Erster Tag
1. Nacht / Morgengrauen
Wallrupp
Eine unheimliche Begegnung.
"Votum Aurelia!"
So hörte man mitten in der Nacht eine laute Stimme. Wieder und wieder hallte die Stimme durch das Dorf.
Es waren noch 5 Nächte bis zum Jahreswechsel im Jahr 1399.
So nach und nach gingen in den kleinen Hütten die Lichter an und die Hunde begannen zu bellen.
Es war regnerisch und ein leichter Wind ging um die Ecken. Eigentlich dürfte man außer dem Geräusch der Blätter im Wind nicht viel hören. Aber die Stimme war deutlich wahrnehmbar. Der nächtliche Frieden war gestört.
Und wieder hallte die Stimme durch das Dorf:
"Votum Aurelia"
Langsam regte sich etwas im Dorf und einige Menschen schauten aus dem Fenster, um zu sehen, was da wohl los ist. Andere öffneten die Haustür, trauten sich aber nicht im Nachtgewand auf die Straße. Der Boden war vom Regen durchnässt und aufgeweicht. Festes Schuhwerk war angebracht.
Die Stimme wurde lauter: "Votum Aurelia"
"Wo sind meine Streichhölzer?", raunzte der Waldbauer Gorrit
im Dunkeln in sich hinein. "Verdammt, wenn man mal wieder was braucht!", dachte er mürrisch.
Er tastete zu seinem Nachtlicht, einer Kerze in einem geschwungenen Kerzenhalter und tapste damit in Richtung Tür. In der Küche angekommen fand er im Küchenschrank ein neues Päckchen und zündete die Kerze an.
Draußen ging der Wind. Das Laub und das Geäst der Bäume wiegten sich darin. In der Nachbarschaft war schon das Haus hell erleuchtet. "Was ist da los?", dachte er sich und suchte seine Schuhe.
"Votum Aurelia"
"Was war das?" Er dachte er sei durch den Wind wach geworden. "Wie spät ist es?" Ein Blick auf das Stundenglas verriet ihm: viertel nach 3, also noch mitten in der Nacht.
Aber diese Stimme? Das konnte doch nicht sein. Wieso konnte er sie hören, er war doch alleine im Raum. Seltsam!
"Irris!" rief er seine Frau. "Steh auf und zieh dir was an. Ich muss raus!"
"Was?", klang eine müde Stimme aus der Schlafstube.
"Komm raus, da stimmt was nicht, da ruft jemand."
"Hast du das auch gehört?" fragte seine Frau, die noch schlaftrunken aus der Schlafstube wackelte. "Ich dachte, ich träume.?"
"Ja. - Irgendwas geht da vor", antwortete er als er den Vorhang zurückzog, und aus dem Fenster spähte.
Die Nachbarn da drüben machen auch irgendwas. Ich kanns nicht genau sehen. "Wo sind meine Schuhe?" Er griff zu seinem Mantel und zog ihn über sein Nachthemd.
"Zieh' dir endlich was über - ich muss da raus. Irgendwas passt da nicht."
"Votum Aurelia"
"Da! Hast du es gehört?", rief seine Frau.
"Ja, das geht schon die ganze Zeit. Ich dachte auch erst ich träume. Aber anscheinend hören die Nachbarn das auch. Das ganze Dorf scheint auf den Beinen zu sein."
"Ah, da sind sie ja." Er zog seine Schuhe an, schnappte sich seinen Hut und ging nach draußen. "Bin gleich wieder da!", warf er seiner Frau noch einen Blick zu und schloss die Tür hinter sich.
Draußen war es sehr ungemütlich. Der Wind peitschte ihm den nasskalten Regen ins Gesicht. Er zog sich den Hut tiefer und machte sich auf den Weg zum übernächsten Nachbarn, denn der war auch gerade aus seiner Hütte herausgekommen.
Die meisten Hütten hatten schon ihre Lichter an und einige Nachbarn liefen in der Dunkelheit umher und riefen sich gegenseitig etwas zu.
Der aufgeweichte Boden zog an seinen Stiefeln und es war wieder mal beschwerlich einen Schritt vor den anderen zu setzen. Der Schlamm setzte sich an seinen Sohlen fest und er hatte das Gefühl auf Eiern zu laufen.
"Ausgerechnet jetzt muss es so regnen", rief er verärgert seinem Nachbarn zu. "Was ist da los?", fragte er, als er näherkam. "Keine Ahnung!", rief er zurück. "Wir haben Stimmen gehört. Ich wollte eigentlich weiterschlafen, aber meine Frau. Du kennst sie ja. Wenn ich nicht mache, was sie sagt, dann hab' ich wieder nur Ärger."
"Votum Aurelia"
"Sei still, da ist es wieder!" horchte der Waldbauer auf und hielt sich den Zeigefinger vor den Mund. "Wo kam das her?"
"Ich hab's auch gehört." Und beide schauten sich fragend im fahlen Mondlicht in die Augen.
"Gorrit, kennst du jemand der so heißt?", fragte Wassta der
Nachbar.
"Nein, kenne ich nicht, aber das kriege ich schon noch heraus."
"Du bist unser Dorfältester. Du weißt bestimmt was zu tun ist", rief er hinter ihm her, als Gorrit zu den anderen rüber hinkte und folgte ihm.
So langsam füllte sich die Straße und die Menschen liefen zusammen und rätselten über die seltsame Stimme. Gorrit und Wassta gesellten sich dazu.
