1. Rammstein: Hassen oder lieben
2. Im Untergrund: Die Vorgeschichte in der DDR
3. Nach dem Mauerfall: Die Gründungsphase
4. Sechs Freunde sollt ihr sein: Die Bandmitglieder
5. Schwieriger Weg zum Erfolg: Rammsteins erste Tage
6. "Herzeleid": Das schwere Debüt
7. Spiel mit dem Feuer: Rammstein live
8. Medienschelte: Neonazis, Brutalos und Sexisten?
9. "Links 2 3 4": Rammsteins Antworten auf Kritik
10. Was darf Provokation? Der Musiksoziologe Jan Hemming über Rammstein
11. "Sehnsucht": Der internationale Durchbruch
12. Der große Bildersturm: Die Rammstein-Ästhetik
13. Rammstein on Stage: Die perfekte Show
14. "Live aus Berlin": Erste Krisen
15. "Mutter": Die Etablierung der Provokation
16. "Rammstein machen Kasse": Interview mit dem früheren Chefredakteur des Metal Hammer, Robert Müller (1996-2001)
17. "Reise, Reise": Neue Wege
18. "Schauer über den Rücken": Die Rammstein-Fans
19. "Rosenrot": Keine Atempause
20. "Völkerball": Rammstein für zu Hause
21. Es geht weiter, immer weiter: Das sechste Studioalbum LIEBE IST FÜR ALLE DA
22. Irgendwie läuft's: Rammstein im Krisen-Modus
23. The show must go on: Rammstein auf Solopfaden
24. Unsterbliche Geschichte: Rammstein wieder auf Erfolgskurs
25. Die Pflicht ruft: Rammstein und die Eroberung von Neuland
26. Irgendwie am Ball bleiben: Rammsteins Wunsch nach Fortsetzung der Historie
27. Rammstein 2017
28. Rammstein 2018
29. Rammstein 2019
30. Rammstein 2020
31. Rammstein 2021
32. Rammstein 2022
33. Rammstein 2023
"Herzeleid" hatte sich langsam, aber stetig in den Charts hochgeschraubt, und Rammstein zogen als einer der besten deutschen Show-Acts überhaupt immer mehr Zuschauer in die Konzerthallen. Die Fans der Band rekrutierten sich zunächst vor allem aus ihrer Heimat, den neuen Bundesländern, und aus der Metal-Szene. Aber mit der größer werdenden Popularität wurden diese Grenzen gesprengt, und verstärkt fanden auch Mainstreamkreise Gefallen an dem Sextett.
Diesen Status hatte die Band über fast zwei Jahre hinweg aufgebaut, was bedeutete, dass die Songs ihres Debütalbums den Fans mittlerweile so vertraut waren, dass sie etwas Neues vom Nachfolger erwarteten. Die Band wollte die Fans nicht enttäuschen und natürlich die gewonnene Popularität nicht verspielen. Außerdem hatte sich die Kreativität der sechs Musiker nicht einfach zur Ruhe gesetzt, weil es ja jetzt ein Album gab, sondern sie sprudelte weiter, sodass neue musikalische Ideen entstanden - die an die Öffentlichkeit drängten.
Also gingen Till, Flake, Richard, Olli, Christoph und Paul im Herbst 1996 wieder ins Studio, um ihr zweites Album einzuspielen. Wie schon bei "Herzeleid" gab es auch bei dieser Produktion einen sehr gleichberechtigten Entstehungsweg der Lieder, der bei allen kommenden Alben beibehalten werden sollte.
Richard Kruspe sagte in einem Interview mit dem US-amerikanischen Musikmagazin NYRock vom November 1998 (übersetzt): "Wir sind eine Band mit sechs Musikern, und niemand ist der Anführer oder eine Kultfigur. Natürlich ist Till der Sänger, sodass er mehr im Rampenlicht steht als wir anderen, doch das ist normal. Jeder Sänger bei jeder Band steht im Rampenlicht." Ein paar Monate später betonte der Gitarrist in einem Gespräch mit Break Out für die Ausgabe 03/99 noch einmal dieses Selbstverständnis der Gruppe: "Wir sind eine demokratische Band, deswegen dauern Entscheidungen bei uns sechs Mal so lange. Aber letztlich sind es auch wieder diese verschiedenen Ansichten, durch die Rammstein funktioniert."
