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Als Seeleute Ende des 18. Jahrhunderts erstmals die Überreste eines Schnabeltiers aus Australien nach Europa brachten, war der Forscher George Shaw von dem merkwürdigen Anblick so überrascht, dass er es für eine Fälschung hielt. Der Körper sah aus, als wäre er aus verschiedenen Tieren zusammengesetzt worden - mit dem Fell eines Otters, dem Schwanz und den Schwimmhäuten eines Bibers und dem Schnabel einer Ente. Dieses Wesen war nicht einzuordnen, passte in keine Schublade und gehörte in seiner Sonderbarkeit nirgendwo richtig dazu.
Vielleicht ist das der Grund, warum das Schnabeltier am liebsten alleine ist. Tagsüber ruht es sich in seinem Bau aus, und nur in der Dämmerung kommt es heraus, um sich Nahrung zu beschaffen. Dann schwimmt es durchs Wasser und verschließt dabei fest Augen und Ohren. Seine Beute kann es über elektrische Signale wahrnehmen. Den ganzen anderen Scheiß um sich herum blendet es aus und konzentriert sich nur auf das, was getan werden muss. Sofort danach zieht es sich wieder in die Einsamkeit seiner Behausung zurück. Meiner Meinung nach die beste Strategie, um durchs Leben zu kommen.
Ich fühle mich auch am wohlsten, wenn ich alleine in meinem Zimmer bin und nicht, so wie jetzt, in der Schule sein muss. Ich ducke mich auf meinem Platz in der letzten Reihe und versuche, nicht aufzufallen. Es ist die erste Woche nach den Weihnachtsferien und irgendwie hofft man ja jedes Mal, dass auf wundersame Weise alles ganz anders geworden ist. Aber natürlich ist nie irgendetwas anders geworden, zumindest nicht besser.
Frau Maisch, unsere Sozialkundelehrerin, schlurft in ihrem immer gleichen muffigen Jackett herein. Eine Frau, die sich und ihre Ideale schätzungsweise schon vor zwanzig Jahren aufgegeben hat und nur noch auf den Ruhestand wartet. Sie macht sich nicht mehr die Mühe, um unsere Aufmerksamkeit zu betteln. Sie zieht ihr Ding durch und wer nicht mitmacht, bekommt eben eine schlechte Note. Verständlich und allemal besser als vor einer Horde arroganter Jugendlicher die Entertainerin zu spielen. Ich beteilige mich grundsätzlich nicht am Unterricht und höre nur selten zu. Aber am Abend vor den Klassenarbeiten schaffe ich mir den Stoff der letzten Wochen drauf und schreibe dann meist eine Zwei - ich glaube, das respektiert sie irgendwie.
Noch in das Gerede der anderen gibt Frau Maisch mit leiser, monotoner Stimme ihre Anweisungen. »Sucht bitte aus mindestens fünf verschiedenen Medien jeweils eine aktuelle Schlagzeile zum selben Ereignis heraus. Analysiert die Berichterstattung in Bezug auf folgende Aspekte: .«
Ich beginne auf meinem Laptop durch die aktuellen Meldungen zu scrollen:
Keine Einigung auf Klimaziele: Wissenschaftler sind alarmiert --- Heiße Höschen: Diese Spielerfrauen können sich sehen lassen --- Wachsende Armut: Wirtschaftskrise verschärft soziale Ungleichheit
»Erstens: Wie wird das Ereignis dargestellt?«, fährt Frau Maisch fort.
Müssen wir jetzt Angst vor der Atombombe haben? Wie unberechenbar ist Russland? --- Star-Regisseur wehrt sich: »Habe keine Angst vor #metoo-Mäuschen« --- Börsen-Expertin: Mit ETFs zum Giga-Gewinn
»Zweitens: Welche Sprache und welche Stilmittel werden dabei verwendet?«
Da hüpfen die Bälle: So sexy kann Tennis sein --- Wegen schlechter Note: Schüler geht mit Messer auf Lehrerin los --- Eskalation der Gewalt in Konfliktregion: Humanitäre Unterstützung gefordert
»Und drittens: Welche Position, welche Perspektive nimmt das Medium ein? Lässt sich eine Tendenz erkennen?«
Netzwerk des Hasses: Rechtsextremismus breitet sich online aus --- Gender-Gaga und Woke-Wahnsinn: Wo ist die Grenze? --- Discounter-Hühner: Verweste Tiere auf Geflügelhof
»Ihr habt 15 Minuten Zeit, danach sprechen wir gemeinsam darüber.«
Die Unterhaltungen sind verebbt. Fast alle schauen auf ihre Bildschirme und machen sich Notizen. Ich dämmere vor mich hin und sehne das Wochenende herbei. Morgen werde ich wie jeden Freitag nach der Schule in den Supermarkt gehen, wo ich alles in den Einkaufswagen schmeiße, worauf ich spontan Lust habe. Chips, Eis, Schokolade, Tiefkühlpizza. Ich schleppe volle Plastiktüten nach Hause und dann passiert endlich - nichts. Ich habe zweieinhalb Tage, an denen ich absolut nichts tu, außer Serien oder Trash-TV zu streamen. Ehrlich gesagt sehen meine Nachmittage unter der Woche auch nicht großartig anders aus. Aber am Wochenende ist es deutlich entspannter. Zumindest bis sich am Sonntag nicht mehr verdrängen lässt, dass es schon am nächsten Morgen wieder vorbei ist mit der Ruhe und dem Frieden. Meine Mutter meint, dass ich sonntags so deprimiert bin, weil ich zu wenig rausgehe und nicht genug mit anderen Leuten unternehme. Dabei ist es genau umgekehrt - wäre ich am Montag nicht gezwungen, rauszugehen und andere Leute zu treffen, wäre ich wesentlich besser drauf.
