Die Gespenstervilla
Hedwig Kümmelsaft sah verärgert aus, als Tom völlig außer Atem am Treffpunkt eintraf. Sie stand vor dem schmiedeeisernen Tor, in einem dicken Wintermantel, mit Mütze und Schal, über der Schulter eine vollgestopfte Umhängetasche und neben sich den Eimer Friedhofserde.
»Etwas mehr Pünktlichkeit wäre wünschenswert, junger Mann!«, sagte sie. »Es ist bereits zwanzig nach fünf!«
»Ich - ich hab mich verlaufen«, japste Tom und setzte hastig seine Mütze auf. »Außerdem musste ich noch meine Schwester abschütteln.«
»Nun gut, vergessen wir's!«, sagte die alte Dame. »Auf jeden Fall sind wir hier an der richtigen Adresse. In meiner ganzen Laufbahn als Gespenstervertreiberin ist mir noch kein so starker UEG-Geruch in die Nase gestiegen.«
Beunruhigt lugte Tom durch das schwere Eisentor. Die alte Villa, die einmal Hugos Zuhause gewesen war, lag zwischen hohen dunklen Bäumen und sah alles andere als einladend aus. Klotzig und abweisend stand sie da, mit schmalen dunklen Fenstern, die wie tote Augen zu Tom herüberstarrten. Nur der dicke weiße Rauch, der trotz des warmen Spätsommertages aus dem Schornstein quoll, zeigte, dass sie bewohnt war.
»Komm, junger Mann! Das sehen wir uns mal aus der Nähe an«, sagte Frau Kümmelsaft und öffnete das Gartentor. Quietschend schwang es auf.
»Oh, wölch lieblüches Geräusch!«, stöhnte Hugo entzückt in Toms Rucksack. »Üch bin wiedör zu Hause. Ohohoo, mür kommen die Tränen!«
»Willst du nicht rauskommen?«, fragte Tom, während sie auf die Villa zugingen. »Hier sieht dich doch sowieso niemand.«
»Zu hell, viel zu hell!«, murrte Hugo.
»Na, als hell würde ich das nicht gerade bezeichnen«, sagte Tom. Die riesigen Bäume warfen dunkle Schatten.
Eine breite, moosbewachsene Treppe führte hinauf zur Haustür. Oben angekommen, stellte Frau Kümmelsaft ihren Eimer ab und drückte entschlossen auf den einzigen Klingelknopf. »Zacharias Lieblich« stand auf dem fleckigen Messingschild darüber.
Nichts rührte sich.
Frau Kümmelsaft runzelte die Stirn. »Hugo, du hast doch gesagt, dieser Herr Lieblich arbeitet zu Hause, nicht wahr?«
»Stümmt!«, kam es aus dem Rucksack. »Er arboitet nuhur zu Hause.«
»Hm, verdächtig!« Frau Kümmelsaft quetschte ihre Nase gegen das Fenster neben der Eingangstür.
»Können Sie was sehen?« Nervös fingerte Tom an seiner Brille herum.
»Nur die üblichen UEG-Spuren«, sagte Frau Kümmelsaft leise. »Umgekippte Möbel, vollgeschleimte Teppiche. Aber keine Spur von diesem Herrn Lieblich!«
»Ohohojööööh!«, jammerte Hugo. »Böstümmt hat diesös grässlüche Göspenst ihn auch weggepuhuhustet!«
»Unsinn!«, sagte Frau Kümmelsaft. »Auch ein UEG braucht jemanden zum Erschrecken. Ich nehme an, der Hausherr hat sich irgendwo versteckt.« Sie zog eine flache Dose aus ihrer Tasche. »Da, junger Mann. Schmier dir das auf die Schuhsohlen. Eine erstklassige Anti-UEG-Schleim-Creme. Und den«, sie hielt Tom einen kleinen, glasklaren Würfel hin, »steck in deine Jackentasche. Es ist ein UEG-Melder. Sobald eines in der Nähe ist, wird er eiskalt. Ich habe auch so ein Ding. Sehr nützlich.«
Der Würfel fühlte sich angenehm warm an. Rasch steckte Tom ihn ein.