Auf dieser gleichberechtigten Basis entstehen die Songs, wie der zweite Gitarrist Paul Landers fritz.com, dem Internet-Jugendmagazin der Salzburger Nachrichten, am 23. 07. 2004 erklärte: "Ach, das passiert doch bei uns immer zusammen. Das kann man bei uns nicht so einfach auseinanderzopfeln. Wir sind so sechs kleine Komponisten. Inzwischen hat jeder von uns schon Urideen mitgebracht, aus denen dann Rammstein-Lieder geworden sind. Keiner kann da an sich halten. Jeder hat so seine Talente. Till ist z. B. für die Texte zuständig. Zum Zusammenbauen müssen wieder alle dabei sein, es sind also schon alle wichtig, um ein Lied gut zu machen. Viele Köche verderben den Brei, so machen wir das immer. (lacht) Du hast 'ne gute Idee, dann fummeln alle dran rum, dann ist das Lied schlecht, und dann wird's irgendwann aufgenommen."
Dabei kann jeder alles machen, sodass Till zwar zum allergrößten Teil die Texte schreibt, die anderen aber auch ihren Beitrag leisten. So verfasste z. B. Richard Kruspe den Text von "Engel". Ansonsten haben natürlich die einzelnen Bandmitglieder ihre Schwerpunkte, die über ihre Instrumente und ihre Funktion beim Spielen der Lieder bestimmt sind. Beispielsweise stammen von Flake die meisten Melodien, weil sein Keyboard für diesen Part in der Band zuständig und er beim Komponieren sehr einfallsreich ist.
Aber das gilt auch für die anderen, die sich genauso mit ihren Ideen immer wieder in den Entstehungsprozess einbringen, der sich vor allem bei den Proben entwickelt. Till ist oft gar nicht dabei, weil er zunächst abwarten muss, bis die Musik entstanden ist. Richard erzählte darüber in einem Interview für das Internet-Musikportal von apple.com im Dezember 2005: "Es ist oft so, dass jede Idee, die man mitbringt, erst mal gnadenlos zerstört wird. Du musst dann eine richtig dicke Haut haben, denn dein Baby wird da gerade vernichtet (...) Till schreibt die Texte auf die fertige Musik - seine Gedichte hängen im Proberaum an der Wand, und gemeinsam mit allen Bandmitgliedern wird der Song Stück für Stück erarbeitet, d. h. Refrain und Strophe stehen im Vorfeld noch gar nicht fest."
Die Musik- und Textideen werden dann so lange bearbeitet, bis sie stimmig zueinander passen. Wenn sich die sechs bei einem Stück gar nicht einig sind, fällt das einfach weg. Was dann übrig bleibt, probt die Band zusammen. Und wenn das zur Zufriedenheit aller gelungen ist, geht die Band schon mit beinahe fertigen Songs ins Studio, um die Albumproduktion zu starten.
Die begann beim "Herzeleid"-Nachfolger erst im Herbst 1996, einem sehr späten Datum, bedenkt man, dass das Debütalbum schon fast zwei Jahre alt war. Aber es ging nicht früher, weil Rammstein zum einen live sehr präsent sein wollten und ausgedehnt tourten. Zum anderen gelang "Herzeleid" immer wieder der Einstieg in die Charts, was ein zweites Album nur gestört hätte.
Aber schließlich fanden die sechs Musiker doch mit neuem Material den Weg ins Studio, wo wiederum Jacob Hellner ein weiteres Mal nach "Herzeleid" auf dem Produzentenstuhl saß. Unterstützt wurde er erneut vom Mixer Ronald Prent.
Sie verpassten den neuen Songs diesmal ein musikalisches Kleid mit mehr Keyboard-Klängen und Computer-Samples als auf dem eher gitarrenorientierten Vorgänger.
Später, in einem Bandinterview mit dem Musikmagazin NYRock aus dem November 1998, sagte Flake dazu (übersetzt): "So haben wir es geplant. Ich glaube, es ist weniger stressig, weniger anstrengend, unseren Liedern zuzuhören. Wenn man fünf oder sechs Stücke mit Heavy-Gitarren hört, kann das nervig sein. Deshalb klingen Samples in unserem Fall definitiv besser." Richard ergänzte: "Ich denke, es ist wichtig, eine gewisse Balance zu halten. Ich glaube, dass unsere Entwicklung als Band sicherlich in die richtige Richtung weist. Wir versuchten etwas Neues, und wenn wir das nicht mehr mögen, probieren wir etwas anderes aus. Es ist immer einfach zurückzugehen, aber es ist viel schwieriger voranzuschreiten." Und Bassist Oliver Riedel fügte hinzu: "Es gibt nicht viele gitarrenorientierte Alben, denen die Leute zuhören. Ich meine, hör sie dir vom ersten bis zum letzten Titel an. Nach einer Weile können die Gitarren nerven und du stellst sie aus - aber wir haben uns nicht wirklich vom Gitarrensound verabschiedet."
