt zu haben schienen.
Der Constable trat vor die arme Sünderin und strich ihr mit der linken Hand das Haar zurück; es wirkte geradezu zärtlich. Sie hatte die Augen zugekniffen, und so sah sie nicht, wie er das Eisen hob. Ohne jedes Zögern und zielsicher drückte er es ihr mitten auf die Stirn. Das glühende Eisen zischte auf der Haut, ein dunkler Rauchkringel stieg auf, und die Verurteilte stieß einen langgezogenen Schrei aus.
Die Schaulustigen applaudierten und johlten - weil der Gerechtigkeit Genüge getan war oder weil sie sich gut unterhalten fühlten, Isaac wusste es nicht.
»Das war's. Deine zwei Stunden sind um, Mädchen«, sagte der Constable und zwickte sie augenzwinkernd in die linke Brust, ehe er den Bolzen zurückzog und die schwere hölzerne Zwinge aufklappte. »Und jetzt hör schon auf zu flennen. Wir hätten dir auch ein Ohr abschneiden können. Verdient hättest du's allemal.«
Die Leute von Cheapside begannen, sich zu zerstreuen und kehrten zu ihren Marktständen, Läden und Werkstätten zurück.
Nur die junge Frau am Pranger rührte sich nicht.
»Was ist?«, schnauzte der Constable. »Willst du noch ein Stündchen länger bleiben?«
Sie richtete sich langsam auf, presste den Handrücken vor den Mund, um ihr Schluchzen zu unterdrücken, und torkelte nach links, gefährlich nah an den Rand der erhöhten Plattform.
Isaac stieg die fünf Stufen hinauf und nahm ihren Ellbogen. »Komm, Sarah.«
Ruckartig drehte sie den Kopf weg, damit er ihr Brandmal nicht sah. »Mir ist so schlecht .«, flüsterte sie.
»Das wird wieder«, entgegnete er und gab sich Mühe, unbekümmert zu klingen. »Jetzt lass uns erst einmal von hier verschwinden.«
»Ihr solltet Euch nicht mit so einer abgeben«, belehrte der Constable ihn streng. »Was hat ein feiner junger Gentleman wie Ihr mit einem durchtriebenen Luder wie der da zu schaffen?«
»Sie ist meine Braut«, gab Isaac zurück. »Wir wurden einander versprochen, ehe ihr Vater Opfer einer papistischen Verschwörung wurde und verarmte, sodass sie sich als Küchenmagd verdingen musste.«
Es war gelogen, aber der Constable starrte ihn verdattert an und kam gar nicht auf die Idee, diese wilde Geschichte anzuzweifeln. Isaac war ein hervorragender Lügner. Es war nichts, worauf er sonderlich stolz war, aber in einer Stadt wie dieser hatte eine solche Gabe durchaus ihre Vorzüge.
Mit einem Kopfschütteln wandte der Ordnungshüter sich ab, winkte seine beiden Büttel herbei und bedeutete ihnen, Kohlebecken und Brandeisen wegzutragen.
Sarah zitterte am ganzen Leib. Das war der Schock, nahm Isaac an. Oder womöglich auch die Kälte. Die Märzsonne, die fahl durch dünne Schleierwolken schien, hatte noch nicht viel Kraft. Falls Sarah vor ihrer Bestrafung Schuhe und Mantel besessen hatte, waren sie im Gefängnis abhandengekommen. Das dünne Kleid war kein ausreichender Schutz gegen den ruppigen Wind, der zwischen den dicht gedrängten Häusern auf der West Cheap entlangwehte.
Aber Isaac hatte seinen eigenen Umhang zu Hause vergessen wie so oft und konnte ihr deshalb nur seinen Arm anbieten. Das Mädchen stützte sich darauf und ließ sich von der Plattform helfen, das Gesicht immer noch abgewandt.
Sie gingen ein Stück die belebte Straße entlang, wo die Marktweiber, Krämersfrauen und Dienstmägde, die ihre Einkäufe erledigten, dem seltsamen Paar mit finsteren Blicken folgten oder sogar die Faust schüttelten. Dann bogen Isaac und Sarah in die Bread Street ein. Hier wurden die Häuser allmählich größer und vornehmer, und es herrschte weniger Betrieb.
An der Kirchhofmauer von All Hallows hielt Sarah an, ließ Isaac los und lehnte sich an das schmiedeeiserne Tor. »Wo willst du mich hinbringen?«, fragte sie. Ihre Stimme klang dünn.
