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Ich hätte gerne Geschwister gehabt. Ich stelle mir vor, Geschwister könnten helfen, die Brocken des Erwachsenseins, die Eltern ihren Kindern auftischen, untereinander aufzuteilen und klein zu schneiden, sodass man sich nicht daran verschluckt.
Christian Dittloff
Es war 1999, du warst nicht weg, du bräuntest dich nicht in der Südsee, du verbrachtest die Sommerferien, die zwischen Grundschule und Gymnasium lagen, zu Hause und hattest viel Zeit, dir das große rote Backsteingebäude vorzustellen, in dem aus dir nun was Besseres werden würde, wie deine Großmutter bemerkt hatte. Du wusstest nicht, besser als wer, was oder wann du werden solltest, aber du wusstest, dass nachfragen die Sache nicht erhellen würde. Entsprechend viele Fingernägel kautest du dir in der Nacht vor dem ersten Schultag am Gymnasium ab, nämlich alle.
Zu Terminen am Vormittag kam deine Mutter grundsätzlich zu spät, was abwechselnd an den Nachtschichten in der Wäscherei und an durchzechten Nächten in Kneipen lag, die der Einfachheit halber auch Nachtschichten genannt wurden. Im Kindergarten hattest du als Erstes das Lesen der Uhr gelernt, um sie zur Pünktlichkeit mahnen zu können, denn wer zu spät kam, musste bis zum Ende des Morgenkreises draußen warten.
An deinem ersten Tag am Gymnasium setzte sie dich pünktlich um 7:50 Uhr an der Schule ab - allerdings zwei Tage zu spät. Wie sich herausstellte, war nicht Montag, sondern schon Mittwoch. Der Fehler lag dummerweise bei dir: Als deine Mutter eine Woche zuvor nach dem Wochentag gefragt hatte, hattest du auf deine neue Casio-Uhr geschaut und Thursday mit Tuesday verwechselt. Dass sich deine Mutter in solchen Dingen auf ihre zwölfjährige Tochter mit mangelhaften Englischkenntnissen verließ, erklärt alles, was man wissen muss, um zu verstehen, wie du zu einem sehr gut organisierten Kind wurdest, das Uhren, Kalender und Listen liebte.
In der dritten Klasse hattest du deinen ersten Freund, er hieß Rico, und jeden Nachmittag seid ihr auf den Mauervorsprung hinter der Kantinenbaracke geklettert, um euch dort kurz und unbeobachtet auf den Mund zu küssen. Du führtest eine Liste, die du mit Küsschenliste überschriebst und in der du hinter jedem Wochentag ein Häkchen oder ein Kreuz setztest, je nachdem, ob ihr euch geküsst hattet oder nicht. Aus Scham - ob für die Küsse oder die Liste, kannst du nicht mehr sagen, du erinnerst dich nur an das Gefühl - hast du sie später in kleine Fetzen gerissen. Heute ist dir schleierhaft, wozu diese Liste gut gewesen sein soll. Von ihr ist nur die anekdotische Symbolhaftigkeit geblieben, die für das Ordnungssysteme aller Art liebende Kind steht, das du einmal gewesen bist.
Du kamst also zwei Tage zu spät und bekamst einen Platz ganz vorne zugewiesen, an jenem Tisch, der direkt an das Lehrerpult grenzte, wo du banknachbarlos die ersten drei Schultage verbrachtest. Max allerdings toppte deine Verspätung. Seine Mutter hatte ihn eine Woche lang zur falschen Schule gefahren, was erst auffiel, als ein krank gewesener Max dort auftauchte und es entgegen der Klassenliste plötzlich zwei Mäxe gab. Der falsche Max kam, wie ursprünglich vorgesehen, in deine Klasse und wurde auf den letzten freien Platz neben dich gesetzt. Vom Schulleiter bekamt ihr Briefe für eure Mütter ausgehändigt, in denen er sie freundlich an die allgemeine Schulpflicht erinnerte, wobei er von einer Meldung ans Jugendamt absehen wollte, sofern sich derlei nicht wiederholte. Ihr last die Briefe in der Pause, saht euch kurz an und warft sie wie auf ein geheimes Zeichen hin in den Mülleimer. Das schlechte Gewissen eurer Mütter hattet ihr bereits in etliche Kugeln Eis und Fernsehstunden verwandeln können, und das sollte mit der Absolution des Schulleiters nicht gleich wieder vorbei sein. Als ihr euch zu Beginn des zweiten Schulhalbjahres umsetzen durftet, wechseltet ihr in die hinterste Reihe, wo ihr die sieben Jahre bis zum Abitur nebeneinander sitzen bliebt.
Die Gemeinsamkeiten eurer alleinerziehenden Mütter erzeugten Gemeinsamkeiten bei ihren Kindern, und daraus erwuchs eine Solidarität, die die Grundlage eurer Freundschaft bildete. Allein erzogen zu sein bedeutet eine Zeitverschiebung, ein Früher als andere. Max und du, ihr konntet früher als andere ein Ei am Pfannenrand aufschlagen, bei einem Rohrbruch das Wasser abstellen, einen Fahrradschlauch flicken, Nägel feilen und Nächte durchmachen. Ihr wusstet früher als andere, dass man weiße T-Shirts besser nicht mit roten Strümpfen wäscht, dass Väter in Abwesenheit besonders glänzen, dass Lohnarbeit in keinem direkten Zusammenhang mit Wohlstand steht. Ihr musstet früher als andere Unterschriften fälschen und aus anderen Gründen: nicht weil ihr etwas zu verbergen hattet, sondern weil ihr eure Mütter nicht antraft. Ihr durftet früher als andere allein zum Bäcker, allein zur Schule, allein an den See. Einmal, am Rand eines Spielplatzes, hattest du den getuschelten Satz aufgeschnappt: Sie ist halt alleinerziehend. Du bezogst ihn auf dich und dachtest noch lange, alleinerziehend würde bedeuten, dass sich die Kinder allein erziehen.