Und das kann man bei den Songs, die Ende 1996 im Studio aufgenommen wurden, mitbekommen, denn Paul und Richard lieferten auch hier eine harte Gitarrenwand. Die treibende rhythmische Struktur blieb, wenn auch die Lieder eingängiger und durch die neuen elektronischen Klangfarben vielseitiger und um einiges raffinierter daherkamen.
An den Texten änderte sich hingegen so gut wie nichts. Auch auf "Sehnsucht", wie Rammstein den Debütnachfolger nannten, hielten Sie an dem Konzept der provokanten Inhalte fest. Till beschreibt z. B. in "Tier", wie ein Vater seine Tochter sexuell missbraucht, indem er sie vergewaltigt, und diese Tochter ihn dann später tötet. Und in "Spiel mit mir" stellt er den Inzest zwischen zwei Brüdern dar. Damit griff er Tabuthemen auf, was natürlich etliche empörte Kritiken nach sich zog. Und hinzu kam, dass der Rammstein-Frontmann erneut in der Ich-Form sang, sodass mit einigen Songs sozusagen der Täter direkt zum Zuhörer sprach.
Andere Lieder gewährten Einblicke in kalte sexuelle Fantasien des Texters wie beim Stück "Bück dich", in dem der Sänger mitteilt, dass ihm beim Liebesspiel gleichgültig ist, mit wem er es zu tun hat. Hauptsache, er wird befriedigt. Noch eine Spur härter geht es in "Bestrafe mich" zu, in dem Sado-Maso-Praktiken geschildert werden. Über die reine animalische Lust singt Till in erotisch-anstößigen Stücken wie "Sehnsucht" und "Küss mich (Fellfrosch)". Letzteres ist eine "Hymne auf das primäre weibliche Geschlechtsorgan", wie in Musikexpress/Sounds in der Ausgabe 09/97 zu lesen war. Für diese Ausgabe des Musikmagazins gab die Band ein Interview, und Till sagte über "Fellfrosch": "Allein das Wort ist schon eine Hommage an diesen Körperteil. Das ist eine schöne, kindliche Sichtweise: Fell steht für kleine, pelzige Tierchen. Hamster, Meerschweinchen und so. Und Frosch oder Schnecke sorgen für den zweiten Teil. Faszination und Ekel, beides spielt da eine Rolle." Auf den Hinweis des Interviewers, dass Feministinnen "Fellfrosch" wahrscheinlich kritisieren würden, antwortete Till: "Hoffentlich! (...) Es geht um eine Sache, die völlig selbstverständlich ist, die jeder kennt. Das ist doch das Normalste auf der Welt. Übertriebener Feminismus ist ein Armutszeugnis. Und wenn sie sich dann darüber aufregen, ist das für mich nur ein Beweis dafür, dass sie keinen Humor haben. Neulich hat mir erst wieder jemand einen Witz über einen 40-Zentimeter-Pimmel erzählt. Es war eine Frau."
An gleicher Stelle äußert sich der Sänger und Texter der Gruppe auch über eines der kritischen Stücke des Albums, den Song "Du hast", der die hochheilige Institution Ehe demontiert, indem er Zweifel deutlich macht, dass sich zwei Menschen bis zu ihrem Tod treu sein können und zusammenbleiben: "'Willst du, bis der Tod euch scheidet ... - das ist doch genauso unnatürlich wie ein Tattoo auf dem Arm. Das geht bis zum Rest meines Lebens nicht mehr raus. Irgendwann sitze ich als Rentner da mit meinem Enkel auf dem Schoß, und der fragt, was ich da für ein albernes Ding auf dem Oberarm habe."
Nachdem die Textinhalte und die Musik zueinander gefunden hatten und die Songs schließlich fertig aufgenommen und produziert waren, stellte sich wieder die Frage nach der Optik der Verpackung. Noch einmal wollte die Band kein so simpel...