»Und üch?«, fragte Hugo beleidigt. »Üch brauch auch so oinen Melder.«
»Blödsinn!«, brummte Frau Kümmelsaft und besah sich das Türschloss. »Du bist ein Gespenst. Du wirst auch so merken, wann dein Kollege in der Nähe ist.« Sie wühlte in ihrer Tasche herum und zog ein kleines Stück Draht hervor.
»Damit müsste es gehen«, murmelte sie und schob den Draht vorsichtig in das Schloss.
»Machen Sie so was öfter?«, fragte Tom.
»Allerdings! Meine Kunden sind meist so starr vor Angst, dass sie es nicht mal schaffen, mir die Haustür zu öffnen.«
Klack!, machte es, und die schwere Tür sprang auf.
»Komm, junger Mann!«, zischte Frau Kümmelsaft. »Jetzt wird's ernst.«
Eiseskälte schlug ihnen entgegen. Eiseskälte und Totenstille. Sie standen in einer hohen düsteren Halle, in die nur durch zwei kleine Fenster etwas Tageslicht fiel. Der Gespensterschleim auf den Teppichen schimmerte im Dämmerlicht wie ein Gewirr von riesigen Schneckenspuren. Die Treppe, die sich hinauf ins Obergeschoss schwang, war von oben bis unten voll von dem Zeug. Mitten im Saal lag ein großer Tisch wie ein Käfer auf dem Rücken und streckte seine Beine in die Luft. Ein Schrank stand auf dem Kopf. Alle Bilder an den Wänden hingen verkehrt herum. Der Kronleuchter hoch über ihnen schwang langsam hin und her. Hin und her.
Toms Finger schlossen sich fest um den kleinen Würfel. Er war warm. Beruhigend warm.
Es gab fünf Türen, zwei links, zwei rechts und eine am hintersten Ende der unheimlichen Halle.
»Hugo, komm heraus!«, flüsterte Frau Kümmelsaft in Toms Rucksack. »Wo hält sich Herr Lieblich meistens auf?«
Schwabbelnd und blassgelb um die Nase, kam Hugo zum Vorschein.
»Üm Salon oder ün der Kühüche«, säuselte er. »Zwoite Tühür links und die Tür dahahinten. Oooohoojöööh, wie süht es dönn hier aus?«
Auf leisen, anti-UEG-Schleim-beschichteten Sohlen schlichen Hedwig Kümmelsaft und Tom auf die Salontür zu. Hugo schwebte hinterher. Lautlos öffnete Frau Kümmelsaft die Tür und spähte hindurch. Dann winkte sie Tom und Hugo, ihr zu folgen.
In Herrn Lieblichs Salon war es warm, angenehm warm, denn im Kamin brannte ein großes Feuer. Helles Tageslicht fiel durch zwei Fenster.
»Iiigittt!«, jaulte Hugo und verschwand auf der Stelle wieder im Rucksack.
»Herr Lieblich?«, fragte Frau Kümmelsaft leise. »Sind Sie da? Wir sind gekommen, um Ihnen zu helfen.«
Tom glaubte ein Schniefen zu hören, und dann lugte plötzlich ein Mann mit wirrem grauem Haar hinter dem Sofa hervor. »Wer - wer sind Sie?«, fragte er.
