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WIR WAREN VIELE an jenem Nachmittag Anfang September 2001, als wir Erik Lundin das letzte Geleit gaben. Unter uns war auch dein Vetter Truls, deshalb lasse ich meinen Bericht hier beginnen. Zehn Jahre später traf ich ihn zusammen mit Liv-Berit und den beiden Töchtern wieder. Dabei bin ich dir zum ersten Mal begegnet.
Die Vestre-Aker-Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt, und wir gingen dicht gedrängt hinter der Bahre her zur Grabstätte. Die Sonne spielte im Laub der Bäume, aber sie brannte uns auch in den Augen - für manche eine willkommene Gelegenheit, die Sonnenbrille herauszuholen. In mir klangen noch immer Chorgesang, majestätische Trompetensoli und berauschende Orgeltöne nach.
Nachdem wir Erde auf den Sarg geworfen hatten, gingen wir zurück zur Kirche und zum Gemeindehaus. Es war mild für die Jahreszeit, um die zwanzig Grad. Erst als sich die Sonne hinter eine Wolke verzog, spürten wir den frischen Wind, der vom Fjord und vom Tiefland heraufkam.
Bei einer von so vielen Menschen besuchten Beerdigung fällt es nicht weiter auf, wenn jemand allein unter den Bäumen dahinwandert und keinen Kontakt zu den Angehörigen aufnimmt. Die Familie im engeren Sinne ist ohnehin mit sich selbst beschäftigt. Wie sollten sie da jemanden bemerken, der sich, auch vom Rest der Trauernden abgesondert, im Hintergrund hält?
Einige der auf dem Friedhof Versammelten waren mir allerdings schon früher begegnet, und einem davon, einem ehemaligen Schüler, nickte ich sogar zu. Aber wir hatten nie wieder miteinander zu tun gehabt; er brauchte mich also nicht zu kümmern. Dann war da noch ein großer dunkler Mann, dem ich schon öfter über den Weg gelaufen war, aber auch er war ein Außenstehender und damit kein Problem. Mir fiel nur ein, dass ich einmal von ihm geträumt hatte, wie er mit einer Sense um sich schlug.
Auf dem geräumigen Platz vor der Kirche winkte man einander zu und umarmte sich zum Abschied, manche begrüßten sich aber auch erst und stellten sich einander vor. Einige der ganz Alten wurden zu wartenden Autos geleitet, die danach eins nach dem anderen den Motor anließen und langsam den abschüssigen Weg hinunterfuhren, auf dem es bereits von schwarz gekleideten Menschen wimmelte.
Ich selbst war fest entschlossen, zu bleiben und mit ins Gemeindehaus zu gehen. In der Anzeige hatte ja gestanden, dass alle, die Erik zum Grab geleiteten, dort willkommen seien. Mir war klar, dass das Beisammensein mit den Angehörigen und Freunden eine Herausforderung werden würde, aber nicht mitzugehen schien mir keine Alternative zu sein.
In der Kirche hatte ich mich fast ganz nach vorn und direkt an den Mittelgang gesetzt, auf die rechte Seite, denn so hatte ich den Pastor im Blick, der die Trauerfeier damit begann, dass er die Stufen vom Altar herunterkam und nicht weniger als vier Generationen der Familie Lundin mit Handschlag begrüßte: zuerst die Witwe Ingeborg Lundin, danach die drei zwischen vierzig und fünfzig Jahre alten, von ihren Ehepartnern begleiteten Kinder und zum Schluss die Enkel und Urenkel.
Ich versuchte zu erraten, welche der Töchter Marianne und welche Liv-Berit war. Ich wusste, dass Marianne die Ältere war, und stellte fest, dass zwischen den beiden Schwestern ein beträchtlicher Altersunterschied bestehen musste. Die Sache war also einfach. Liv-Berit war vielleicht Anfang vierzig, und ihre Schwester, Marianne, mochte in meinem eigenen Alter sein, also um die fünfzig. Jon-Petter, das älteste der Kinder, saß dicht neben seiner Lise, die leicht als die Schwiegertochter zu erkennen war, denn Jon-Petter, Marianne und Liv-Berit waren blond und konnten als Paradebeispiele einer eindrucksvollen Geschwisterähnlichkeit gelten, während Lise ein vollkommen anderer Menschentyp mit dunklen Haaren war. Ich kombinierte weiter, dass Marianne und Sverre zusammengehörten, denn sie hatten Hand in Hand gesessen, bis der Pastor sie begrüßte. Wenig später beobachtete ich, dass der Mann, den ich von Anfang an für Truls gehalten hatte, Liv-Berit ein Taschentuch reichte.
Dann waren da die jungen Leute. Ich brauchte lange, um herauszufinden, wer von ihnen wer war, aber bis wir die Kirche verließen, hatte ich mir auch hier einen Überblick verschafft. Ylva und Joakim hatte ich auf Bildern im Netz gefunden; heute hätte ich sie sicher alle bei Facebook und Instagram ausfindig machen können. Die Anzeige in der Zeitung hatte mir nützliche Informationen über die Altersreihenfolge gegeben. Es konnte deshalb keine unlösbare Aufgabe sein, auch Sigrid, Fredrik, Tuva und Mia zu identifizieren. Die Frau, die einen drei oder vier Jahre alten kleinen Jungen auf dem Schoß hielt, musste Sigrid sein, das älteste Enkelkind, vielleicht Ende zwanzig. Sie saß neben einem Mann, bei dem es sich sicher um den Vater des Kleinen handelte, und ein Mädchen von vielleicht fünfzehn war dann wohl Mia, das jüngste Enkelkind, denn das zweitjüngste war Joakim. Tuva, vermutlich zwei Jahre älter als Joakim, war eine junge Dame, die offensichtlich schon aus dem Teenageralter heraus war.
