Schweitzer Fachinformationen
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Diese verdammten Idioten, allein schon, wie sie da saßen. Die Frauen mit rotem Lippenstift, die Männer in schwarzen Mänteln. Die aufgesetzten ernsten Gesichter, die leeren Blicke. Die Hände, die rhythmisch klatschten. Die Pseudo-Insider, die sich mit geschlossenen Augen auf ihren Plätzen leicht vor- und zurückwiegten, als wollten sie zeigen, dass sie - im Gegensatz zum Rest des Publikums - in die Musik eintauchten.
In Augenblicken wie diesem, wenn das grelle, auf die Bühne gerichtete Licht kurz ausging und sie selbst mehr von dem Saal sah, ließ Marta Tverberg den Blick gern über die Menschen unten in den vorderen Reihen schweifen. Vielleicht wurde sie langsam alt und gebrechlich, doch ihre Augen funktionierten noch einwandfrei.
Sie sah alles.
Sie sah den Bürgermeister in einem Anzug, der eigentlich hätte gebügelt sein sollen, und einem Hemd, das über dem Bauch spannte, wie er sich nach Hause in seine Sofaecke und nach einer Schale mit Süßigkeiten sehnte, die sicherlich das ganze Wochenende bereitstand und ständig von seiner Frau neu aufgefüllt wurde.
Sie sah den stolzen, aber nervösen Blick des Festivalleiters unter den braunen Locken, wie er ihren Blick suchte und aufmunternd lächelte wie ein gehorsamer Hundewelpe.
Sie sah all die Freaks, die vor dem Konzert zu viel Rotwein getrunken hatten und schliefen.
Marta wartete, bis der Applaus verstummt war, bevor sie die Lippen noch einmal an das Mundstück des Tenorsaxophons legte. Das Licht funkelte auf dem Messing und ließ das Horn glänzen. Hinter ihr rasselten die Trommeln, sie hörte, wie der Bass einsetzte, bevor die sanften Töne, die sie geschrieben hatte, aus dem großen Flügel strömten. Wenn sie genauso reibungslos zum Ende kamen, hatte sie nicht den geringsten Zweifel, dass diese Auftragskomposition als eine der hervorragendsten und am besten ausgeführten in die Geschichte von Vossa Jazz eingehen würde. Das Stück war wahrhaftig das beste, das sie während ihrer ganzen Karriere komponiert hatte.
Und zwar in gerade mal sieben Monaten.
Allein das war historisch.
Gewöhnlich brauchten Musiker mindestens ein Jahr für diesen prestigeträchtigen Auftrag, das wusste sie, manche sogar zwei. In Rekordzeit hatte sie Jazzmusik der Weltklasse geschaffen. Von diesem klassischen, grandiosen Instrumentalstück erwartete sie sich die ganz große Anerkennung.
Der Chor der Unzufriedenen würde seine Worte zurücknehmen müssen.
Selbstverständlich hatte sich niemand dazu geäußert. Sie hatten nicht den Mumm, ihr auch nur ein Wort ins Gesicht zu sagen. Aber sie hatte das Gerede natürlich mitbekommen. Die Diskussionen. Wie sie über sie hergezogen waren. Zuletzt gestern bei der Probe, als sie die letzten kosmetischen Änderungen an dem Plan für die Aufführung vorgenommen hatten. Sie war auf der Toilette gewesen, als sie draußen Stimmen gehört hatte.
»Jetzt bleibt nur noch abzuwarten, ob ihre Lungen das mitmachen«, hatte ein Mann gemurmelt.
»Ich finde es viel interessanter, ob ihr Gesicht das mitmacht«, hatte der andere gesagt. »Ihre Botox-Fratze dürfte im Scheinwerferlicht doch ständig Gefahr laufen, aufzuplatzen.«
Der Erste hatte gekichert und noch hinzugefügt: »Ich habe gehört, dass sie im Nacken Gaffatape benutzt, damit ihr Hals auf den Bildern straffer aussieht.«
Sie war wütend hinausgestürmt, sobald sie drinnen fertig gewesen war, doch da waren sie bereits verschwunden. Waren das die Typen von Voss Lyd? Während der intensiven Probetage hatten nicht so viele Zugang zum Olavsaal, eigentlich nur die Tontechniker, die Musiker, der Produzent und ein paar ausgewählte Journalisten. Sie fragte sich immer noch, wer das gewesen war, der so etwas über sie gesagt hatte, denn die Kommentare nagten noch an ihr. Am ärgerlichsten war, dass sie jetzt wieder auftauchten, wo sie sich auf ihr Spiel konzentrieren sollte. Zum Glück war ihr diese Musik so vertraut, dass sie wie auf Autopilot spielen konnte, oder als spielte ein anderer für sie. Plötzlich sorgte sie sich, dass einer der Journalisten genau das in seiner Besprechung schreiben könnte, nämlich dass sie nicht im Augenblick anwesend war.
Sie versuchte, sich wieder zu fokussieren, doch alles fühlte sich plötzlich falsch an.
Was war es schlussendlich wert, hier zu stehen und sich in dem sogenannten Glanz zu sonnen? Müsste das, worauf sie so lange gewartet hatte, sich nicht bedeutender und wichtiger anfühlen? Sie, deren Tourneen sie rund um die Welt geführt hatten, die vor Präsidenten und Königshäusern gespielt und Konzerte in der Royal Albert Hall und in der Oper in Sydney gegeben, aber noch nie die Auftragskomposition für Vossa Jazz komponiert und aufgeführt hatte. Warum war sie von diesem Auftrag in ihrer kleinen Heimatstadt regelrecht besessen gewesen?
