Schweitzer Fachinformationen
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Feuerwerke schon vor Sonnenaufgang. Dröhnende Bässe lassen unsere Wände wackeln. Nachbarn lachen laut, arbeiten schon an ihrem Alkoholpegel. Heute ist der Tag. Ich rolle mich zur Seite und schalte meinen Bildschirm an. Paraden in Wellington. Moskau. Johannesburg. Minsk. Uppsala. Der Feiertag arbeitet sich Zentimeter für Zentimeter mit dem Licht der aufgehenden Sonne an uns heran.
Dad?
Emi steht in der Tür.
Ich klopfe auf die leere Seite des Bettes: Feiertagsglotzparty, machst du mit?
Nein, danke. Willst du laufen gehen?
Ich knipse das Licht an. Emi trägt ihre Basketballshorts und ein Sweatshirt. Ihre Turnschuhe in der einen Hand. Meine Turnschuhe in der anderen.
Ernsthaft?, frage ich und gähne. Okay. Ich bin wach. Okay. Los geht's.
Unsere Joggingrunde verläuft schnurstracks stadtaufwärts und dann wieder direkt runter - eine Route, die uns über jede der sechs Plazas führt, die über unserer liegen. Kristina würde jetzt Emis Zeit stoppen. Sie antreiben, dass sie ihre Beine mehr anheben soll. Damit sie ihre Bestzeit schlägt. Aber Emi und ich laufen ein entspannteres Tempo, während wir unter Straßenlaternen, hängenden Gärten und den letzten Resten Polarlicht entlangjoggen. Zwei Morgen, seit Kristina abgereist ist. Zwei Morgen, an denen Emi mich früh zum Joggen aufgeweckt hat: Ihre Art, mir zu sagen, dass sie zu allem bereit ist, solange ihre Mutter sie nicht dazu zwingt. Ich hab eigentlich kein Problem damit. Nur heute. Heute hab ich ein bisschen ein Problem. Es ist extrem früh.
Im ersten Morgengrauen sind wir nicht alleine. Arbeitende mit Stirnlampen legen bei den Essensständen letzte Hand an. Stellen Dixi-Klos auf. Drei ältere Damen sind extra früh auf die Sorlaat Plaza gekommen, um einen guten Platz zu ergattern. Als wir vorbeilaufen, schwenken sie Wunderkerzen.
Im Gipfelpark machen Kristina und Emi immer Liegestützen und Kniebeugen und Lunges. Emi und ich geben uns nur ein High five und streuen ein paar halbherzige Dehnübungen ein. Wir verschnaufen, der Horizont verwandelt sich im Sonnenaufgang in ein dünnes rosa Band. Noch ist es zu dunkel, um die Bucht oder die Fjorde zu erkennen. Unter uns platzen lautlos die ersten Feuerwerksraketen, hinterlassen kleine Wattebäusche am Himmel, lassen kurz die Säulen aus geothermalem Dampf aufleuchten, der von den Pflanzen aufsteigt. Musikfetzen dringen aus der unteren Stadt zu uns. Bläser und Glocken. Eine laute Trommel drischt Viertelnoten. Ich drücke Emis Schulter: Alles Gute zum Tag Null, Em.
Alles Gute zum Tag Null, Dad.
Eigentlich sollte Emi heute Morgen gar nicht mehr hier sein. Sondern mit ihrer Mannschaft im Skiurlaub. Bin ich enttäuscht, dass sie einen Rückzieher gemacht hat? Ein wenig. Sie macht sich so viele Sorgen. Ich will, dass sie ein sorgenfreies Kind ist, das mit seinen Freunden Spaß hat. Aber sie wird erwachsen. Das muss ich akzeptieren. Sie trifft ihre eigenen Entscheidungen. Und diese Woche hat sie sich für mich entschieden. Ich drücke sie noch mal.
Ich hab dich sehr lieb, Em.
Ich dich auch, Dad.