Solange ihr Kinder wart, bedeuteten die Abwesenheiten eurer Mütter, dass ihr euch allein zu Hause gruseltet, aber als Jugendliche bedeuteten sie plötzlich, dass ihr tun und lassen konntet, was ihr wolltet. In einer Zeit, in der es gar nicht schnell genug gehen konnte mit dem Erwachsenwerden, bedeutete früher als andere einen Vorsprung, auf dem ihr euer Überlegenheitsbedürfnis aufbauen konntet. Ihr machtet euch lustig über Trinkpäckchen, eingeschlagene Schulbücher, Heimwehtränen auf Klassenfahrten, vom Friseur geschnittene Haare und Hausstauballergien. Ihr machtet euch lustig über gebügelte und zum Wetterbericht passende Kleidung, die davon zeugte, dass sie am Vorabend zurechtgelegt worden war. Ihr erfandet die Beleidigung Gummistiefelkinder für alle, die behüteter aufwuchsen als ihr und immer trockene Füße hatten. Eure Freundschaft fußt darauf, dass ihr keine Gummistiefelkinder wart und die Löcher in euren Turnschuhen zum symbolischen Beweis eurer Lebenserfahrung erhobt. Im Nachhinein lässt sich nicht mehr sagen, ob Shoppen nicht euer Hobby war, weil ihr es nicht mochtet oder weil es nicht im Rahmen eurer Möglichkeiten lag. Im Nachhinein lässt sich nicht mehr sagen, ob eure Verachtung der Gummistiefelkinder Angriff war oder Notwehr.
Im Nachhinein muss vor allem gesagt werden, dass die Unterschiede lächerlich waren im Vergleich zu denen, die ihr später in den westdeutschen Städten kennengelernt habt. Eure Elterngeneration hat in den 90er- und 00er-Jahren im Osten einen nahezu kollektiven sozialen Abstieg aufs Linoleum gelegt, weshalb alle Eltern hatten, die mehr mit Klarkommen als mit Kindererziehung beschäftigt waren. Ihr Kinder des postsozialistischen Ostens werdet die Generation der Unberatenen genannt. Untersuchungen haben euch lange pubertäre Latenzphasen, metaphysische Obdachlosigkeit und eine Anhänglichkeit an das Herkunftsmilieu attestiert. Ihr habt nichts dagegen vorzubringen. Die Beleidigung Gummistiefelkinder verwendet ihr bis heute. Seit eurem Studium in den westdeutschen Städten meint ihr damit allerdings eher jene mit einem leer stehenden Kinderzimmer in einem Elternhaus, das tatsächlich ein Haus und keine Mietwohnung ist und das sie einmal erben werden.
Du glaubst übrigens, dass es mit eurer Freundschaft fast anders gekommen wäre. Max' Mutter ist nach ihm noch mal schwanger gewesen, entschied sich aber dagegen, das Kind zu bekommen. Es war 1990, draußen tobte die deutsch-deutsche Geschichte, drinnen tobte der dreijährige Max, und seine Mutter hatte schlicht keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Zu dieser Zeit ein Kind zu bekommen, schien vielen Frauen keine so clevere Idee zu sein, die Geburtenzahlen gingen Anfang der 90er im Osten um die Hälfte zurück. Das Phänomen hieß Geburtenknick und irgendwo in diesem Knick war auch jenes Geschwisterchen für Max verschwunden, das ihr euch beide, typisch Einzelkind, immer dann gewünscht hattet, wenn ihr euch langweiltet oder Streit mit euren Müttern hattet; es war der Wunsch nach jemand Verbündetem. Du hältst diesen unerfüllten Geschwisterwunsch für den Grund, weshalb eure Freundschaft über das hinausgeht, was man allgemein unter Freundschaft versteht und wofür dir und der Welt ein passendes Wort fehlt. Du meinst, dass ihr einander quasi die fehlenden Geschwister ersetzt und dass ihr vielleicht nicht oder nicht mehr oder nicht so eng befreundet wärt, wenn Max' Mutter das zweite Kind bekommen hätte. Max hingegen meint, dass du alles überpsychologisierst, seit du eine Therapeutin hast, ihr hättet euch einfach gut verstanden.
In fast allen Biografien von Bildungsaufsteiger:innen findet sich diese eine Figur, ohne die es wahrscheinlich nichts geworden wäre. Bei dir war das deine Klassenlehrerin in der Grundschule. Frau Bauers sozialistische Überzeugungen waren durch Mauerfall und Vereinigung nicht im Geringsten erschüttert worden, weshalb sie euch ungeachtet aller Lehrplanänderungen Pionierlieder beibrachte; das Lied gegen die Neutronenbombe kannst du heute noch auswendig. Außerdem betrachtete es Frau Bauer als ihre sozialistische Pflicht, Kindern von Arbeiter:innen zu höherer Bildung zu verhelfen. Sie war es, die dir eine Gymnasialempfehlung gab und deine Mutter davon überzeugte, der Empfehlung...
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