»Alex, ordne bitte die Überschriften ein«, sagt Frau Maisch gerade und zeigt auf das Smartboard hinter sich, auf dem jetzt mehrere Artikel zu sehen sind.
»Also bei der letzten Headline merkt man natürlich, dass das so ein linkes Blatt ist«, sagt Alex und lacht mit Cedric, der neben ihm sitzt, in dummer Einigkeit. Alex hat immer dieses spöttisch herablassende Grinsen im Gesicht, als würde er über allem stehen. Er will zwar ein hervorragendes Abizeugnis haben, klar, alles andere wäre unter seiner Würde. Aber eigentlich ist er zu gut, um bei dem Bums hier überhaupt mitzumachen.
»Mein Vater bringt mich eh in die Firma rein«, hat er neulich getönt, als ich auf dem Schulhof an ihm und seinen Leuten vorbeigegangen bin. Alex' Eltern sind reich, so wie die fast aller hier. Gute Noten braucht es nur, um die Eitelkeit zu befriedigen. Wer einmal in den höheren Kreisen ist, der bleibt drin, der wird schon untergebracht. Und der scheint ganz selbstverständlich anzunehmen, auch ein Anrecht darauf zu haben.
Isabelle hat mir einmal in der Sportumkleide mit Blick auf meine Oberschenkel empfohlen, »auch privat etwas auf meine Fitness zu achten«. Sie steht jeden Morgen um 5:30 Uhr auf und schwimmt eine Stunde im Pool. Im Pool! Dem Pool, der zu ihrem Haus gehört. Für die meisten auf meiner Schule ist es nichts Besonderes, ein Haus zu haben. Mir reicht die kleine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung vollkommen, in die Mama und ich vor sechs Jahren gezogen sind, nachdem mein Vater weg war. Die Leute hier sind doch nur wohlstandsverwahrloste selbstverliebte Snobs.
Jetzt starrt Alex mich an und ich merke, dass mein Gesichtsausdruck meine Gedanken gerade vermutlich ziemlich akkurat widerspiegelt.
»Oder was denkst du, Jella?«, fragt er laut.
Frau Maisch schaut aufrichtig überrascht, so als würde sie wirklich annehmen, dass ich plötzlich etwas beitragen möchte.
Keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Ich räuspere mich und richte mich langsam auf.
»Alex .«, sage ich. »Ich denke, du hast recht, so wie du immer recht hast. Ich denke, du hast qua Geburt ein Recht darauf, immer recht zu haben. Und ich denke, dass du dich gerade mit linken Medien vermutlich ganz hervorragend auskennst.«
Flüstern und Kichern.
Alex' einfältiges Grinsen, das, während ich gesprochen habe, einen leicht verwirrten Einschlag bekommen hat, verschwindet. »Was hat die denn für ein Problem?!«
Frau Maisch seufzt. »Jella, was meinst du denn? Würdest du den Artikel anders einordnen?« Ich sehe die Resignation in ihren Augen und weiß, dass auch sie lieber ganz woanders wäre.
»Nein, nein«, murmle ich und schaue nachdrücklich aus dem Fenster.
Glücklicherweise bohrt sie nicht weiter, sondern nimmt Ellen dran. Ich hasse es nicht nur, im Mittelpunkt zu stehen - ich hätte tatsächlich auch nicht besonders viel zu ihrer Frage sagen können. Natürlich habe ich einen groben Überblick über alles, aber es ist nicht so, dass ich die Nachrichten verfolge. Im Gegenteil, ich habe eher das Gefühl, sie verfolgen mich und ich versuche, ihnen auszuweichen. Bildschirme, Lautsprecher, Titelseiten, von überall wird es einem entgegengeschrien. Ja, wir haben es langsam verstanden! Die Welt ist kaputt, die Klimakatastrophe nicht mehr aufzuhalten und narzisstische, moralisch verkommene alte weiße Männer haben die Macht, alles in die Luft zu sprengen. Die einen haben nicht mal genug zu essen, die anderen scheißen drauf und schießen Raketen in Penisform ins Weltall, und alles ist wahnsinnig kompliziert und eh nicht zu ändern.
Ich wüsste ehrlich gesagt nicht, wozu ich mich damit noch weiter beschäftigen sollte. Niemand hätte etwas davon, es würde mich bloß fertigmachen. Ganz ehrlich: Wenn man sich nur einmal die Nachrichten anschauen und das Ganze wirklich an sich ranlassen würde, könnte man das doch gar nicht aushalten. Oder wenn man einmal nicht verdrängen würde, was vor weniger als hundert Jahren genau hier in Deutschland passiert ist, wenn man alle Gefühle zulassen würde - man könnte doch nicht mehr weiterleben.
Ich versuche, das meiste von mir wegzuhalten und irgendwie auf Autopilot zu laufen. Es gibt seltene Augenblicke, in denen mir das nicht...