"Was ist das?", "Ich kann nicht mehr schlafen!"
"Wo?"
"Dort!" hörte man aus dem aufgeregten Stimmengewirr heraus.
"Ruhe!", rief der Waldbauer, doch das störte keinen. Es wurde weiter aufgeregt diskutiert. "Seid doch mal ruhig!", rief er nochmal, doch ohne Erfolg. Er versuchte es nochmal, aber er wurde ignoriert.
Er schaute sich um und ging zur nächsten Hütte und stellte sich auf die oberste Stufe der Treppe, damit er die Meute überblicken konnte. Gorrit stieß einen lauten Pfiff auf zwei Fingern aus und schrie so laut er konnte: "Seid doch mal still!", und prompt kehrte Ruhe ein.
"Es ist jetzt kurz vor vier, und ich würde gerne noch eine Stunde schlafen. Aber das geht ja jetzt wohl nicht mehr. Was ist da los? Woher kommt diese Stimme? Hat jemand eine Idee?"
Er schaute fragend in die Runde. Doch keiner Antwortete.
"Votum Aurelia", unterbrach die Stimme die Stille.
"Da!", schrie Wassta und zeigte mit ausgestrecktem Arm in Richtung der großen Eiche am Ende der Straße. Doch es war nichts mehr zu sehen.
"Ich hab's gesehen" rief er. "Die Eiche hat geleuchtet. Es war wie ein Schimmer drumherum."
Alle schauten zur Eiche, die in der Dunkelheit nur schemenhaft zu erkennen war. Nichts! - Nur der dunkle Umriss der Eiche war zu sehen. Ihre Äste bewegten sich im Wind. Das war alles.
"Das ist mir zu unheimlich", rief Wassta. "Ich geh' lieber wieder rein zu Lydda."
"Du bleibst hier, wie wir alle" befahl der Waldbauer. "Irgendetwas geht da vor und wir müssen zusammenhalten, bis wir wissen, was das ist!"
"Aber wir sollten uns bewaffnen", rief die einzige Frau, die
auch aus ihrer Hütte gekommen war. Die schöne Ella, eine alleinstehende Witwe von 24 Jahren. Sie hatte ihren Ehemann vor einem Jahr bei einem Unfall verloren und lebte seitdem alleine.
Sie hatte einen Stecken dabei und hob ihn in die Luft.
"Ja", rief der Waldbauer, "sie hat recht! Jeder holt sich etwas,
mit dem er sich verteidigen kann. In 5 Minuten treffen wir uns hier wieder."
"Votum Aurelia", tönte es wieder.
"Die Eiche!" rief Ella. Ich habe es jetzt auch gesehen. "Die Stimme kommt aus der Eiche!"
"Von der Eiche, nicht aus der Eiche", sagte ein kleiner Junge,
der nun auch auf der Straße war. "Na toll", dachte Ella, jetzt ist der Klugscheißer auch noch da. Sie mochte ihn nicht, weil er an allem herummäkelte. Dabei war er gerade erst mal 12 Jahre alt. "Halt die Klappe, Ulli", keifte sie ihn an. Das ist jetzt wirklich egal.
"Aber ich habe recht", grinste Ulli sie keck an.
Die Nachbarn kamen nun alle wieder zusammen. Jeder hatte etwas dabei. Mistgabeln, Sensen, Dreschflegel, Stöcke, Messer blitzten im fahlen Mondlicht und keinem war wohl dabei.
Wassta kam mit einer Säge. Eine große Bügelsäge, die man beidhändig zum Zersägen von dicken Ästen oder Stämmen benutzte.
"Was willst du denn damit?", fragte Gorrit. "Willst du den Baum fällen?"
"Ich hab nix anderes gefunden und die Messer darf ich nicht nehmen, sagt Lydda", entschuldigte sich Wassta.
"Lass ihn in Ruhe" rief einer. "Das ist besser als nichts!"
Auf geht's" gab der Waldbauer an und der kleine Tross setzte sich in Bewegung in Richtung Eiche.
"Wer weiß was auf uns zu kommt" antwortete Ella. "Wir sollten lieber erst mal einen vorschicken, und nicht alle gemeinsam gehen. Und Ulli ergänzte "Schon mal was von Taktik gehört?"
"Halt die Klappe, Ulli" keifte Ella wieder.
"Votum Aurelia!" wurde es lauter.
Und die Eiche erleuchtete nun heller als zuvor. Eine Aura bildete sich um den Baum und züngelte wellenartig mit fahlem grünlich-bläulichem Licht um alle Äste, Blätter und Stamm. Es knisterte leicht dabei und war ein Schauspiel, wie es noch keiner gesehen hatte.
Alle sahen es und blieben fasziniert stehen. Das Leuchten blieb nun, und wurde zunehmend heller. Blaugrünes Licht umgab mindestens zwei Fuß breit den Baum.
"Wow!" rief Ulli. "Das ist ja wie bei einer Kerze, nur in blau" und ging auf die Eiche zu.
"Bleib hier", rief der Waldbauer. "Wir wissen noch nicht, was es damit auf sich hat."
Doch Ulli hörte nicht auf ihn. "Von wegen Taktik, du Klugscheißer" rief ihm Ella hinterher. "Bleib gefälligst hier! - Ulli !!!"
Ulli blieb stehen und ging ein paar Schritte ...