Wir beobachten die Raketen. Genießen die Stille. Dann fragt sie: Bist du froh, dass Mom abgereist ist?
Froh? Nein. Ich bin nicht froh.
Aber es ist lustiger ohne sie. Das musst du zugeben.
Das will ich nicht hören. Deine Mutter liebt dich.
Warum muss sie dann immer .
Emiliana. Sie will nur dein Bestes.
Hey, ihr Feierwütigen! Frohen Tag Null am Gipfel der Welt!
Fünf junge Männer taumeln die letzten Meter hoch in den Park. Hängen lachend aneinander, schwer mit Flaschen beladen. Entweder das Ende einer sehr langen Nacht oder der Anfang eines sehr langen Tages.
Emi macht einen Schritt hinter mich.
Alles Gute zum Tag Null, Jungs, sage ich.
Sie schwanken zu uns herüber. Einer umarmt mich. Ein anderer drückt mir ein Schnapsglas in die Hand. Ich kippe den Alkohol über meine Schulter, als sie einander zuprosten und die Köpfe zurückwerfen.
Auf dem Rückweg stadtabwärts müssen Emi und ich uns durch eine wachsende Menschenmenge fädeln. Auf der Norsaq Plaza klingt es, als wären alle Boxenwände inzwischen fertig aufgebaut, mehrere DJs testen gleichzeitig ihre Anlagen. Die Musik lässt Emi stehen bleiben. Sie nickt im Takt. Macht ein paar kleine Tanzschritte. Das Morgengrauen hat den letzten Rest Polarlicht verscheucht. Emi fragt, ob wir bleiben können.
Lass uns erst nach Hause und was essen, sage ich.
Hab keinen Hunger.
Kriegst du aber. Wir haben einen langen, spaßigen Tag vor uns.
Und danach kommen wir direkt wieder her?
Ihre Aufregung ist ansteckend. Ich spüre den Funken, als ich in unserer Küche an der Spüle stehe: Emi trinkt in einem Zug ein Glas Wasser aus, wischt sich über den Mund und platzt dann - fast schreiend - mit der Frage heraus, ob wir stadtabwärts zur Esplanade gehen können? Bitte?
Ich höre Kristinas Stimme in meinem Kopf und sage fast nein. Aber ich sage nicht nein. Ich lasse mir die Idee durch den Kopf gehen. Emi muss das einzige Kind in Nuuk sein, das die große Jubiläumsfeier letztes Jahr verpasst hat. Und dieses Jahr soll es wohl noch spektakulärer werden. Menschenmengen sind nicht ihr Ding, aber an meiner Seite wird sie schon damit klarkommen. Und wie schön wäre es, bei ihrer ersten Parade dabei zu sein? Vor allem in der Tundra-Aussichtsloge mit Lucas und der Mannschaft. Außerdem: Wenn Emi aus eigenem Antrieb darum bittet - ja, bettelt -, ihre Komfortzone zu verlassen, muss ich sie ermutigen. Obwohl sie in diesem Fall nicht nur ihre eigene Komfortzone verlässt. Sie rebelliert damit auch gegen ihre Mutter. Wie mit der frühmorgendlichen Joggingrunde. Aber ein bisschen Rebellion ist was Gutes. Kristina wäre die Erste, die mir da zustimmt. Kristina, die sich nicht ein einziges Mal gemeldet hat, seit sie nach New York abgereist ist. Vielleicht - wenn ich ehrlich bin - ist mir also auch ein bisschen nach rebellieren.
Klar, Em. Wir können stadtabwärts.
Wirklich?
Warum nicht?, lache ich. Wir gehen direkt zur Tundra-Loge, schauen die Parade, dann kommen wir sofort zurück. Deal?
Deal, sagt sie und hüpft zu mir, um mich zu umarmen.
Deal, wiederhole ich. Aber erst Frühstück.