»Mein Name ist Hedwig Kümmelsaft«, stellte die alte Dame sich vor. »Ich bin von Beruf Gespenstervertreiberin.«
»Oh, wirklich? Aber das ist ja .« Herr Lieblich rappelte sich hoch und sah die alte Dame erstaunt an. Er war groß und dick und trug einen schwarzen Anzug, der über und über mit Mehl bedeckt war. »Woher wissen Sie von meinem Unglück?« Unruhig sah er über die Schulter. »Im Moment ist es still. Aber das täuscht. Sie kommen nur zu einem günstigen Zeitpunkt.«
»Ich weiß, ich weiß.« Frau Kümmelsaft lächelte. »Alles eine Frage der Planung. Es gibt nur eine Zeit, zu der UEGs nicht sonderlich aktiv sind - zwischen siebzehn und achtzehn Uhr.«
»Oh, wem sagen Sie das!«, stöhnte der mehlbestäubte Herr Lieblich. »Das ist die einzige Zeit, in der ich etwas zum Arbeiten komme. Eine Katastrophe!« Mit zitternden Fingern fuhr er sich durchs Haar. »Sie müssen wissen, ich bin Kekserfinder, und mein neuestes Keksrezept >Feenküsschen< - oje!« Entsetzt schlug er sich gegen die Stirn. »Meine Kekse!« Er stürmte an Tom und Frau Kümmelsaft vorbei zur Tür, lugte hinaus - und verschwand in der Halle.
»Der benimmt sich aber reichlich komisch«, stellte Tom fest.
»Eindeutige Zeichen von UEG-Befall«, sagte Hedwig Kümmelsaft. »Komm, wir ziehen die Vorhänge zu, vielleicht traut sich unser Kellergespenst dann wieder heraus. Wir sollten es Herrn Lieblich vorstellen.«
»Üch bin koin Kellergöspenst. Wie oft soll üch das denn noch sahagen?«, kam es ärgerlich aus dem Rucksack.
Herrn Lieblichs Vorhänge waren dick und blau. Als sie zugezogen waren, ließ das Kaminfeuer flackernde Schatten durch den dunklen Raum tanzen.
»Zuhuhu Hause!«, seufzte Hugo und schwebte mit verzücktem Gesicht bis unter die Decke.
Genau in dem Moment kam Herr Lieblich in den Salon zurückgestürmt. »Entschuldigung!«, rief er atemlos. »Aber ich musste unbedingt nach meinen Feenküsschen-Keksen sehen. Warum haben Sie es denn so dunkel gemacht?«
»Uuhuuhuaaaaah!«, stöhnte Hugo und schwabbelte in scheußlichster Schimmelfärbung auf Herrn Lieblich zu.
»Oh nein, bitte nicht schon wieder!«, rief der und schlug die Hände vors Gesicht. »Nein, das halte ich nicht aus!«
»Hugo!«, rief Tom wütend.
»Aber üch wollte ühn doch nur oin kloines büsschen örschrecken«, heulte Hugo beleidigt. »So wie ün alten Zoiten.«
Herr Lieblich ließ sich zitternd auf sein mehlverstaubtes Sofa sinken. »Oh«, schluchzte er. »Womit habe ich das verdient?«
»Beruhigen Sie sich, mein Lieber!«, sagte Frau Kümmelsaft. »Wir sind hier, um Ihnen zu helfen. Und ich verspreche Ihnen, dieses Kellergespenst«, sie warf Hugo einen sehr bösen Blick zu, »wird Sie nicht noch einmal derart erschrecken.«
»Üch bin koin Kellergöspenst«, murmelte Hugo, aber er schwebte zerknirscht zurück in Toms Rucksack.
»Ich versteh das alles nicht«, stöhnte Herr Lieblich. »Ich versteh schon seit einiger Zeit überhaupt nichts mehr. Und meine Kekse«, eine dicke Träne lief ihm die mehlige Wange hinunter, »meine Kekse schmecken auch nicht mehr. Wie soll ein ernsthafter Kekserfinder unter solchen Bedingungen arbeiten? Nicht eine Sorte habe ich erfunden, seit, seit .« Er schluchzte wieder los.
»Seit es bei Ihnen so heftig spukt«, half Frau Kümmelsaft ihm weiter.
Herr Lieblich nickte. »Schon mein Großvater war der Meinung, dass in diesem Haus nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Er verdächtigte meinen seligen Urururonkel Hugo, hier zu spuken, seit er beim Schlafwandeln vom Dach fiel. Ein kleiner Familienspuk sozusagen. Aber seit einer Woche ist es einfach nicht auszuhalten!« Verzweifelt schüttelte Herr Lieblich den Kopf. »Ich bin so durcheinander, dass ich Salz statt Zucker in...