»Keine Ahnung«, gestand er achselzuckend. »Erst mal nur weg von dort.« Er schaute sie an. Jetzt hielt sie den Kopf gesenkt, aber er konnte das rot glänzende Zeichen auf ihrer Stirn trotzdem sehen. Jeder konnte es sehen - das war ja der Sinn der Sache. »Wo . kannst du denn hin?«
»Nirgends.«
Er lehnte sich neben ihr an die hüfthohe Mauer. »Was hast du angestellt?«
Sie brauchte ein Weilchen, ehe sie es fertigbrachte, ihm zu antworten. »Ich . ich hab die Audleys vergiftet. Meine Herrschaft.«
Er zog scharf die Luft durch die Zähne. »Süßer Jesus . Dafür hätten sie dich auch in siedendem Öl kochen können.«
»Die Audleys sind aber doch nicht gestorben.«
»Trotzdem.«
»Ja, ich weiß.« Sie schwieg einen Moment. Als sie wieder sprach, klang ihre Stimme bitter: »Ich wollte sie gar nicht umbringen. Sie sollten sich nur mal ein paar Tage so richtig elend fühlen. So wie ich und alle anderen, die für sie schuften müssen.«
»Und? Hat es geklappt?« Isaac konnte ein Grinsen nicht ganz unterdrücken.
Sarah nickte. »Aber das war nicht wert, mein Leben zu ruinieren. Ich hätte nie gedacht, dass sie mir auf die Schliche kommen. Vermutlich hat einer der anderen Dienstboten mich beobachtet und dann angeschwärzt. Der Kammerdiener, schätze ich. Und jetzt . jetzt weiß ich überhaupt nicht, was aus mir werden soll, Isaac.«
Mit einem Mal überwand sie ihre Scham und hob den Kopf. Das Brandmal auf der Stirn sprang ihn regelrecht an. Es würde natürlich verheilen und verblassen. Aber keine Haube würde es jemals vollständig verdecken, dafür war es zu groß. Von heute an würde jeder, der Sarah sah, auf den ersten Blick wissen, dass sie irgendetwas Abscheuliches ausgefressen hatte, denn das »M« stand für »Missetäter«. Sie würde nie wieder anständige Arbeit finden, egal, wohin sie ging.
Isaac griff nach seiner Börse. Sie war beklagenswert leicht, doch als er den Inhalt in die Linke schüttete, sah er, dass es immerhin fast zwei Schilling waren, die er bei sich trug. Er nahm Sarahs schwielige Hand. Ihre Nägel waren ganz abgekaut. Das hatte sie als kleines Mädchen schon gemacht, als sie in die Krippe gekommen war, erinnerte er sich. Ein Waisenkind von Königin Marys Gnaden .
Isaac ließ die Pennys in ihre Hand klimpern. »Hier.«
»Das kann ich nicht annehmen«, protestierte sie halbherzig, während ihre Faust sich schon um die Münzen schloss.
Er winkte ab. »Schon gut. Morgen ist Sonnabend, da verdiene ich immer gut.«
»Womit?«, fragte sie.
»Beim Pferderennen in Mile End.«
»Du wettest?« Ihr missfälliger Tonfall war schon irgendwie drollig, so in Kombination mit dem Brandmal auf der Stirn, aber er nahm Abstand davon, sie darauf hinzuweisen.
Er schüttelte den Kopf. »Ich reite. Die Londoner Gentlemen lassen es sich etwas kosten, wenn ihre Gäule ein Rennen gewinnen.« Er verschwieg, dass er seinen Lohn gelegentlich gleich wieder verlor - beim Hahnenkampf oder bei der Bärenhatz, auf die er leidenschaftlich wettete.
Sie waren an der Einmündung zur Thames Street angelangt, wo wie üblich ein hektisches Durcheinander herrschte: Fuhrwerke, Reiter, Kutschen und Fußgänger drängten sich auf der Straße in beide Richtungen, und da nie irgendwer Platz machte, waren alle sich gegenseitig im Weg. Ein jeder war in Eile, doch viele fanden einen Moment Zeit, um die junge Küchenmagd mit dem frischen Brandmal auf der Stirn zu begaffen. Zwei Handwerksburschen in Lederschürzen spuckten auf die Straße, kaum dass sie sie passiert hatten.
Sarah war stehengeblieben und starrte furchtsam auf das Gewimmel, so als sei sie erst gestern vom Lande gekommen und nicht in Sichtweite von St. Paul aufgewachsen.
»Isaac, was . was soll ich nur tun?« Sie war bleich, ihr vormals hübsches Gesicht wirkte eigentümlich starr, und sie sah aus, als hätte sie die Zähne zusammengebissen. Sicher schmerzte die Brandwunde höllisch. Doch was ihr vor allem zu schaffen machte, war die Furcht. »Es wird bald dunkel. Ich . ich weiß nicht, wo ich hin soll.«
Isaac schämte sich ein wenig dafür, dass er ein Zuhause hatte, wohin er gehen konnte, ganz gleich, was er angestellt hatte. Das Willkommen dort war vielleicht nicht immer besonders herzlich, doch die Tür stand ihm stets offen. Und er wusste, was für ein Luxus das war. »Kennst du das Savoy?«, fragte er.
»Du meinst die Ruine draußen vor der Stadt? Wo die Beutelschneider und...