Vielleicht, weil es so lächerlich lange gedauert hatte, bis man sie gefragt hatte. Vielleicht, weil ein Mann ihr all die Jahre Knüppel zwischen die Beine geworfen hatte.
Sie hatte trotzdem auf seiner Beerdigung gespielt. Es hätte seltsam ausgesehen, hätte sie das nicht getan. Und in der vollen Kirche war es trotz allem schön gewesen, ihm die letzte Ehre zu erweisen. Sie hatte sogar eine weiße Rose auf seinen Sarg gelegt, als sie zu Ende gespielt hatte.
Kurz darauf war der Anruf gekommen, auf den sie seit den Achtzigern gewartet hatte.
Aber jetzt, wo sie hier stand und endlich die volle Kontrolle hatte, schien das alles nichts mehr zu bedeuten.
Doch.
Es bedeutete etwas.
Sie fühlte sich mächtig und sinnlich in dem Rauch, der sie und die anderen Musiker umhüllte. Der Blick des Ortes ruhte auf ihr. Vielleicht sahen die Männer keinen Grund mehr, sich zu ihr hingezogen zu fühlen, vielleicht betrachteten noch mehr sie als Botox-Fratze, doch wenn sie keinen Respekt vor dem hatten, was sie machte, davor, wer sie war, dann machte sie das wütend.
Sie war Marta Tverberg, die Jazzdiva.
Und jetzt würde sie ein ernstes Wort mit diesen Idioten reden.
Während der Applaus wie eine Welle durch den Raum schwappte, legte sie das Instrument zur Seite. Trat direkt vor das Mikrophon.
Das Herz schlug hart in ihrer Brust.
Sie fühlte sich sehr viel wohler, wenn sie spielte, als wenn sie redete.
»Liebes Festivalpublikum. Lieber Bürgermeister. Liebe Vosser«, sagte sie, bevor ihr Blick über die Versammlung schweifte, die sofort aufmerksam und erwartungsvoll zu ihr aufsah.
»Was für verdammte Idioten ihr doch seid.«
Agnes Tveit liebte Vossa Jazz.
Wäre da nur nicht die Musik gewesen.
Irgendetwas war mit dem Jazz, das sie nicht zu fassen bekam. Selbstverständlich verstand sie, dass die Leute sich alte Legenden wie Billie Holiday und Louis Armstrong anhörten, aber moderner Jazz oder - o Schreck, o Graus - Freejazz. Das waren entweder endlose und richtungslose Instrumentalsoli, bei denen sie Schwierigkeiten hatte, nicht einzuschlafen, oder ein hektisches, abgehacktes und disharmonisches Musikinferno.
So wie jetzt.
Der Klang des Saxophons versuchte seit über einer halben Stunde, sie in den Schlaf zu lullen. Sie unterdrückte ein weiteres Gähnen, indem sie sich zu ihrer Tasche hinunterbeugte und diskret einen Blick auf ihr Handy warf, um zu sehen, wie viel Zeit vergangen war. Die Auftragskomposition sollte nicht länger als eine gute Stunde dauern, doch ihr kam es vor, als säße sie bereits drei Stunden hier. Vielleicht, weil sie auch bei den Proben dabei gewesen war. Genau genommen hatte sie sich diese gottserbärmlich langweilige Musik die letzten drei Tage fast ununterbrochen angehört, doch im Gegensatz zu anderer Musik, die sie so oft hörte, blieb ihr diese nicht im Kopf. Gott sei Dank.
Marta Tverberg hatte nie besser ausgesehen, das musste man ihr lassen. In ihrem bodenlangen königsblauen Kleid mit dem glitzernden Muster und der kleinen Schleppe sah sie genau wie der Star aus, der sie war. Leider genügte ihr Anblick Agnes nicht, die Augen offen zu halten.
Das Einzige, was half, war der Gedanke an Essen. Sie versuchte, das Kebab zu visualisieren, das sie sich einverleiben würde, sobald sie wieder draußen war. Sie musste nur die Treppe hochgehen, aus der Tür schlüpfen und die Straße überqueren, dann warteten saftiges Fleisch, weiches Brot und eine scharfe Sauce auf sie. Sie meinte, den Duft der Gewürze bereits riechen zu können. Nach dem feuchtfröhlichen gestrigen Tag verlangte ihr Körper verzweifelt nach Fett und Kohlehydraten.
Der gestrige Abend war bis auf eine Ausnahme - das Zusammentreffen mit Tor Erik Åkervold - grandios gewesen. Plötzlich hatte er vor ihr gestanden, der aufgeblasene VG-Journalist, den sie nicht mehr gesehen hatte, seit sie im vergangenen Sommer beschämt sein Hotelzimmer verlassen hatte.
»Was, zur Hölle, tust du hier?« Es war ihr so herausgerutscht, obwohl er ihr vor einigen Wochen eine kryptische SMS geschickt hatte, dass er sich auf das Festivalleben im Vestland freue.
Åkervold grinste und hielt zwei Halblitergläser hoch.
»Ich trinke Bier!«, rief er in seinem nasalen südnorwegischen Dialekt, um den Lärm im Raum zu übertönen. »Und ich höre Jazz. Du hast vielleicht nicht gewusst, dass ich ein begnadeter Gitarrist bin? Oder hast du das an der Art erkannt, wie ich . letztes Mal deine Saiten gespielt habe?«
Der Mann mit dem glatten Äußeren, das Agnes immer an eine Ken-Puppe erinnerte, zwinkerte ihr zu. Sie blickte mit steinerner Miene zurück. Wenn Åkervold gewusst hätte, was alles seit der fatalen Nacht passiert...
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