Schweitzer Fachinformationen
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Etwas brummte. Ein enervierendes Geräusch, das von dem Smartphone verursacht wurde, das neben ihrem Bett am Boden lag. Verdammt! Hadice Öztürk, 38 Jahre, Kriminalkommissarin, hoffte, dass der Anrufer ein Einsehen haben und aufgeben würde. Das Scheißding brummte weiter. Was nützte es eigentlich, die Dinger lautlos zu stellen, wenn sie dann wie wild gewordene Hummeln auf dem Parkett rumorten! Überdies war es ihr Diensthandy, das da nervte. Sie hatte aber keinen Dienst! Den letzten Fall hatte sie gestern kurz vor Mitternacht so weit abgeschlossen, dass sie beruhigt ins Wochenende gehen konnte. Sie hatte auch keine Bereitschaft. Warum zum Kuckuck quengelte dann ihr Diensthandy? Sie streckte einen Arm aus, tastete nach dem vibrierenden Stück Elektronik und hielt sich das Display vor die schlafverklebten Augen. Dann nahm sie das Gespräch an.
»Theo, verdammt! Das ist mein Diensthandy!«
»Dir auch einen wunderschönen guten Morgen.«
Hadice stöhnte und rappelte sich auf. Sie fuhr sich mit der Zunge über die pelzigen Zähne. »Moment.« Sie griff nach der Flasche neben ihrem Bett und ließ mehrere große Schlucke Wasser durch ihre Kehle rinnen. Dann griff sie wieder nach dem Smartphone. »Das ist mein verdammtes Diensthandy«, präzisierte sie.
»Es geht ja auch um eine dienstliche Angelegenheit«, sagte Theo. »Jenay Munk, schon mal gehört?«
Hadice schwieg.
»Hallooo!«, machte Theo. »Ich nehme mal an, das bedeutet Ja.«
»Ja«, machte Hadice.
»Du bist noch im Bett, oder?«
»Quatsch.« Sie schwang die Beine über die Kante. Ein Blick auf das Telefon verriet ihr, dass es bereits Viertel nach zehn war.
»Ich bin in zwanzig Minuten bei dir. Mit Brötchen«, sagte Theo.
»Bring Milch mit.«
Hadice ließ das Smartphone auf die Bettdecke sinken. Der Bezug war mit Piratenmotiven bedruckt - ein ironisches Geschenk ihres Kollegen Henry Sibelius. >Falls ich jemals wieder einen Mann mit nach Hause nehmen würde, wäre der Look nicht unbedingt passend<, dachte sie kurz, bevor ihre Gedanken wieder zu dem Telefonat mit Theo wanderten. Jenay Munk. Sie hatte die ganze Zeit geahnt, dass dieser Fall noch nicht abgeschlossen war.
Theo und Hadice hatten einander im Gymnasium in der Krieterstraße kennengelernt, ein bisschen rumgeknutscht und aus den Augen verloren, als Hadice mit ihrer Familie weggezogen war aus Wilhelmsburg. Nun war sie als Kriminalkommissarin zurückgekehrt und hatte zu ihrer Überraschung festgestellt, dass Theo inzwischen in die Fußstapfen seiner Vorfahren getreten war - ein Bestatter mit einem Intermezzo als Chirurg, aber nun dann doch: Bestatter. Sie hatten sich vor zwei Jahren wiedergetroffen, als Theo den Tod der alten Anna Florin untersucht hatte, der ihm merkwürdig vorgekommen war. Und nun, zwei weitere ominöse Todesfälle später, stand er vor ihrer Tür in der Mannesallee.
