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Kapitel 2: Steinschlag
In den Tagen, die auf das mächtige Gewitter folgten, machten sich natürlich noch weit mehr, wenn nicht alle Einwohner der Gemeinde Gedanken, wie es wohl die Frau in das Grab des unglücklichen Friedrich Bayerlein geschafft haben mochte.
Am Stammtisch im Gasthof Juraschanze wurde jeden Tag vom ersten Bier an, also etwa ab zehn Uhr vormittags, diskutiert, und da es zwei Wochen dauerte, bis die Polizei mit ersten Erkenntnissen herausrückte, schossen die Spekulationen ins Kraut. Niemand wusste etwas, aber jeder hatte eine Meinung. Vor allem am Sonntag, bei Frühschoppen und Schafkopf, ging es hoch her in der Wirtsstube.
Die eine der Gruppen, die sich allmählich herausbildeten, stellte die Hypothese auf, dass die Knochen und Kleidungsreste schlicht und einfach schon längst im Boden gelegen hätten, als man den Bayerlein vergrub. Oder, was ja gemäß neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen jederzeit vorkommen könne, durch unterirdische Bodenverschiebungen hinübergewandert seien. Vor allem der Zahnarzt Winkler, der in Artelshofen wohnte und in Velden praktizierte, und der Rammelkammer, der einen Autohandel in Hersbruck betrieb, vertraten diese These.
Dieser schlugen natürlich tausenderlei Einwände und Widersprüche entgegen. Wieso niemand gewusst haben sollte, dass dort, wo der Bayerlein zur Ruhe gebettet wurde, bereits eine Frau begraben lag? Wer es denn auch überhaupt gewesen sein sollte, da doch seit unzähligen Jahrzehnten über alle Frauen, die in der Gemeinde gestorben seien, genaue Kenntnis herrschte - zumindest darüber, wo ihr Grabstein aufgestellt worden war?
Friedrich Brunn, der für die Bauunternehmung Gg. Degenhardt als Maurer arbeitete und den alle nur den »Brunzfritz« nannten, Klaus Prütting aus dem unteren Dorf und auch Georg selbst, der die Entdeckung ja gemacht hatte, sahen die Sache ganz nüchtern und forderten eine andere Erklärung. Eine, die mit so wenigen Zusatzannahmen wie möglich auskam. Demnach, so verkündete der Prütting mit großer Selbstgewissheit der gesamten Wirtsstube, müsse der Bayerlein mit dieser Frau in einer Beziehung gestanden haben, wie auch immer es sich im Detail verhalten habe. Kurz, die Frau sei zeitgleich mit dem Bayerlein gestorben und direkt mit ihm oder, wenn's nach dem Prütting ging, auch auf ihm in derselben Grube bestattet worden.
»Humbug!«, hieß es da, und da könne man ja gleich behaupten, dass sich die Frau freiwillig in den Sarg vom Bayerlein gelegt habe, weil sie bis in alle Ewigkeit an seiner Seite habe liegen wollen, am Ende käme man noch auf die Idee, sie sei lebendig neben der Leiche ihres Liebhabers begraben worden.
Woher man sicher sein könne, dass diese Möglichkeit auszuschließen sei, erwiderten darauf prompt die Anhänger einer Doppelbeerdigungstheorie. Umgekehrt könne die Fraktion, die behaupte, die Frau sei schon von Anbeginn der Zeit dort unten an- bzw. verwesend gewesen und gelegen, nicht leugnen, dass die Schuhe aus der jüngsten Vergangenheit stammten. Jedwede Spekulation über eine hastige Beisetzung einer Unbekannten während der letzten Kriegstage oder in dem Chaos, als später die Flüchtlingstrecks aus dem Sudetenland durchs Tal zogen, entbehre somit jeder Grundlage.
Aus dem Widerstreit der beiden am heftigsten diskutierten Erklärungen entsprang eine dritte Hypothese, die zuallererst vom Winkler vertreten und dann vom Dotzauer und vom Prütting übernommen wurde. Dass nämlich die Knochen der Frau schon lange vor dem Bayerlein unter der Erde geruht hätten, die Schuhe jedoch von einer heimlichen Liebschaft des Bayerlein diesem quasi als Abschiedsgeschenk hinterhergeschmissen worden seien. Winkler stand leidenschaftlich für diese These ein. Wieso man nicht unterscheide zwischen den Gebeinen und den Schuhen?, fragte er herausfordernd. Gebeine auf einem Friedhof seien nun wirklich nichts Ungewöhnliches, während es für die Schuhe bestimmt eine einfache Erklärung gebe. Vielleicht habe er sie anstelle seiner heruntergelatschten Halbschuhe am Ende selbst im Sarg angehabt, der Bayerlein, den Winkler wegen seiner engen Jeanshosen schon immer für »eine verkappte Schwuchtel« gehalten hätte, wie er gehässig in die Runde warf. Da stimmte der Deißner, der ebenfalls eifrig mitdebattierte, plötzlich nachdrücklich zu, das sei die Lösung, so musste es gewesen sein.
Dass die Schuhe exakt Größe sechsunddreißig hatten, gab die Polizei erst später bekannt. Dass sie definitiv nix für den plattfüßigen Stenz Bayerlein gewesen waren, hatte jedoch schon jeder, der bei der Bergung am Friedhof dabei gewesen war, auf den ersten Blick sehen können. Nur konnte das zu jenem Zeitpunkt kaum jemanden beirren. Denn daran, was die Kriminaltechnik mit all ihrer Wissenschaft und Gründlichkeit bald herausgebracht haben würde, etwa auch aus welcher Zeit Schuhe und Knochen stammten, ja dass sie sogar einen möglichen Namen der zweiten Person im Grab hervorzaubern würde, dachte im Eifer des Wortgefechts keiner der Spekulanten.
