III. Rechtsvollzug
Die deutsche Rechtsordnung weist also erhebliche Mängel auf. Aber auch die weniger schlechten Teile unserer Rechtsordnung nützen wenig, wenn sie in der Praxis schlicht ignoriert werden.
1. Die Polizei
Die Verkörperung der Staatsgewalt im Wortsinn ist die Polizei. Ihre Aufgabe ist es, Recht zu bewahren und durchzusetzen und notfalls wiederherzustellen. Wie sie das tun darf und soll, ist in den bereits erwähnten zahlreichen Gesetzen für die verschiedenen Polizeiorganisationen geregelt - theoretisch. Die polizeiliche Praxis weicht teilweise erheblich davon ab.
a) Gewalt
In einem Rechtstaat muß der Staat das Gewaltmonopol für sich beanspruchen und das im Zweifel auch durchsetzen. Das ist die zentrale Aufgabe der Polizei. Neben der Ermittlung bei Straftaten ist die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung ihre wichtigste Aufgabe. Und dabei wendet die Polizei auch Gewalt an, meistens im Rahmen ihrer Aufgaben und Befugnisse, immer wieder aber auch darüber hinaus. Dann ist die Gewaltanwendung rechtswidrig und im Zweifel auch strafbar. Wie groß dieses Problem ist, ist schwer zu sagen, aber daß es diesbezüglich ein Problem gibt, ist inzwischen offensichtlich. Wahrscheinlich gab es dieses Problem schon immer, aber in den letzten Jahrzehnten ist es vor allem durch Kameras in Mobiltelefonen zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Exemplarisch können hier die Polizeieinsätze gegen die Proteste anläßlich des G20-Gipfels in Hamburg genannt werden. Für diese ist durch zahlreiche Medienvertreter und Privatpersonen umfassend dokumentiert, daß die Polizei dort mit massiver und ganz überwiegend rechtswidriger Gewalt gegen ganz überwiegend friedliche Demonstranten vorgegangen ist. Und trotz dieser umfassenden Dokumentation hatte das keine Konsequenzen für die prügelnden Polizisten, gar keine, für niemanden - im Gegenteil. Der Einsatzleiter, der letztlich die Verantwortung für diese rechtswidrige Polizeigewalt trug, wurde anschließend auch noch befördert, und damit allen Polizisten signalisiert, daß sie letztlich wahllos gewalttätig im Dienst sein können, ohne auch nur die geringsten Konsequenzen befürchten zu müssen. Auch der damalige erste Bürgermeister Hamburgs und spätere Bundeskanzler Olaf Scholz fand nichts auszusetzen am brutalen Vorgehen der Polizei.
Wie gravierend das Problem tatsächlich ist, ist schwer zu ermitteln, da die Polizei mit allen Mitteln versucht zu verhindern, das Problem überhaupt als solches zu erkennen. Daher sind offizielle Zahlen hierzu völlig unbrauchbar. Die einzige Untersuchung, die ernsthaft versucht hat, etwas Licht in das Dunkel zu bringen, ist das Forschungsprojet "KviaPol" (Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamte). Danach ist von mindestens 10.000 Fällen rechtswidriger Gewalt durch Polizisten im Jahr in Deutschland auszugehen. Plausibel wären aber auch deutlich höhere Zahlen. Das mag angesichts von vielen Millionen Polizeieinsätzen jährlich nicht viel erscheinen, bedeutet aber immer noch, daß jedes Jahr eine ganze Kleinstadt von der Polizei verprügelt wird. Durch die zunehmende öffentliche Aufmerksamkeit für solche Vorfälle gerät die Polizei als Institution insgesamt in Verruf, worauf diese bisher durch weitere Abschottung reagiert. Dies wiederum macht eine echte Lösung des Problems unmöglich, was wiederum das Vertrauen in die Polizei weiter erschüttert - ein Teufelskreis.
Besonders schwer wiegt es, wenn die Polizei Menschen tötet, ohne hierüber umfassend Rechenschaft abzulegen, oder gar versucht, die Umstände eines von der Polizei verursachten Todes einer Person zu vertuschen, so geschehen nach den Morden an Benno Ohnesorg 1967 und Oury Jalloh 2005. In einem Land, in dem statistisch fast alles analysiert wird, gibt es keine systematische Erfassung, wieviele Menschen auf welche Weise durch die Polizei zu Tode kommen. Nur die von der Polizei erschossenen Personen werden erfaßt. Es sind jedes Jahr zwischen 10 und 20 Menschen. Ein großer Teil davon litt an psychischen Erkrankungen. Insgesamt dürfte nach den verfügbaren Informationen aber jedes Jahr eine mittlere zweistellige Zahl von Menschen in Deutschland durch die Polizei ums Leben kommen. Auch diese Intransparenz trägt nicht gerade dazu bei, das Vertrauen in die Polizei als Organisation zu stärken, zumal es auch hier so gut wie nie irgendwelche Konsequenzen für Beamte gibt, die im Dienst den Tod eines Menschen verursacht haben. Daß im sogenannten Kölner Polizeiskandal 2003 sechs Polizisten wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung im Amt mit Todesfolge zu Bewährungsstrafen verurteilt wurden, ist einerseits schon eine absolute Ausnahme, andererseits eine Frechheit, weil die Mindeststrafe für Körperverletzung mit Todesfolge drei Jahre beträgt, was nicht zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Warum bei den Polizisten ein minderschwerer Fall angenommen wurde, ist nicht nachvollziehbar. Daß ein Polizist in Deutschland zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wird, weil er einen Menschen getötet hat ist undenkbar, anders als zum Beispiel in den USA Derek Chauvin, der Polizist, der George Floyd getötet hat und dafür 2021 zu über 20 Jahren Haft verurteilt wurde.