Als Hadice ihm öffnete, war ihr kurzes Haar noch feucht von der Dusche. Sie trug einen ausgeleierten Jogginganzug, der einmal blau gewesen sein mochte. Wie üblich sah sie beeindruckend aus - groß, schlank, sportlich, mit feinen Gesichtszügen und makelloser Haut. Sie schnappte sich die Bäckertüte, entdeckte ein Franzbrötchen und klemmte es sich zwischen die Zähne. »Unterzucker«, nuschelte sie. Immerhin stand der Kaffee schon dampfend auf dem Tisch - aufgebrüht nach türkischer Manier. Nachdem sie schweigend das köstlich-klebrig-zimtige Gebäck verzehrt hatte, fokussierte sie ihren Blick auf Theo.
»Jenay Munk also.«
Er nickte. »Ihre Mutter hat mich gebeten, da noch mal ein bisschen nachzuhaken.«
Hadice seufzte. Dann berichtete sie ihm aber doch von den inzwischen abgeschlossenen Ermittlungen. Kein Anhaltspunkt für Fremdeinwirkung. Kein erkennbares Motiv. »Und trotzdem ist es mir schwergefallen, den Fall zu den Akten zu legen. Irgendwas war da, das gebe ich zu. Aber ich habe es nicht zu fassen gekriegt. Die Familie war, gelinde gesagt, nicht sehr kooperativ.«
»Kann ich mir vorstellen.«
»Nicht die besten Erfahrungen mit den Bullen, was?«
Theo nickte. »Vor allem nicht mit denen von vor 1945.«
»Ach so?« Sie runzelte die Stirn. »Was ich nur sagen will: Eine junge Frau fällt doch nicht mitten in der Nacht einfach so in den Kanal und ertrinkt. Ich meine, sie hatte nicht mal Alkohol im Blut. Oder irgendwelche anderen Drogen.«
»Was hat sie da überhaupt gemacht?«
»Sie war offenbar auf dem Heimweg. Hat in der Honigfabrik ein Konzert mit ihrer Band gegeben und ist dann hinterher nach Hause gelaufen.« Das Kulturzentrum Honigfabrik, kurz Hofa genannt, war seit den 80er-Jahren nicht nur ein Veranstaltungsort für Konzerte und Filmvorführungen - dort gab es unter anderem auch eine Holzwerkstatt, eine Segelschule und Unterstützung bei der Kfz-Reparatur.
»Ist das nicht ein bisschen dunkel und einsam in der Gegend? Da nachts alleine unterwegs zu sein, ist doch etwas unheimlich, oder?«
Hadice zuckte mit den Schultern. »Für sie offenbar nicht. Der Weg am Kanal, den haben sie ja inzwischen ganz hübsch ausgebaut. Und sie war ziemlich häufig in der Hofa und ist dann immer zu Fuß nach Hause.« Sie kramte in der Brötchentüte. »Wir haben die Freunde befragt, mit denen sie da war. Keinem ist etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Jenay hat eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht. Am nächsten Tag hatte sie Frühschicht, darum ist sie eher gegangen als die anderen.«
»Und keiner hat mitbekommen, ob jemand sie begleitet hat? Oder ihr gefolgt ist?«
»Nada. Es war wie verhext. Kein Mensch hat irgendwas gesehen oder gehört. Oder überhaupt eine Idee, wer einen Grund gehabt haben könnte, sie umzubringen.« Sie bohrte das Messer in ein Mohnbrötchen. »Und jetzt haben ihre Leute also gewissermaßen dich angeheuert.«
»Gewissermaßen. Genauer gesagt, die Mutter. Rubina. Wir kennen uns von früher.«
Hadice halbierte das Brötchen, beschmierte es mit Butter und träufelte Honig darauf. Die süße zähflüssige Masse bildete goldene Kringel, die dann allmählich ineinander verliefen und einen funkelnden Miniaturtümpel bildeten.
