Schweitzer Fachinformationen
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Das aufgeregte Wiehern der Klagerösser klang noch immer in seinen Ohren, der gleichförmige Schritt der vermummten Sargträger pochte in seinem Inneren, und das Echo des Singsangs aus über 7000 Kehlen ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Verzweifelt presste er seine schmalen Lippen zusammen, dass sie so weiß wurden wie seine zarte Haut. Seine blonden Locken klebten ihm verschwitzt im Nacken und gaben ihm das Aussehen eines kleinen Jungen, der, erhitzt vom Herumtollen, eine kurze Rast einlegt. Obwohl er nun schon 17 Lenze zählte, sah er bedeutend jünger aus und er wirkte verletzlicher, als es bei einem Jüngling seines Alters üblich war. Seine knochigen Knie schmerzten, und seine hellgrauen Augen tränten vom Rauch der unzähligen Kerzen, die das Innere der Sankt-Peter-und-Paul-Kirche erhellten. Kurz hob er seinen vor Müdigkeit schweren Kopf und horchte auf das Mitternachtsgebet, die Matutin, das die Geistlichen eben anstimmten. Noch ganze sechs Stunden bis zur Prim, bis sich der Leichenzug wieder in Bewegung setzen würde! Sein Blick fiel auf die Regenmadonna, das Gnadenbild, zu dem alle beteten, wenn Dürre die Ernte zu vernichten drohte, und dann schaute er gleich wieder auf den aufgebahrten Leichnam, vor dem er nun schon seit Stunden kniete. Ein grimmiges Lächeln umspielte seine Lippen, denn größer konnte der Gegensatz wohl kaum sein: Die stillende Muttergottes mit ihrem nackten Busen einerseits und die eingefallenen Wangen des Toten andrerseits, umkränzt von Symbolen der Macht. Leben und Tod, Geburt und Sterben, zusammengepfercht auf wenige Zoll. Beschämt über seine unziemlichen Gedanken lehnte er die heiße Stirn in seine verschränkten Finger, die gepflegt und samtweich noch für keinerlei körperliche Arbeit herhalten mussten. Ein Kälteschauer ließ ihn erzittern, wenn er an die nächsten Tage dachte, wo der Leichnam weitergeschleppt werden würde. Von der Prager Hochburg zum Konvent des Heiligen Jakob, von dort in die Johanniterkirche und dann zum Veitsdom, wo bereits der Erzbischof und sieben weitere Bischöfe warteten, um die sterblichen Überreste in einer pompösen Zeremonie in Empfang nehmen zu können. Viel Vergnügen dabei, dachte er grimmig, denn nach den vergangenen 15 Tagen Trauerzeremoniell hatte der Leichnam, obwohl gewaschen, von Herz und Eingeweiden befreit und einbalsamiert, schon einen sehr eigentümlichen Geruch angenommen. Genauer gesagt bereitete dem Knienden der Verwesungsgestank, der sich im kerzenerhellten Inneren der Kirche nur umso schneller seinen Weg bahnte, bereits Brechreiz. Kurz hob er wieder seinen Kopf, um etwas durchzuatmen, und konnte gerade noch die Umrisse zweier hoher Herren ausmachen, die sich demütig dem Aufgebahrten näherten. Schnell senkte er wieder den Blick auf seine gefalteten Hände, denn alles andere käme einer Verhöhnung des Toten gleich und würde, von Hunderten von Augenpaaren beobachtet, hämischen Gesprächsstoff für Wochen geben. Aber das würde ihm nicht passieren, denn er wusste genau, wie er sich zu benehmen hatte, was von ihm verlangt wurde, und an erster Stelle stand der uneingeschränkte Respekt vor dem, der da lag und vor sich hin stank. Doch der kurze Blick auf seine französische Verwandtschaft, die sich näherte, um dem Verstorbenen ihre Referenz zu erweisen, reichte völlig, um ihn gedanklich in den vergangenen Sommer zu tragen, in den unermesslich großen Park, die acht voneinander getrennten Gärten, die Menagerie, die Volieren und Aquarien. Dorthin, wo einst Ludwig der Heilige seine Burg baute, war er an der Seite seiner beiden Vettern durch die neu errichteten Räume mit kostbaren Hölzern, Malereien und Wandteppichen geschritten. Hier am Rande der Stadt Paris, deren von Gestank und Krankheit benetzten Arme die Idylle von Hotel Saint-Paul nicht erreichen konnten, fühlte er sich sicher und unbeschwert wie noch nie in seinem Leben. Er vergaß damals schnell, dass sie zu politischen Gesprächen angereist waren, dass die Polenfrage erörtert werden musste, die gegenseitige Wertschätzung erneuert und gesichert, all das trat in den Hintergrund, als er vor der Büchersammlung von Karl und Johann stand. Während er jetzt in der Kirche kniete, und die Nacht nicht enden wollte, während immer wiederkehrende Gesänge der Nonnen und Mönche an sein Ohr drangen, trugen ihn seine Gedanken mit aller Kraft und Herrlichkeit in die Bibliothek des Königs von Frankreich. Er konnte ihn direkt erschnuppern, den süßen Duft der Ledereinbände. Er konnte das vornehme Knistern des Pergaments hören, die Erhabenheit der goldunterlegten Malereien an seinen Fingerkuppen spüren und die gestochen schwarzen Buchstaben mit seinen Augen gierig aufsaugen. Als wäre er gestern erst im warmen sonnenbeschienenen Frankreich gewandert und nicht auf der Brücke über die dezemberkalte und graue Moldau inmitten des Leichenzuges dahin getrottet, so unmittelbar und