In äußersten Fall physische Gewalt auszuüben, gehört zu den Aufgaben der Polizei. Zwischen eindeutig rechtmäßiger und eindeutig rechtswidriger Gewalt liegt jedoch ein sehr weiter Graubereich, was den Umgang mit dem Thema sehr erschwert. Wenn aber schon in dem Bereich, wo die Rechtswidrigkeit offensichtlich ist, Konsequenzen ausbleiben, untergräbt das den Rechtstaat grundlegend. Und wenn die Polizeiorganisation als Ganzes sich schlicht weigert, diesbezüglich auch nur das geringste Problembewußtsein zu zeigen, selbst dann, wenn Menschen durch die Polizei getötet werden, verliert sie zu Recht das Vertrauen weiter Teile der Bevölkerung.
b) Rassismus und andere Diskriminierungen
Rechtswidrige Gewalt ist nicht das einzige Problem der Polizei. Rechtsextremismus und der damit verbundene Rassismus ist ein anderes. Wie schon erwähnt, fanden nach dem zweiten Weltkrieg viele Nazis Unterschlupf bei Polizei und Geheimdiensten. Dadurch ergab sich eine fatale Schieflage dieser Institutionen nach rechts. An dieser Schieflage scheint sich bis heute nichts geändert zu haben. Zahlreiche rechtsextremistische Chatgruppen, verteilt über alle Polizeibehörden in Deutschland, zahlreiche Polizeibeamte, die Mitglied in rechtsextremistischen Netzwerken und Organisationen sind, Beamte mit Andenken an die Nazidiktatur und rechtsextremistischen Tattoos zeugen von einem massiven strukturellen Problem innerhalb der Sicherheitsbehörden. Lange versuchten die Innenpolitiker die entsprechenden Vorfälle als Einzelfälle abzutun und bestritten vehement die Existenz eines umfassenderen Phänomens. Die schiere Zahl der Vorfälle strafen diese Verharmlosungsversuche jedoch Lügen. Trotzdem verhindern Polizei und Innenpolitiker beharrlich, daß dieses Problem intensiver untersucht wird. Konsequenzen hatten die bisher bekannt gewordenen Fälle für die als sicher rechtsextrem aufgefallenen Beamten nur ganz selten.
Dabei sind schon die wenigen bekannten Informationen besorgniserregend. Aus den bekannt gewordenen Fällen läßt sich schließen, daß über 1.000 Polizeibeamte sicher rechtsextrem sind. Das ist jedoch nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs. Zwar scheint die Zurückhaltung unter Polizeibeamten, rechtsextreme Ansichten offen zu äußern, abzunehmen, aber trotzdem dürften bei den meisten Beamten immer noch die Hemmungen, solche Überzeugungen offen zu zeigen, überwiegen. Daher dürfte die Dunkelziffer hier sehr hoch sein. Studien zufolge haben etwa 8% der Bevölkerung klar rechtsextreme Ansichten. Da die Polizei, wie oben erwähnt, eine Schieflage nach rechts hat, dürfte der Anteil eindeutig Rechtsextremer an den Polizeibeamten größer sein als im Durchschnitt der Bevölkerung. Aber diese 8% würden bei etwa 340.000 Polizisten deutschlandweit bereits fast 30.000 bewaffneten und mit umfassenden hoheitlichen Befugnissen ausgestatteten Rechtsextremisten entsprechen. Die Anzahl Polizeibeamter, die mit solchen Ansichten zumindest sympathisieren, dürfte noch deutlich höher sein.
Ausdruck dieses Rechtsextremismus ist unter anderem Rassismus. Sogenanntes "Racial Profiling" gehört zum Polizeialltag. Das bedeutet, daß Menschen allein aufgrund ihrer äußeren Erscheinung als nicht deutsch von Polizisten wahrgenommen und ausschließlich deshalb kontrolliert werden. Zwar bestreiten auch hier - mit wenigen Ausnahmen, wie dem langjährigen Vorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt, der Racial Profiling offen beführwortet - Polizei und Innenpolitiker beharrlich, daß es dieses Phänomen gibt, aber entsprechende Studien belegen, daß farbige und andere Menschen mit erkennbaren Migrationshintergrund signifikant häufiger von der Polizei ohne jeden Anlaß kontrolliert werden, als solche, die als deutschstämmig wahrgenommen werden. Besonders bei anlaßlosen Kontrollen fokussieren sich Polizeibeamte sehr häufig auf fremdländisch wirkende Personen. Werden diese...