Schweitzer Fachinformationen
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Mawingu-Farm, Tansania, Herbst 1987
Meine Tante hatte eine Farm in Tansania. Der Ngorongoro-Krater lag rund zehn Kilometer von dem nördlichsten Grenzstein ihres Landes entfernt. Doch konnten aus der Strecke leicht zwanzig Kilometer werden, je nachdem, ob das Wasser der Bäche in der Regenzeit über die Ufer trat und Erdrutsche die südliche Route unpassierbar machte.
Die Bewegungen der Erdkruste, die vor rund fünfundzwanzig Millionen Jahren begannen und bis heute andauern, hatten eine einmalige Landschaft hervorgebracht. Sie schufen den mächtigen Ngorongoro, der seit zweieinhalb Millionen Jahren fünftausend Meter in die Höhe ragt und dessen Hänge dichten Nebelwald tragen. Die fruchtbare Vulkanasche bildete die Grundlage für die üppigen Weiden zu Füßen des Kraterhochlands, das allem Leben in den Ebenen seinen unerbittlichen Rhythmus aufzwang.
Von Horizont zu Horizont erstreckt sich dort eine Ebene, so flach wie eine Tischplatte. Hier wachsen kaum Sträucher und Bäume und das Auge sucht vergeblich nach üppiger Vegetation und lieblichen Farben. Wo man hinsieht, nur Gras in allen Schattierungen von Oliv über Mint bis zu sattem Apfelgrün während der Regenzeit und von Strohgelb über Ocker bis Braun in der Trockenzeit. Als sei es nicht einfach nur Grasland, sondern eine tönerne Kachel, deren Farbe umso intensiver wird, je höher die Brenntemperatur, der sie ausgesetzt ist. In der Savanne ist es kein Brennofen, sondern die afrikanische Sonne, die diese tönerne Farbpalette hervorbringt.
Für die Viehhirten barg der Boden während der Regenzeit fruchtbares Weideland. Doch nur die genügsamen Schafe und Ziegen der Massai konnten in der Trockenzeit am Fuß der Vulkane gehalten werden. Als die Massai diese Weiden für sich eroberten, nannten sie den Ort »esirinket«, »weiter, offener Platz«. Über drei Jahrhunderte wurde die »esirinket« von Massai-Hirtennomaden besiedelt und für ihre Viehweidewirtschaft genutzt. Als die Europäer den Ort entdeckten, formten sie den Namen »esirinket« zu »Serengeti«.
Ich war dreizehn, als ich das erste Mal den Ngorongoro-Krater und die Serengeti sah. Im Sommer 1987 hatte meine Tante Corinna Waldeck die Mawingu-Farm nördlich von Karatu einschließlich sechshundert Hektar Land gekauft und meine Eltern flogen mit meinem Bruder und mir in den Herbstferien von München nach Tansania. Meine Vorstellung von dem, was mich erwartete, war durch Bilder aus dem Fernsehen und Kino geprägt und steckte voller Klischees. Von der damals schon etwa zwanzig Jahre alten Kultserie »Daktari« hatte ich mir den schielenden Löwen Clarence und den zahmen Schimpansen Judy ausgesucht und hoffte inständig, solchen Tieren zu begegnen. Selbstredend kannten wir alle Bernhard Grzimeks Film »Serengeti darf nicht sterben« und meine Mutter wollte mit uns das Grab des Tierforschers am Kraterrand besuchen.
Die Ankunft am Arusha Airport gestaltete sich überraschend einfach. Wir kamen die Gangway herunter und gingen direkt auf ein eingeschossiges Gebäude mit grünem Dach zu, das im Vergleich zu den Ausmaßen des Internationalen Münchner Flughafens Riem eher wie ein Busbahnhof wirkte. Ich weiß noch genau, was ich trug: eine kamelfarbene Jeans mit ausgestellten Beinen und eine Jerseybluse in Kaki, die am Ausschnitt geschnürt wurde. Unsere Mutter hatte uns vor der Reise mit tropentauglicher Kleidung in Sandtönen eingedeckt, um gegen Sonne und Insekten geschützt und kein Blickfang für wilde Tiere zu sein.
Der Himmel war blass und so hell, dass man kaum in die Höhe schauen konnte, ohne zu blinzeln. Am Horizont hinter dem niedrigen Dach des einzigen Terminals türmten sich riesige, scheinbar schwerelose Wolken auf, die rasch auf uns zusegelten. Das Atmen fiel leicht, denn die Luft war dünn, und ich sog sie tief in meine Lunge ein, als atmete ich eine wilde Hoffnung ein, die mich mit Vogelschwingen versah.
Mit einem »Welcome to Tansania« und einem offenen Lächeln gab uns der schwarze Grenzbeamte die gestempelten Pässe zurück. Ich fühlte mich von diesem Moment an willkommen. Es war ein starkes, unbezwingbares Gefühl, die mir fremden Menschen und das unbekannte Land in mein Herz und in mein Leben zu lassen. Ja, ich glaube, mit dem Herzen hat es angefangen oder mit dem, was ich im Alter von dreizehn dafür hielt.
Der Flughafen wimmelte von bunt gekleideten Reisenden und Touristen in neuer europäischer Safarikleidung, die unserer ähnelte. Hinter der Zollabfertigung standen Fahrer, die Pappschilder mit Namen hochhielten.
