Schweitzer Fachinformationen
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Über das Ende der Nerven hinaus
Irgendetwas war da in der Wohnung, irgendetwas in der Luft, irgendeine geruchlose Ausdünstung, ein Spurenstoff, auf den er ein winziges Wenig allergisch reagierte. Dies zeigte sich in den nächsten Wochen immer deutlicher. Zehnmal und öfter schüttelte ihn jeden Tag eine gewaltige Eruption, die sich mit einem Kitzeln über seinem Gaumen ankündigte und mit gewaltigem Druck aus seinem Brustkorb durch Mund und Nase fegte wie der Überschallknall eines Düsenjets. Etwas Blöderes konnte er sich kaum vorstellen, aber er hatte keine Idee, wie er dieses Phänomen abschalten könnte.
Nachdem es am allerersten Morgen in der noch unerforschten Wohnung geläutet und ihn der Niesreiz im selben Moment gepackt hatte, war er in eine Art Starrkrampf verfallen und hatte, indem er beide Hände mit aller Kraft auf das Gesicht presste, den Niesanfall so lange zurückgehalten, bis er zu hören glaubte, wie sich eine Person im Treppenhaus entfernte. Nach oben oder unten - das konnte er nicht entscheiden, auf der Straße war niemand zu sehen gewesen, aber er wusste ja noch nicht, ob es einen Hinterausgang gab.
Jedenfalls hatte er sich, während er verkrampft und wie versteinert dastand, in die Hosen gepisst, was ihm zuletzt wohl im Alter von drei oder vier Jahren passiert war.
Er war ins Bad gewatschelt, hatte lange und gründlich geduscht, die Wäsche in einen Stoffbeutel gepackt, sich mit dem, was er im Schlafzimmerschrank fand, komplett neu angekleidet und begonnen, systematisch die Wohnung zu durchsuchen.
Mit einem alles andere als befriedigenden Ergebnis: Er stieß weder auf einen Mietvertrag noch irgendwelche Besitzurkunden. Er hatte also keine Ahnung, wem die Wohnung gehörte, die er übernommen hatte. Er wusste nicht, ob Krautwickel ein Fahrzeug besaß, er fand keine Unterlagen, die auf ein existierendes Bankkonto hingewiesen hätten. Keine Versicherungen - Haftpflicht, Rechtsschutz, Hausrat, Zahnersatz, Rundfunkgebühren -, nichts.
Und dann fiel es ihm auf: Es gab kein Telefon in dieser Wohnung, demzufolge auch keine Telefonrechnungen. Freilich, wenn der alte Krautwickel ein Handy besaß, was ja mittlerweile eher der Normalfall war, dann war das im verunfallten Zug geblieben. Der neue Krautwickel empfand einen kurzen Schreck bei dem Gedanken, dass die Polizei das Gerät finden würde, mit dessen SIM-Karte sich unter Umständen die Wohnung aufspüren ließe. Da er allerdings keine Unterlagen wie Verträge oder Rechnungen fand, verwarf er diese Möglichkeit schnell wieder.
Kein Telefon - das konnte seiner Meinung nach nur eines bedeuten: keine Verwandtschaft. Zumindest keine, mit der er regelmäßig zu tun hatte. Krautwickel erinnerte sich mit Grauen an die endlosen Telefongespräche seiner Frau mit ihrer Mutter. Nie war den beiden Frauen der Gesprächsstoff ausgegangen, ohne jede Hemmung waren sie hauptsächlich über ihn, aber auch über andere Menschen, die ihr Missfallen erregt hatten, hergezogen. Wenn man Verwandte hatte, brauchte man ein Telefon. Hatte man hingegen weder Kinder noch Eltern, die auf mit zwanghafter Regelmäßigkeit geführte inhaltsleere Gespräche Wert legten, bestand umgekehrt nicht die geringste Notwendigkeit nach einem privaten Fernsprechapparat. Nichts schien Krautwickel logischer zu sein.
Vielmehr glaubte er sich inzwischen schon so weit in den rätselhaften Bewohner der Saldorfer Straße Nummer fünf, zweiter Stock, eingefühlt zu haben, dass er es irgendwie wusste: Der alte Krautwickel hatte grundsätzlich nicht telefoniert, mit niemandem.
Unter dem Fotoalbum war die Wochenendausgabe vom Samstag, 10., und Sonntag, 11. September 1966 gelegen.
Krautwickel war - nein: Ich bin ein Sonntagskind, dachte er, als er kapierte, was er da las.
Schon immer hatte er sich gefragt, was da wirklich dahintersteckte, ein Sonntagskind zu sein. War es nicht so, dass der Volksglaube es als Zeichen für Glück und Erfolg im Leben deutete, wenn eines am Tag des Herrn geboren wurde? Nun - sein eigener Fall bestätigte diese Theorie nicht.
Es fand sich kein Hinweis, weshalb der alte Krautwickel die Zeitung aufgehoben hatte. Dem Papier nach war es eine Originalausgabe, die dünnen Blätter waren vom Licht vergilbt und spröde geworden. Diese Zeitung musste ihm wirklich etwas bedeutet haben, denn sie war einer der wenigen Gegenstände in der gesamten Wohnung, die etwas Persönliches ausstrahlten, etwas Intimes. Der neue Krautwickel entschied letztlich, dass sie irgendwann als originelles Geschenk dem alten Krautwickel zum Geburtstag überreicht worden sein musste.
