Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Ostfriesland, April 1992
Luise erwachte noch vor der Dämmerung und schlug sofort die Decke zurück. Bliebe sie noch länger liegen, käme sie auf dumme Gedanken, und gerade das Denken vor der Morgendämmerung wollte sie vermeiden. Denn sobald sie über ihr Leben nachdachte, verlor sie sich leicht in Wünschen und Sehnsüchten, die ihre Mutter nur als Flausen bezeichnet hätte.
Sie hielten keine Hühner mehr, und ihr kleiner Hof war so abgelegen, dass nicht einmal die Hahnenschreie von anderen Bauernhöfen zu ihnen herüberhallten, die sie dazu brachten, aufzustehen.
Dann lag man da, lauschte auf die Stille, wo man doch wusste, dass es hier draußen nie ganz still war. Man glaubte es nur. Aber es gab Geräusche. Meistens prasselte Regen aufs Dach, knisterte der Wind im Gras, schlug ein Ast an einen Stamm, raschelten Zweige, wenn kleine nachtaktive Tiere hindurchschlüpften. Alles lebte, alles war in Bewegung, auf der Suche nach Futter oder Material für den Nestbau, dem Selbsterhaltungstrieb folgend. An diesem Morgen pfiff der Wind durch die Ritzen. Luise begann zu frieren.
Genau aus dem Grund hatte sie gleich die Decke zurückgeschlagen. Sie schwang die Beine aus dem Bett, tastete mit den nackten Füßen nach ihren Pantoffeln.
Wie jeden Tag hatte sie ihr innerer Wecker um fünf Uhr aus dem Schlaf geholt. Und jetzt begann ihr Arbeitstag.
Sie stand auf, zog die gerippte Unterwäsche an, schlüpfte in den sackartigen blauen Overall, band sich den Gürtel fest um die Taille und warf einen Blick in den Spiegel. Das blasse Gesicht mit den blonden, kaum sichtbaren Augenbrauen und Wimpern war so was von nichtssagend! Sie sah aus wie eine Bäuerin, nicht mehr und nicht weniger! Nur dass sie selbst dafür viel zu groß geraten war. Mit den Handflächen strich sie über das feste Köpergewebe des neuen Blaumanns. Männerkleidung - alles andere war ihr an Armen und Beinen zu kurz. Sie würde ihn sich enger nähen müssen, wie alle Kleidungsstücke. Abnäher sahen ordentlicher aus, als wenn sie Stoffborten an den Hosenbeinen annähte - und auf Ordnung legte ihre Mutter besonderen Wert. »Örnung und Süverheid«, wurde sie niemals müde, ihnen zu predigen, »sind dat A und O.« Luise musste sich jedes Mal zusammenreißen, damit sie nicht laut mitsprach. Sie wollte ihre Mutter auf keinen Fall verhöhnen, das hatte sie nicht verdient! Die liebe Moder, die immer nur schuftete. Aber ihre Sprichwörter, Redensarten und Bauernregeln, die sie und Grootmoder Lina zu jeder Gelegenheit herunterbeteten, brachten jeden auf dem Hof hin und wieder auf die Palme.
Als sie den Kopf einzog und die enge Treppe hinunterstieg, hörte sie schon ein Klappern und das Pfeifen des Kessels auf dem Herd. Ihre ganze Kindheit lang war die Küche von frischem, selbst angesetztem Sauerteigbrot aus dem Ofen und starkem Ostfriesentee erwärmt worden. Der Duft der Brotkruste war früher durch das ganze Haus gezogen. Inzwischen fehlte ihrer Mutter die Zeit zum Backen, und es gab meistens Schnittbrot aus der Metro. Immerhin ein schnelles Frühstück, bevor es in den Stall zum Melken ging.
»Moin moin, Moder.«
»Moin moin, Luise.«
Die alte Katze saß auf dem Fensterbrett und starrte hinaus in die Dämmerung. Sie hatte die Schulterblätter hochgezogen und die Ohren angelegt. Ihre ganze Haltung drückte eine Art Unbehagen aus. Der Wind rüttelte so stark am Fensterrahmen, dass das Glas fast aus dem brüchigen Kitt sprang.
»Gleich gibt's frische, warme Milch, Missi!«, flüsterte Luise ihr mit weicher Stimme zu. Bis zu ihrem sechsten Lebensjahr hatte sie nichts außer Plattdeutsch gelernt - und keine einzige Autobahn gesehen. Erst in der Grundschule wurde ihr Hochdeutsch beigebracht. Inzwischen sprachen sie zu Hause fast alle eine Mischung aus beidem, bis auf Grootmoder Lina, die am »Plattdüütschen« festhielt, in tief verwurzeltem Misstrauen gegen alles Neue.
Zärtlich strich Luise über das stumpfe Fell der Katze.
»Missi macht mir Sörgen!«, sagte sie, an ihre Mutter gewandt. »Man sieht jede einzelne Rippe hervorstechen, und ihr Fell geht aus.« Zum Beweis hielt sie ein kleines graues Haarbüschel aus ihrem Rücken hoch.
»Se is mager as 'n Stück Holt!«
Ihre Mutter drehte sich zu ihr um und schüttelte den Kopf. »Du und dien Deren! Wir hebben über dreißig Katzen auf dem Hof, und du machst dir Sorgen um das einunddreißigste Exemplar. Missi is old, se quält sich nur noch. Wir sollten ihr eine Spritze geben lassen, wenn der Tierarzt dat anner Mal up de Hof kommt.«
»Eine Vitaminspritze?«, fragte Luise mit unschuldiger Miene, obwohl sie genau wusste, was ihre Mutter meinte.