intensiv war die Erinnerung an diese kostbare Zeit. Den Kopf tief gesenkt, stöhnte er, nicht aus Gram und Kummer, wie die Umstehenden durch bedächtiges Kopfnicken und mitleidige Blicke zu bemerken schienen, sondern aus purer Lust. Das Gedenken an die kostbaren Stundenbücher Johanns, des Herzogs von Berry, trieb ihm einen wohligen Schauer über den Rücken. Diese Horarien, die für jede dritte Stunde des Tages Merkverse und Gebete in prächtigster Schrift und ausdrucksvollsten Illustrationen bereithielten, waren das Schönste, was er bisher an Kunstvollem gesehen hatte. Noch bedeutungsvoller war es für seine junge Seele, dass die Liebe zu den Büchern ein Vertrauen zu seinen Anverwandten schaffte, das er bislang in Hofkreisen vermissen musste. Karl, der König, und Johann, der Herzog von Berry, waren genauso bezaubert und hingerissen von den kostbaren Handschriften wie er selbst. Unermüdlich erklärten und beschrieben sie einander das, was das feine Pergament ihnen offenbarte: die Farbigkeit der Miniatur, den Kontrast der Goldtöne, die aufgesetzten Weißhöhungen und das unendlich tiefe Blau des Hintergrundes. Sie betrachteten es als ergötzliches Spiel, all die Andeutungen aufzudecken, die die geknoteten Tücher, Spruchbänder und Randfiguren demjenigen eröffneten, der die Symbole zu deuten verstand. Hier ein Anfangsbuchstabe des Stifters, dort ein kleiner Vogel auf einer Ranke aus weißen Lilien. Es war wie Rätselraten, aufregend und amüsant und sehr befriedigend, wenn sich all die Anspielungen, der Text und die Illustration zu einem Ganzen formten. Es schien, als ob die abgebildeten, kunstvoll verknoteten Tücher auch die drei Seelen verbinden würden und sie in ihrer innigen Liebe zu den Büchern einem Minneknoten gleich in ewiger Freundschaft vereinten. Berauscht von der Erinnerung hob er leicht seinen Kopf und versuchte, sie auszumachen in der Schar des Klerus und der Höflinge. Hier unter den allerhöchsten Gästen, denen die Ehre der Totenwache in vorderster Reihe zuteil wurde, mussten sie sein, seine Bücherfreunde. Heiße Freude stieg von seiner Brust auf und prickelte auf seiner Kopfhaut, als sich endlich seine Blicke geradewegs mit denen des Herzogs von Berry, seinem Vetter Johann, kreuzten. Kindlich naiv wollte er da weitermachen, wo sie unter der französischen Sonne geendet hatten, in schönen Handschriften blättern und sich an der Kunstfertigkeit in einem intellektuellen Spiel erfreuen, vereint und heiter. Umso unerwarteter und härter traf ihn dessen Mienenspiel bis ins Mark. Keine Freude des Wiedersehens, sondern Habgier, nicht Besorgnis über den Tod, sondern blanke Gewalt, nicht Toleranz mit der Jugend, sondern Rebellion sah er im Antlitz seines Verwandten. Da legte sich die Gewissheit, dass nichts mehr so sein würde wie bisher einem schweren Leichentuch gleich auf seine federleichte Seele und erdrückte sie. Denn wie die Aasgeier warteten sein Vetter und all seine Mitstreiter darauf, dass sie sich einen großen Brocken des reichen Erbes für sich selbst sichern konnten. Um ihn, den kunstsinnigen Jüngling, ging es längst nicht mehr, er war nur der, der ihnen kurzzeitig im Weg stehen würde. Da barst etwas in seiner Brust, die Erschütterung drang bis in die kleinste Ader vor, umspülte seinen Kopf, lähmte kurz all sein Denken. Aber er verstand und blickte angeekelt in die entstellten Gesichtszüge der Leiche, in der noch vor etwas mehr als zwei Wochen das Herz eines Löwen geschlagen hatte und unter dessen Schutz er seine ihm innewohnende Zartheit und Empfindsamkeit ausleben konnte. Nichts als eine graugrüne stinkende Hülle war übrig geblieben, verbrämt mit den Insignien des Herrschers des Heiligen Römischen Reiches. Und da sah er sich selbst knien, bar jedes Schutzschildes, ausgeliefert den Launen seiner Gegner, die keinen Augenblick zögern würden, ihn mit Waffengewalt und Intrige zu knechten. Nie wieder würde er sich seiner Liebe zu den Büchern so uneingeschränkt hingeben können wie bisher. Wenzel, Wenzel, du hast deine Liebe verloren, sie war der Preis für die Macht. Diese Einsicht traf ihn mit aller Wucht, und tief in seinem Inneren riss das zarte Band seiner Seele in einem qualvollen Schmerz entzwei, und er weinte laut und hemmungslos über das Bild, das sich vor seinem geistigen Auge auftat. Die losen Enden des gesprengten Liebesknotens baumelten verwirrt umher. Aus einem Ganzen waren zwei Hälften geworden, die nicht zueinander passten, die sich ewig bekämpfen und nicht mehr finden würden. Krieg um ihn herum, Rebellion und Blut, aber – was viel schlimmer war – erbitterter Kampf auch in seinem innersten Wesen, der ihn einmal in diese und einmal in jene Richtung taumeln lassen würde. Kein festes Band würde ihm helfen, kein sicherer Knoten Halt geben. Langsam und stetig war König Wenzel, Herrscher über das Heilige Römische Reich von Gottes Gnaden bereits jetzt dabei, sich selbst zu verlieren und in einem...
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