Die Meinung des Johann Deißner besaß ein gewisses Gewicht, egal, was die Logik dazu sagte. Denn der Deißner war einer der beiden Menschen gewesen, die den unglücklichen Selbstmörder in den Schubkarren geladen und vor zur Hauptstraße verfrachtet hatten, wo das Leichenauto mit dem Sarg gewartet hatte. War doch der Fritz Bayerlein in ebendemselben Pflanzgärtchen, das er vom Deißner gepachtet hatte, aufgefunden worden.
Am 15. August 1979 feierte dann Hans Demleitner seinen sechzigsten Geburtstag, und eine gut gelaunte Runde versammelte sich auf der Terrasse des Jubilars, die zwischen das Haus und eine Stützmauer, gleich unterhalb des Wachtfelsens an der Wirtsleite, hineingequetscht war. Da war der alte Steigner, Stefans Großvater, der sich mit weit über neunzig Jahren immer noch als Gemeindebote verdingte und einmal im Monat durchs Dorf zog, mit einer Handglocke durch die Luft wedelnd, um die Anwohner auf die sich anschließende Verlesung des letzten Gemeinderatsbeschlusses aufmerksam zu machen. Er eröffnete sozusagen offiziell die Geburtstagsfeier, indem er eine nicht enden wollende Gratulation in Reimform vortrug, die unter dem Strich allerdings nicht viel mehr verkündete, als dass das Geburtstagskind seit mindestens vierzig Jahren beim Fränkischen Überlandwerk an der Instandhaltung der Strommasten arbeitete und sich in seiner Freizeit leidenschaftlich mit dem Trinken von bierartigen Getränken beschäftigte. Jede Strophe verursachte großes Gejohle unter den Gästen, zumeist Arbeitskollegen Demleitners, die in ihren Arbeitsblaumännern erschienen waren und dem gleichen Hobby frönten.
Auch das Nachbarsehepaar, die Seibold-Müllerin und ihr Mann Richard, war herübergekommen und hatte eine Flasche Schlehengeist mitgebracht, der großen Zuspruch fand. Er, der Seibold-Müller, war ein langweiliger Glatzkopf. Er arbeitete in der Zulassungsstelle in Lauf, wo seit 1972 auch die Hersbrucker hinfahren mussten, um sich eines der verhassten LAU-Kennzeichen aushändigen zu lassen. Er ging alle Werktage um halb sieben Uhr früh aus dem Haus, kehrte um vier zurück und hockte dann auf dem Sofa vor dem Fernsehapparat, bis er einschlief. Seine Frau hingegen, die war aus einem anderen Holz geschnitzt. Die lachte schallend laut, wenn jemand einen deftigen Scherz machte, und stieß mit einem nach dem anderen an, indem sie die Männer hartnäckig aufforderte, ihr Schnaps nachzuschenken. Man darf jetzt nicht meinen, dass die Seibold-Müllerin eine Schnapsdrossel war. Nein, da gab es ganz andere Vögelchen im Dorf. Die Trunkenheit der Seibold-Müllerin hatte etwas Verzweifeltes an sich. Sie war weder die Zigaretten gewohnt, die sie in einer Tour schnorrte und anzündete, noch den harten Alkohol, der sie erhitzte. Man wusste im Dorf, dass ihr Mann seine ehelichen Pflichten seit Jahren vernachlässigte, sodass es ihr kaum jemand übel nahm, wenn sie sich hin und wieder an den einen oder anderen Kerl ranschmiss. Zumal nur an Junggesellen oder Auswärtige, darüber hinaus in der Regel ohne Erfolg. Und umgekehrt sagten gerade die verheirateten Frauen, dass ein Kerl aus Stein gehauen sein müsste, wenn er die Seibold-Müllerin nicht appetitlich fände mit ihren schwarz glänzenden Augen, schulterlangen braunen Haaren und dem gut gerundeten Hintern in den engen Jeans. Wiewohl ihr jugendliches Daherkommen so manchem gefiel, war sie so jung nun auch nicht mehr. »Von hinten Lyzeum, von vorne Museum«, hatte der Winkler einmal im Scherz zu Georg gesagt, während der unter ihm im Behandlungsstuhl lag und seine Zunge nicht bewegen konnte. Aber der Zahnarzt ging davon aus, dass sein Patient das Fremdwort kannte, sodass er nicht mit einer Nachfrage rechnete. Georg galt nämlich im Kreise der Dorfhonoratioren als gebildet, im Wesentlichen, weil seine Frau eine echte Akademikerin war und an der Grundschule unterrichtete.
Einer der Junggesellen, bei denen die Seibold-Müllerin schon mehrfach abgeblitzt war, war der Feuerwehrkommandant Karlheinz Bayerlein, der ebenfalls beim Demleitner auf der Terrasse saß. Karlheinz war der ältere Bruder des unglücklichen Selbstmörders, dem die irregeleitete Liebe zur Winklerin das Genick gebrochen hatte, welche wiederum eine gute Freundin der Seibold-Müllerin war - derzeit jedoch mit ihrem Mann, dem Zahnarzt, im Sommerurlaub.
Der alte Steigner war nach Hause gegangen, nachdem er seine Bratwurst gegessen hatte. Die schattige Terrasse war mit dem rötlichen Flackern eines Dutzends Windlichter besprenkelt, auf einem Plastiktischchen neben dem vorderen Treppenaufgang dudelte Musik aus einem Transistorradio. Demleitner und seine Gäste saßen um den Tisch, dessen rohgezimmerte Platte sich unter braunen und grünen Flaschen förmlich durchbog. Weil der Bruder...
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