Schweitzer Fachinformationen
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Nach dem Sommer, in dem ich wuchs, kam der Herbst, in dem ich schrumpfte. Es war kein wirkliches Schrumpfen. Ich knickte einfach ein.
Und alle dachten, ich wäre jetzt anders.
Ich war jetzt Charlotte Nowak, die war mal aus einem Camp abgehauen, die hatte mal ein Auto geklaut und Hunde noch dazu, und dann hatte sie im Wald gelebt. Charlotte, die weggelaufen war. Hatte ich ja nicht allein gemacht. Sondern mit den anderen Mädchen zusammen. Dann waren noch drei Jungs dazugekommen, einer davon Jurek, den hatte ich geküsst.
Ich hatte nicht nur einen Freund, sondern auch noch einen Hund. Kajtek, denn den durfte ich nach der ganzen Geschichte behalten. Obwohl er erst seit einem Vierteljahr bei mir lebte, war er in der Zeit so gealtert, als wären Jahre vergangen. Die Tierärztin sagte, dass er Alzheimer habe. Er hörte und sah nicht mehr gut und lief oft ratlos herum. Dann brachte ich ihn ganz langsam in sein Nest und half ihm, sich hinzulegen. Ich zerkleinerte sein Futter, und bevor ich morgens zur Schule ging, zog ich ihm eine Windel an. Ich kümmerte mich gern um ihn, und es war mehr Verantwortung, als ich jemals vorher gehabt hatte.
Klar dachten alle, ich wäre jetzt reifer, irgendwie größer, genau wie sie sich vorher sicher waren, ich sei noch nicht so reif und nicht so groß. Ohne die anderen, mit denen ich im Wald gelebt hatte, war ich aber nur ich. Ohne den Wald war ich einfach zu Hause oder in der Schule. Ich badete an keiner Talsperre, sammelte keine Pilze, legte keinen Tunnel trocken und versteckte mich nicht vor der ganzen Welt. Ich war in meinem Alltag keine Abenteurerin, kein bisschen, und ich war es auch vorher vielleicht nicht gewesen, denn wenn man eine Abenteurerin ist, dann geht man los und will meinetwegen einen Tiger erlegen. Aber ich war einfach losgegangen und hatte zufällig einen Tiger getroffen. So in der Art. Das interessierte die Leute aber so genau gar nicht. Tiger war Tiger.
Jetzt, wo ich berühmt war, schmissen sich lauter Mädchen an mich ran und wollten mit mir befreundet sein. Aber ich hatte genug Freundinnen, wir waren nur leider nicht zusammen, weil alle woanders wohnten. Rike war in Moabit, Antonia in Röntgental, Anuschka in Milchfelsen. Freigunda war ganz weit weg. Sie war ins Mittelalter zurückgekehrt und irgendwo unterwegs mit ihrer riesigen Familie, die als fahrende Leute im Bauwagen lebte. Yvette lebte absurd reich in Kleinmachnow. Und Bea, die mir von allen am wichtigsten war, wohnte in Potsdam. Aber da war sie nie angekommen. Sie war seit einem Vierteljahr verschwunden.
Ich hatte sie nach unserem Abenteuer im Sommer das letzte Mal an einer Weggabelung gesehen. Ich hatte den Forstweg genommen, und sie war ein Stück auf einem verwilderten Weg gelaufen und dann im Dickicht verschwunden. Sie war vermisst, und ich vermisste sie. Sie war von allen Mädchen, mit denen ich den Sommer verbracht hatte, die Wichtigste für mich gewesen. Erst weil ich sie einfach gut fand, weil sie so frei war und geheimnisvoll. Dann weil sie mir als Einziger vertraute. Und dann noch weil sie mich dazu brachte, ein bisschen wie sie zu sein. Aber als sie weg war, fiel ich einfach, genauso tief, wie ich mich hochgestreckt hatte, wieder runter. Als wäre Bea meine Rankhilfe gewesen. Ich war gar nicht gewachsen, nur gerankt. Wenn man so lang ist wie ich, dann kann man gut einknicken und sich dann eigentlich auch gleich einrollen. Jetzt lag ich eingerollt zu Hause rum und wartete auf irgendwas.