Der neue Krautwickel hatte in seinem vorherigen Leben nie regelmäßig Presseerzeugnisse jedweder Art gelesen, da er die totale Austauschbarkeit der Berichte hasste. Schon lange meinte er erkannt zu haben, dass Zeitungen den Leser nicht informieren, sondern erregen sollen. Daher stellte, so glaubte er, eine erdrückende Mehrheit der Berichte die Wahrheit entweder stark verkürzt und verzerrt dar oder war schlichtweg völlig falsch. Ihr eigentlicher Zweck war es, so seine Überzeugung, die Menschen dumm zu halten, damit sie sich willfährig der Clique der Mächtigen unterwarfen. Und dumm hält man Menschen am besten, indem man sie glauben macht, sie wüssten alles. Dann genießen sie es, sich über alles und jeden aufzuregen, sind davon überzeugt, in jedem Belang besser Bescheid zu wissen als der Rest der Welt. Ohne dass zu jener Zeit schon flächendeckend von »fake news« oder »Systemmedien« gefaselt worden wäre, hätte er damals schon uneingeschränkt zugestimmt.
Wenn seinem früheren Ich doch zufällig eine Zeitung unter die Finger gekommen war, hatte er immer mit großer Aufmerksamkeit den Lokalteil gelesen - dieser bedeutete für ihn die einzige Daseinsberechtigung eines Blattes. Er liebte Berichte aus der näheren oder ferneren Nachbarschaft über Ereignisse, die er miterlebt hatte oder hätte miterleben können, und Menschen, die er kannte oder zumindest prinzipiell kennen könnte.
Auf Seite drei dieser Wochenendausgabe von 1966 wurde über eine Reise von General de Gaulle nach Tahiti berichtet, wo eine französische Atombombe gezündet werden sollte.
»Kalter Kaffee, Schnee von gestern«, schossen die Phrasen in Krautwickels Sinn. Er blätterte schnell weiter.
Zu seiner großen Zufriedenheit hatte es schon 1966 eine Mord-und-Totschlag-Seite gegeben. Sozusagen als krönenden Abschluss, die letzte Seite, die man, wenn man die Zeitung entsprechend geschickt aufklappte, als Erstes zu Gesicht bekam. In Nürnberg hatte ein geschiedener Bauarbeiter seine 36 Jahre alte Ex-Frau bedroht, geschlagen und gewürgt, ehe er sich an der Wohnzimmerlampe aufhängte. Eine 22-jährige Autofahrerin war im Landkreis Kronach von einem Zug getötet worden, weil ihr Auto mitten auf einem unbeschrankten Bahnübergang stehen geblieben war. Daneben zwei kleine Notizen aus dem Polizeibericht: In einem Bordell in der Vorderen Sterngasse war ein Freier durch eine Überdosis K.-o.-Tropfen zu Tode gekommen, eine Prostituierte aus der Südstadt und ihr Zuhälter wurden verdächtigt, den amerikanischen G. I. fahrlässig ermordet zu haben. Dann gab es noch einen Einbruch in einer Villa in Mögeldorf. Der »bekannte Nürnberger Industrielle Dr. Adolf Steinweiß« war »plötzlich und unerwartet« während eines Ferienaufenthalts in Österreich am Wolfgangsee verstorben. In Windsheim würde das Treffen einer SS-Gebirgsdivision allen Protesten zum Trotz stattfinden, und der Gasthof Linde in Stein-Oberweihersbuch empfahl in einer Anzeige »seine reichhaltige Speisekarte sowie das gute Siechen-Bier«.
Dann kam Krautwickel schlagartig in den Sinn, worüber heute und sicherlich auch an den folgenden Tagen berichtet werden würde: über ihn selbst, den Mann, der nichts ahnend in seinem Garten gestanden hatte, als ein Schnellzug verunfallte, und von einem herumfliegenden Trümmerteil grausam getötet worden war; auf seiner Lieblingsseite würde über ihn geschrieben werden: den braven Ehemann und Vater, den es »plötzlich und unerwartet« aus dem Leben gerissen hätte.
Er seufzte tief bei diesem Gedanken und schüttelte den Kopf. Seine Hand fuhr ihm ganz von alleine durchs Haar, strich über den Nacken und landete am Kinn, wo sie anfing, die Stoppeln, die seit vier Tagen ungestört vor sich hin wuchsen, zu kratzen. Eieieiei, dachte er, aber ändern konnte er das nicht mehr, er würde es einfach akzeptieren müssen.
Angewidert klatschte er die Zeitung auf den Tisch, und um sich mit einer anderen Beschäftigung abzulenken, meditierte er anschließend lange Zeit über die beiden Schlüssel, die der alte Krautwickel vor seinem Unfalltod in der Kassette bei dem Geld verwahrt hatte. Sie schienen ihm dementsprechend von großer Bedeutung zu sein, sein Pech nur, dass der Tote auch in dieser Hinsicht seine Dokumentationspflicht vernachlässigt und nicht den geringsten Hinweis hinterlassen hatte, wie die Schlüssel am sinnvollsten zu nutzen waren.
Der Tote hatte nicht nur keinen einzigen Kontoauszug und keinen Mietvertrag, sondern auch keinen Tee zu Hause. Krautwickel fand weder Teebeutel noch lose Blätter noch eine Teekanne. In Burgthann hatte man ausschließlich Tee getrunken, doch der Tote schien einer Leidenschaft für italienischen Espresso gefrönt zu haben, denn in der Küche standen vier Exemplare der typisch italienischen, aus Aluminium gepressten Espressomaschinen in verschiedenen Größen.
Übermütig machte er sich daran, den kleinsten dieser Apparate, von denen er noch nie einen selbst in der Hand gehalten hatte, zu befüllen. Dabei kam ihm die Tatsache zu Hilfe, dass der alte Krautwickel, ehe er den Zug nach Wien bestiegen hatte, die Überreste...
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