Auch Dörte Jensen war, wie die meisten Frauen hier, hochgewachsen, einen Meter siebzig groß, breite Schultern von der harten Arbeit. Die blonden Haare, Wimpern und Augenbrauen hatte sie mit Luise gemein. Als Luise mit dreizehn schon alle Kinder ihrer Klasse um einen Kopf überragte, hatten ihre Eltern begonnen, in ihren Ahnenreihen zu forschen, und eine entfernte Tante ausfindig gemacht, die stattliche einen Meter sechsundsiebzig groß gewesen war - vor vierzig Jahren eine Seltenheit. Doch Luise hörte auch nach eins sechsundsiebzig und ihrem vierzehnten Geburtstag nicht auf zu wachsen. Die Striche am Türrahmen, die wie bei so vielen Familien das Gedeihen der Kinder dokumentierten, hatte ihr Vater irgendwann aufgehört zu ziehen. Inzwischen war sie siebzehn, einen Meter sechsundachtzig groß und hatte trotz der »goden Utsicht von daar boven«, wie ihr Vater sie allzu häufig aufzog - der guten Aussicht von da oben -, nichts von der Welt gesehen außer den Torfwiesen, den kunstgedüngten Feldern um ihren Hof herum und dem nächstgelegenen 400-Seelen-Dorf.
»Missi ist die Ururgroßmutter von mindestens fünfzig Kätzchen und Katern. Du wolltest doch auch nicht, dass deine Ururenkel dich irgendwann einmal vor die Tür setzen, nur weil sie en Bült Minsken in de Hüttspott . weil sie das Haus voll haben.«
»Dat kann man doch nich verglieken!«
Die Katze Missi stand auf, machte einen Satz zu Luise auf die Eckbank und stieß sie sanft mit dem Kopf an.
»Und ob man dat vergleichen kann!«
Luise schnitt sich eine Scheibe Brot ab, schmierte sich die billige Nussnougatcreme aus dem Großmarkt darauf. Sie warf zwei Stücke weißen Kandis in ihre Tasse, die beim Einschenken des heißen Tees immer so herrlich knisterten und dem Tee die leckere Süße gaben. Dann goss sie einige Tropfen dickflüssige Sahne dazu. Sie nahm die Tasse in beide Hände, trank einen Schluck, schloss die Augen und war sich in diesem Moment bewusst, dass sie niemals etwas anderes zum Frühstück trinken wollte: Am Anfang kam die cremige und etwas kühlere Sahneschicht, gefolgt vom herben Geschmack des Ostfriesentees, gekrönt von der Süße am Schluss.
Sie öffnete wieder die Augen und biss in ihr Brot. Auf dem Tisch lagen ein ausgefüllter Lottoschein, Vaders halb leere Zigarettenpackung, ein gelbes Feuerzeug, das Kreisblatt, auf dessen erster Seite über das Feuerwehrfest berichtet wurde.
»Es ist nichts anderes, als wenn wir zu de Oma sagen würden: Wir brauchen nu die Einliegerwohnung, Grootmoder, die könnten wir gut verhüren. Du büst unnütt, und wir laten di nu einschläfern.«
»Luise!« Die Stimme ihrer Mutter klang ungewohnt schrill. Sie knallte den Kessel auf den Topfuntersetzer. »Dat geiht to wied!«
»Ist doch wahr!«
Luise klappte das Brot zusammen und sprang auf. »Ich fange besser mal mit dem Melken an. Is Vader schon im Stall?«
»Klaar, und Jakob auch.«
Jakob war Luises älterer Bruder.
Zum Abschied streichelte sie der alten Katze über den Rücken, und diese schmiegte sich an ihre Hand. »Bleib schön nah an der Heizung, Missi«, flüsterte sie leise.
Die schweren Arbeitsschuhe in Größe 43 an den Füßen, lief sie über den durchgeweichten Hof, machte sich nichts aus den Pfützen und sah dabei in die Ferne zu den Pappeln. Wie tintenschwarze Zähne ragten sie in den Himmel, der eine fast unwirkliche Färbung annahm. Endlich waren die Tage wieder länger, und sie begannen die Arbeit nicht mehr in tiefster Nacht. Sie liebte die Blaue Stunde, wenn sich der Schein der ersten Dämmerung mit dem Licht des untergehenden Mondes vermischte. Luise legte den Kopf in den Nacken, atmete tief die kühle Luft ein. Sie schmeckte frisch und prickelte in ihren Lungen. Der Wind fuhr ihr ins Gesicht, fegte das letzte bisschen Schläfrigkeit fort - und ihr Stallkopftuch.
Endlich hatte der Dauerregen aufgehört! Die Wege zu den Feldern hatten an vielen Stellen einem Flussbett geglichen. Es war gar nicht daran zu denken, die Saat für das Sommergetreide auszubringen. Frühlingshochwasser gehörte, seit sie denken konnte, zu ihrem Leben wie Hitzeperioden im Hochsommer und Gewitter mit Platzregen während der Erntezeit. Eiseskälte mit Frostbeulen im Winter. Der Jensenhof stand auf Endmoränenland, und das konnte mehr Eis und Wasser ab, als sie in ihrem Leben jemals sehen würden. Und doch war das Wetter ein nie enden wollendes Thema.
»Die Klaag is des Buur Grööt!«, hieß es dazu am Dorfstammtisch von den wenigen, die nicht von der Landwirtschaft lebten. Die Klage ist des Bauern Gruß. Allein das dauernde Trommeln auf den Dachschindeln, die mit Steinen beschwert waren, damit der Wind sie nicht davonriss, hatte in den letzten Wochen auf die Gemüter aller Familienmitglieder gedrückt.
Seit heute Nacht peitschte der Westwind die dunklen Wolkenberge vor sich her und pfiff sogar durch die...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.