So konnte es doch nicht weitergehen. Und so ging es dann ja auch nicht weiter.
Wir liefen wieder weg. Und wir liefen sogar noch weiter weg. Wir liefen aus dem Hafen aus.
Wir wollten erst Bea retten, dann die Tiere und dann die Welt. Na klar, Bea retten - als ob die sich retten lassen würde. Dann schon eher die Welt!
Zum Herbstanfang war mein sechzehnter Geburtstag, und ich konnte wesentlich mehr Leute einladen als nur bloß Severine, die mir bis dahin auch immer gereicht hatte als beste Freundin, einfach weil sie eine verdammt gute beste Freundin war. Aber jetzt hatte ich auf einmal ganz viele Freundinnen, und es kamen auch fast alle zu meinem Geburtstag, obwohl es ein Mittwoch war, aber am Wochenende hatte Oma Siebzigsten, und sie hatte eine Übernachtung für die ganze Familie in einem Hotel gebucht. Ich war sehr glücklich, dass trotzdem fast alle kamen. Yvette und Rike und Antonia. Die wohnten ja nicht so weit entfernt. Freigunda kam natürlich nicht. Das Mittelalter war zu weit weg. Aber sogar Anuschka war da, trotz des weiten Weges. Ihr Vater brachte sie und fuhr sie wieder zurück. Und Jurek war auch da. Sogar Matheo und Ole. Sie waren extra alle drei den weiten Weg mit Matheos Auto gefahren, und nachts fuhren sie wieder zurück, aber ich wurde immerhin sechzehn. Das kleine Volljährig.
Meine Mutter hatte mir als Geschenk eine Liste ausgedruckt, was ich jetzt mit sechzehn alles durfte. Hinter jeden Punkt hatte sie Anmerkungen geschrieben.
Ich durfte in den Ferien länger arbeiten und sowieso mehr Geld verdienen. Mama: «Ferienjob bei Blitzeblank Nowak & Nowak?»
Das war die Putzfirma meiner Eltern. Das hätte sie wahrscheinlich wirklich gerne, aber nur weil sie nie Urlaub machten, musste ich doch nicht auch in den Ferien arbeiten.
Ich durfte ein Konto eröffnen. Mama: Daumen hoch!
Ich durfte wählen. Mama: Daumen hoch!
Ich durfte nicht mehr zum Kinderarzt. Mama: «Frau Nimmesgern.» Weinender Smiley. Ich mochte meine Kinderärztin.
Ich durfte ohne Eltern verreisen. Mama: «Mit unserer Zustimmung. Die Antwort ist: vielleicht. Nicht so weit weg!»
Meine Geburtstagsfeier fing mit Schlittschuhlaufen an. Das war schön, also eigentlich, denn erstens fehlten Bea und Freigunda, und zweitens gab es noch einen anderen Grund für eigentlich. Als wir gerade dabei waren, die ausgeliehenen Schlittschuhe anzuziehen (bis auf Yvette, die hatte eigene), summte mein Handy. Am Geburtstag summt ständig das Handy. Es waren sogar zwei Nachrichten. Eine von Oma, die immer absurde Sachen schickte. Wo bekam sie die immer her? Gab's extra eine App mit absurden Fotos für Omas? Sie schickte ein Foto von einem Igel in einem Eisbecher. Der Igel hatte eine Sonnenbrille auf, und in seiner Sprechblase stand: «Cool, du hast Geburtstag!»
Die andere Nachricht war von, ich musste draufstarren, als würde ich es mit den Augen anfassen, von, echt? Von Bea. Zumindest war sie so unterschrieben, etwas verschlüsselt, aber erkennbar. Ich war erst mal überrascht, dass sie wusste, wann ich Geburtstag habe. Es war ein Satz und ein Video. 2:30 Minuten. Sie schrieb: «Niemandem von der Nachricht etwas sagen. BpunktEpunktApunkt.»