Mahlzeiten sind für Emi schwierig geworden. Sie bevorzugt weiches Essen. Ich versuche das zu berücksichtigen. Heute Morgen gibt es zum Frühstück eine Gazpacho aus Cantaloupe-Melone und Pfirsich. Apfelmus. Ein kurz gekochtes Hühnerei. Ich schäle es gerade, als Emi sich setzt. Das Ei ist warm und cremig und perfekt. Ich schiebe ihr den Salzstreuer rüber. Schenke ihr ein Glas Wassermelonensaft ein. Kaffee für mich.
Ich beobachte, wie sie ihr Essen inspiziert. Ich sage nichts. Esse einfach.
Ich hätte mich wirklich für sie gefreut, wenn sie diese Woche Ski fahren gegangen wäre. Ich fände es toll, wenn sie mit anderen Mädchen lange aufbleibt und ungesundes Zeug futtert. Lacht. Sorglos ist. Kristina findet auch, dass sie mehr Zeit mit Kindern in ihrem Alter verbringen sollte. Emi schien sich auch zu freuen, hatte schon ihre Taschen gepackt - aber dann hat sie vor zwei Tagen einen Rückzieher gemacht.
Was, wenn irgendwas passiert?, wollte sie wissen.
Irgendwas passiert sicher, sagte ich ihr. Nämlich dass du mit deinen Freundinnen Spaß hast.
Und wenn ich vom Skilift falle?
Die haben Sicherheitsbügel.
Und wenn eine Lawine kommt?
Die Skigebiete sind sehr sicher, Em.
Und wenn ich ersticke?
Du wirst nicht ersticken.
Ich könnte.
Dann machst du das, sagte ich und zeigte ihr mit meinem Stuhlrücken, wie man an sich selbst ein Heimlich-Manöver ausführt. Eine Technik, die jeder draufhaben sollte - besonders Emi, die nie ein ängstliches Kind war und es mit fünfzehn plötzlich geworden ist. Angst vor Menschenmengen. Angst, dass sie an Essen erstickt. Kristina und ich haben unterschiedliche Theorien, was da los ist. Was wir tun sollten.
In letzter Zeit kriegt Emi beim Essen Würgereflexe. Sie sagt, sie kann es nicht kontrollieren. Ich sage, das ist sicher eine Art Angststörung. Angst wovor, will Kristina wissen. Sie sagt, Emi hätte es zu leicht: Weil nichts sie herausfordert, erfindet ihre Psyche Herausforderungen. Als Emi verkündete, dass sie nur noch Smoothies essen kann, war Kristina kurz davor, unseren Mixer wegzugeben. Heute sind es Smoothies, morgen was anderes, sagt Kristina. Wir können nicht einfach so einknicken.
Aber diese Woche, ohne Kristina, habe ich beschlossen, genau das zu machen. Einknicken. Meiner Tochter alles geben, was sie will.
Ich ziehe mich um, meinen alten Forst-Corps-Blaumann, gehe zurück in die Küche und linse auf Emis Teller. Sie hat keinen Bissen gegessen, nur ihr Essen neu arrangiert. Ein Profi.
Und, wie sehe ich aus?
Fett?, sagt sie. Alt?
Falsch, lache ich. Ich sehe aus wie ein Held.
Das ist die Botschaft, die sie jedes Jahr im Vorfeld der Feierlichkeiten immer wieder abspulen. Mit der sie jede Magnetschwebebahn und jedes Windsegel und jedes Werbebanner auf jeder Farm zukleistern. Und die sie vor den alten Folgen von Corps Power bringen, die sie um die Zeit so gerne in Dauerschleife zeigen.
Okay, ich korrigiere, sagt Emi. Du siehst aus wie ein fetter, alter Held.
Ich ziehe meinen Bauch ein und sage, dass die meisten Veteranen nicht mal mehr in ihre Uniformen passen, Emi merkt an, dass ich auch nicht wirklich in meine passe, und wir lachen und es fühlt...
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