»Ich glaube, wir werden abgeholt«, sagte Gregor. Er legte meiner Mutter den Arm um die Schultern - eine liebevolle Geste, die wir lange nicht mehr beobachtet hatten, und Moritz stieß mir seinen Ellbogen in die Rippen. Unsere Eltern wirkten so viel lockerer als zu Hause. Sie verbreiteten eine launige Heiterkeit, seit wir afrikanischen Boden betreten hatten. Kinder haben eine feine Antenne dafür, wenn es in der Beziehung ihrer Eltern kriselt, auch wenn sie nicht die passenden Worte finden mögen. Und zwischen unserer Mutter und unserem Vater stimmte es schon seit längerer Zeit nicht mehr. Aber jetzt ruhte Gregors Arm auf Doris' Schultern und er deutete in Richtung Ausgang. Auf uns wartete ein junger Einheimischer mit Sonnenbrille und breitkrempigem Hut. Er hob die Hand zum Gruß und rief uns ein lautes »Jambo« entgegen. Ich sehe ihn noch genau vor mir, als ob unsere Ankunft erst gestern gewesen wäre. Er stellte sich uns als Zahir vor. Er sei Wildhüter, Maschinenführer, Mechaniker, Fahrer und die gute Seele der Mawingu-Farm in einem.
»Das hier sind meine Frau Doris, meine Tochter Isabelle und mein Sohn Moritz«, sagte Vater und klopfte Zahir jovial auf die Schulter. »Wenn ihr ein Problem habt, geht zu Zahir!« Er redete so, als würde er den Angestellten meiner Tante schon lange kennen. Zahir lachte, entblößte eine Zahnlücke im Unterkiefer, schüttelte unsere Hände und übernahm unseren vollgeladenen Gepäckwagen. Wir hatten gar nicht viel Kleidung mit, sondern die Koffer waren mit allen möglichen deutschen Haushaltsgegenständen gefüllt, die Corinna auf der Farm benötigte und die sie Doris in einem Telegramm aufgelistet hatte. Dazu gehörten eine gute Schere, Nähzeug, Hansastrips in rauen Mengen, Fieberthermometer, Aspirin und das Malariamittel Chloroquin, eine große Ladung Batterien und eine neue Kaffeemaschine. Außerdem zwanzig Packungen Nudeln für den Orden der Holy-Spirit-Sisters, der evangelischen Nonnen, die offenbar auf ihrer Europareise auf den Geschmack gekommen waren, sowie Filzstifte als Geschenke für die Kinder.
Zahir schob den Gepäckwagen zügig vor uns her auf den Parkplatz zu einem Defender in Tarnfarbe, den meine Tante Corinna, wie wir wussten, gebraucht gekauft hatte.
Der Geländewagen war mit zwei knallgelben Zwanzig-Liter-Dieselkanistern, Spaten und Sandblechen auf dem Dach ausgestattet und wir Kinder fragten uns, wozu sie wohl dienten. Dabei ahnten wir nicht, wie dankbar wir noch für diese scheinbar überflüssigen Hilfsmittel sein würden. Für unsere Geländefahrten gehörte später noch ein Reifen-Reparatur-Kit, ein Kompressor und ein Kühlschrank zur Ausrüstung, die Zahir allerdings auf der Farm gelassen hatte, um Platz für unsere Koffer zu schaffen. Wir würden erst lernen müssen, wie wichtig der Kompressor war, um bei schwierigen Geländepassagen Druck aus den Reifen abzulassen und sie ohne fremde Hilfe wieder aufzupumpen, ganz gleich, wie weit die nächste Tankstelle entfernt war. Doch dies alles lag noch in einer Zukunft, von der wir nach einer unspektakulären Kindheit in München nicht den Hauch einer Vorstellung hatten. Noch war unser Denken europäisch, wie man hier sagte, und alles, was kam, ein großes Abenteuer.
Auf unserer dreistündigen Fahrt, vorbei an Bananenstauden, Kaffeeplantagen, Maisfeldern und krummen, dornenbewehrten Bäumen nahmen wir die transparente Bläue des afrikanischen Himmels wahr und sahen hoch oben den glühenden Ball der Sonne, der Leben schenkte und es unbarmherzig nahm. Die Luft über der Ebene wurde in der Mittagshitze lebendig und wogte, flimmerte hell wie eine brennende Flamme.
Fuhr man auf das Kraterhochland zu, ragte die Bruchlinie des ostafrikanischen Grabens an die fünfhundert Meter auf. Der Höhenzug erstreckte sich von Westen nach Norden und wurde von unzähligen edlen Gipfeln gekrönt, die wie Wellenkämme kobaltblau in den Himmel ragten. Über dem üppigen Wald hingen weißgraue Wolkenfetzen. Während Zahir den Wagen lenkte und manches Schlagloch umfuhr, erklärte uns unser Vater die Landschaft: Auf dieser Seite des Massivs sei das Vorland dicht besiedelt, die fruchtbaren Böden und regelmäßigen Niederschläge ließen ergiebige Landwirtschaft zu. Der Wind wehe hier monatelang aus derselben Richtung. So bringe der Südostmonsun die feuchtwarme Luft vom Indischen Ozean ins Landesinnere.
»Siehst du, Isa, das führt dazu, dass sich der Regen überwiegend auf der Südostseite der hohen Bergzüge bildet.« Mein Vater drehte sich zu mir um, denn er hatte wohl bemerkt, dass ich ihm nicht besonders aufmerksam zuhörte. »Im Nordwesten - auf der anderen Seite der Vulkane - kommt umgekehrt viele Monate im Jahr nur trockene Luft an.«
Meine Gedanken schweiften ab. »Nordosten« oder »Südwesten« - was hatten die Himmelsrichtungen schon für eine Bedeutung? »Bergzüge«? »Trockene Luft oder feuchte Luft«? Dass hiervon in Afrika das Überleben Abertausender Tiere und Menschen abhing, war für mich nicht vorstellbar. Nur als unser Vater von »herabsinkenden Föhnwinden« sprach, konnte ich mit dem Ausdruck etwas...
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