Bevor ich das Video ansehen konnte, zog mich Jurek von der Bank hoch. «Komm, 'ne Runde auf den Arsch fallen.».
An dem Tag begann das mit meinen Händen. Sie juckten erst nur. Nicht nur die Hand, die Jurek festhielt. Die andere auch.
Wir lachten alle viel, Rike und Ole blödelten richtig viel rum, Antonia bekam Schluckauf vor Lachen, Anuschka konnte richtig gut Schlittschuhlaufen, und alles war eigentlich schön. Aber ich war nicht hundert Prozent dabei, habe nur fünfzig Prozent mitgelacht. Auf dem Weg zur Eishalle hatten wir noch über Bea gesprochen, und niemand hatte etwas von ihr gehört. Alle waren beunruhigt, und jetzt bekam ich eine Nachricht von ihr, wenn sie von ihr war. Vielleicht war sie auch gar nicht von ihr. Und ich sollte nichts sagen. Was war das für ein Video? Sang sie einfach Happy Birthday, oder erzählte sie mir, wo sie war? Was sollte ich dann tun? Und schon flog ich wieder auf den Arsch.
«Rutschige Angelegenheit!», lachte Jurek. Wir küssten uns, aber ich küsste nicht hundert Prozent. Meine Hände juckten immer doller. Ich schupperte mit den Handschuhen. «Zieh sie doch aus», hatte Jurek vorgeschlagen und seine Handschuhe ausgezogen. So kalt war es wirklich nicht in der Eishalle. Ich zog einen Handschuh aus, sah, dass ich Pusteln bekommen hatte, zog den Handschuh wieder drüber. «Ich find's kalt», und schon flog ich wieder auf den Arsch.
Ich war keinen Moment alleine, um mal die Nachricht von Bea anzuhören. Ich war mir sicher, dass die Nachricht von ihr war, auch wenn ich die Nummer nicht kannte, aber ich hatte sowieso noch nie ihre Handynummer gehabt. Wenn sie schlau war, hatte sie sich sowieso eine neue Nummer zugelegt. Sonst hätte man sie schon längst gefunden. Ich schupperte so doll mit den Fleecehandschuhen an den juckenden Händen, dass sie anfingen zu brennen. Die Handschuhe ließ ich auch auf dem Heimweg an, behauptete, dass mir kalt sei. Es war nicht kalt.
Wir fuhren mit dem Bus zu mir. Gute Stimmung! Tolle Freunde! Endlich sechzehn! Juhu! Außerdem Hände wie ein Ameisenhaufen und ein Video von BpunktEpunktApunkt.
Zu Hause auf dem heimischen Klo konnte ich mir meine Hände ansehen. Feuerwehrrot vom Kratzen, richtig tatütata, und dann noch so rote Flecken, unterschiedlich groß, dunkelrot. Die Rötung ging ein bisschen von kaltem Wasser weg, die Flecken blieben. Ich drehte den Wasserhahn ganz auf, damit das Wasser richtig laut rauschte. Dann sah ich mir endlich das Video an. Es war von Bea. Sie war nicht zu sehen, aber ihre Stimme war zu hören. Ein Geburtstagsgruß war es jedenfalls nicht. Das Video war in einem Auto aufgenommen, nur aus dem Fenster gefilmt. Bea redete mit einem Mann. Die Landschaft sah aus wie eine Wüste. Weit weg.
Ab da war ich auch weit weg.
Das zog mir die letzten Prozente Aufmerksamkeit ab. Prozentrechnung, dieses Kuchenaufteilen. Erst war wenigstens noch der halbe Kuchen auf meine Gäste konzentriert, dann nur noch ein Viertel, dann war nichts mehr vom Geburtstagskuchen übrig.
Die ganze Zeit hatte ich die Handschuhe angelassen, obwohl ich...
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