Theo schnappte sich das letzte Rundstück. Bei Hadice musste man schnell sein. »Könnte es so was wie ein Ehrenmord gewesen sein? Und jetzt halten alle dicht?«, überlegte Theo. »Ich meine nur, weil Jenay sich von ihrer Familie und ihren Traditionen gelöst hat. Die Mädchen wachsen bei den Sinti ja oft noch sehr behütet auf, soweit ich weiß.«
»Ehrenmord? Wüsste nicht, dass es so was bei denen gibt. Für so was sind doch wir Muslime zuständig.« Sie grinste böse. »Das sind Christen, weißt du? Gläubiger als du, mein Lieber.«
Sie leckte etwas Honig von ihrem kleinen Finger. Dann sah sie ihn an. »Das gefällt mir nicht, dass du dich da wieder in eine mögliche Mordsache einmischst. Das gefällt mir ganz und gar nicht.«
»Oh, weißt du, ich rede einfach mit ein paar Leuten.«
»Eben. Und wir wissen beide, was dabei rauskommen kann.«
»Willst du, dass der Mörder davonkommt, wenn es denn einen gibt?«
Sie sah ihn finster an. »Sei bloß vorsichtig. Und wenn du tatsächlich was rausfindest, erzählst du es mir zuerst. Umgehend!«
»Na, dann bin ich jetzt also ein offizieller Polizeispitzel.«
Sie warf die zweite Hälfte ihres Brötchens nach ihm.
Als Theo zum Bestattungsinstitut zurückkehrte, parkte dort ein silberfarbener Mercedes. Manusch stieg aus. Trotz des ungemütlichen Wetters trug er nur eine gefütterte Jeansjacke. In der Hand hielt er eine Sporttasche. »Ich habe hier ein paar Sachen. Für Jenay.«
Er öffnete die Tasche und zog ein fliederfarbenes Kleid mit Rüschen und Volants hervor. Er seufzte.
»Wahrscheinlich nicht unbedingt das, was sie sich selbst ausgesucht hätte. Sie hat sich lieber modern angezogen. Nur auf Jeans hat sie verzichtet.«
»Ist das immer noch so, dass Sinti-Frauen keine Hosen tragen dürfen?«
»Dürfen. Was heißt schon dürfen? Es gehört sich eben einfach nicht.«
»Sollen wir 'ne kleine Runde drehen?«
Sie gingen nebeneinander her, denselben Weg, den sie damals im Sommer 1995 oft gegangen waren. Quer durch den Friedhof Finkenriek zum Deich. Theo erinnerte sich, dass sie auch damals oft miteinander geschwiegen hatten. Das Schweigen war auch jetzt, nach all den Jahren, nicht unangenehm, sondern vertraut.
An einem Grabstein hielt Theo Manusch ganz leicht am Arm zurück. Der las die Inschrift.
»Deine Frau. Und deine Tochter.« Manusch nickte. »Ich habe davon gehört, damals. Tut mir leid, Alter.«
Es war natürlich etwas anderes, ein Kind gleich bei der Geburt zu verlieren als eine 19-jährige Tochter. Aber es schuf doch ein zusätzliches Band zwischen den beiden Männern Ende dreißig, das es sonst so nicht gegeben hätte.
»Jenay war mein Herzenskind.« Manusch stieß die kleine Pforte auf, die vom Friedhof auf den Deich führte. »Man soll ja als Vater keinen Liebling haben, aber wenn wir ganz ehrlich sind, gibt es für jeden von uns ein Kind, das unserem Herzen am nächsten steht.« Er warf Theo einen Blick zu und stieg dann, die Hände in die Taschen der Jeansjacke vergraben, zur Deichkrone hinauf. »Ich habe sogar ihren Namen ausgesucht. Jenay. Das heißt >Melodie<. Er hat so gut zu ihr gepasst.« Er holte tief Luft. »Bei Rubina war es genau umgekehrt. Sie ist mit Jenay nie richtig klargekommen.« Er schlug den Kragen seiner Jeansjacke hoch und klemmte die Hände unter die Achseln, den Blick auf die Süderelbe gerichtet, die schnell und gleichmütig...
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