Diesen Menschen also reichte der Pastor die Hand. Aber welche der jungen Leute waren Geschwister, welche Vettern und Kusinen? Bei der Beantwortung dieser Frage war mir die Todesanzeige keine Hilfe, deshalb musste ich sie fürs Erste auf sich beruhen lassen. Ich versuchte auch gar nicht erst zu ergründen, wer die Eltern welches Enkelkindes waren. Vieles würde sich bei dem Zusammensein im Gemeindehaus von selbst klären.
In der Anzeige, die in der Innentasche meines Jacketts steckte, waren die Kinder und Enkelkinder namentlich aufgeführt. Die darauf folgende Zeile lautete »Urenkel und übrige Angehörige«. Ich konnte also nicht wissen, wie viele der jungen Leute schon eigene Kinder und wie viele Urenkel folglich der alte Professor gehabt hatte. Es konnte nur einer, es konnten aber auch mehrere sein. In vielen Sprachen wäre das ganz deutlich gewesen, aber es gibt eben Wörter bei uns, die im Singular und Plural gleich sind, meist maskuline Substantive wie »Enkel«, »Tischler«, »Kaiser« oder »Finger«.
Ich konnte zudem nicht wissen, welche eventuellen Geschwister, Schwäger und Schwägerinnen, Neffen und Nichten von norwegischer und welche von schwedischer Seite in der Kirche waren, denn sie alle fielen unter den Sammelbegriff »übrige Angehörige«. Trotzdem war es erstaunlich, wie viel man einer Todesanzeige entnehmen konnte, und schon bei den ersten Worten des Pastors füllten sich die ersten Lücken: Wie ich vermutet hatte, war es Sigrid, die einen fast vier Jahre alten Sohn bei sich hatte, Morten, aber Sigrid und Thomas hatten auch eine Tochter von einem Jahr, Miriam, der allerjüngste Spross des Stammes.
Der Pastor zeichnete ein schönes Porträt des schwedischen Stipendiaten, der im Herbst 1946 nach Oslo gekommen war, um seine Doktorarbeit zu vollenden, in der er die Eddagedichte und den altnordischen Mythenschatz im Lichte der Studien betrachtete, die Magnus Olsen über ein halbes Jahrhundert hinweg angestellt hatte. Hier lernte Erik Ingeborg kennen und gründete eine Familie. Er war zunächst Doktorand, dann Universitätsdozent, um schließlich viele Jahre als Professor für Altnordische Philologie zu wirken. Diesen Aspekt von Eriks Leben repräsentierte ich. Auf entsprechende Fragen würde ich der Familie erzählen, dass ich in seinen Vorlesungen gesessen hätte und wir danach noch lange in lockerem Kontakt geblieben und schließlich zu dem geworden seien, was man treue Freunde nennen könne. Es seien nur leider zu viele Jahre verstrichen, seit wir zuletzt miteinander sprachen.
Ich versuchte, nicht unter den Ersten zu sein, die sich ins Gemeindehaus begaben, ich wollte aber auch nicht zu den Letzten gehören. Als wir nicht weit voneinander entfernt eintraten, traf mich unerwartet ein Blick des großen dunklen Mannes, aber ich schaute sofort in eine andere Richtung und machte einen Schritt zur Seite. Zur Strafe war ich dann doch einer der Letzten.
Als ich aus der Garderobe kam, saßen die meisten schon an den Tischen, und im Hintergrund war jemand emsig damit beschäftigt, für die zuletzt Gekommenen zusätzliche Gedecke aufzulegen. Ich weiß noch, dass ich ein wenig hilflos stehen blieb, und jetzt war es Tuva, die sich erhob, mich im Namen der Familie begrüßte und mich fragte, ob ich schon einen Platz hätte. Ich weiß nicht mehr, was ich geantwortet habe oder wo man mich überall unterzubringen versuchte, aber es endete damit, dass man mich zu einem freien Stuhl am Tisch der jungen Leute führte. Dort saßen Tuva und Mia jeweils am Tischende, dazu, mir schräg gegenüber, Ylva, eingerahmt von Fredrik und Joakim, die sich als ihre Vettern erwiesen und beide eine Spur jünger waren als sie. Fredrik war der Ältere von beiden, und ich erfuhr bald, dass er Jura studierte und Joakim kurz vor dem Abitur stand. Ich erfuhr zudem, dass sie Sigrids Brüder und die Söhne von Jon-Petter und Lise waren. Rechts von mir saßen Liv-Berit und dein Vetter Truls, die du ja beide gut kennst und die ich dir deshalb nicht weiter vorzustellen brauche. Mir ging bald auf, dass sie die Eltern von Tuva und Mia waren, deren Kindheit und Jugend du miterlebt hast. Ich sah sofort, dass dein Vetter eine alte Narbe über der ganzen rechten Stirnhälfte hatte. Diese Narbe war so auffällig, dass ich mir noch länger den Kopf darüber zerbrach, was ihm wohl passiert sein mochte. Die Geschichte hast du mir dann mehr als zehn Jahre später erzählt.
Lass mich hier schnell einschieben, dass es mir natürlich klar ist, von wie vielen Menschen hier die Rede ist; es sind sicher zu viele, als dass man sie auf Anhieb auseinanderhalten könnte. Aber du wirst ihnen allen wiederbegegnen. Denn in den Jahren nach Erik Lundins Beerdigung bin ich sämtlichen...
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