Schweitzer Fachinformationen
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Die Marktwirtschaft verbessere unser Leben - das war die Meinung der Professoren, Studierenden und Wirtschaftspolitiker, als ich, Werner Vontobel, vor gut fünfzig Jahren in Basel Ökonomie studierte. Diese einhellige Einschätzung war durchaus fundiert. Jahr für Jahr lebte es sich komfortabler; man konnte sich immer mehr leisten. Erst standen in allen Zimmern Kohleöfen, dann kam die Umstellung auf Zentralheizung mit Heizöl. Man konnte sich einen Kühlschrank, einen Fernseher, ein Auto kaufen, konnte erstmals ins Ausland in die Ferien fahren und erfreute sich an der Fünftagewoche und so fort. Art und Menge der produzierten Güter beeinflussten unser Leben und machten es bequemer.
Wir glaubten an den unaufhaltsamen technologischen Fortschritt und an eine Marktwirtschaft, die für mehr Wohlstand und Freizeit für alle sorgte. Schließlich hatte der berühmte Ökonom John Maynard Keynes1 vor einem knappen Jahrhundert prophezeit, seine Enkel müssten nur noch fünfzehn Stunden pro Woche arbeiten. Und tatsächlich, nach dem Zweiten Weltkrieg waren wir auf dem Weg dorthin. Man sprach vom Wirtschaftswunder; der Manufacturing Belt in den USA oder der Ruhrpott in Deutschland waren dessen Zentren. Doch es kam anders. Sowohl der Manufacturing Belt als auch der Ruhrpott liegen seit Jahrzehnten wirtschaftlich am Boden, wie viele andere ehemals boomende Regionen. Aus dem Manufacturing Belt ist inzwischen der Rust Belt geworden. Die heutige Generation wäre bereits zufrieden, wenn sie das Wohlstandniveau ihrer Eltern halten könnte. Sofern die Zwanzig- bis Dreißigjährigen in Italien überhaupt einen Job haben, ist ihr Salär real rund 30 Prozent tiefer als das ihrer Eltern damals im gleichen Alter. Angestellte in den USA bekleiden oft zwei Jobs, um überleben zu können.
Heute bringt uns der technologische Fortschritt eher Arbeitslosigkeit denn Wohlstand. Unser Lebensglück hängt weniger davon ab, wie viel wir verdienen, als vielmehr davon, ob wir uns vor lauter Angst vor Entlassung die Schikanen von überforderten Vorgesetzten gefallen lassen müssen - oder ob wir in Ruhe arbeiten können. Somit beeinflusst die Wirtschaft unser Leben vor allem durch die Art und Weise, wie sie unsere Gesellschaft desorganisiert.
Wie konnte das geschehen? Was haben wir übersehen? Die herkömmliche Ökonomie gibt auf diese Fragen keine Antwort. Sie lebt immer noch in einer Welt, in der die »unsichtbare Hand des Markts«2 alles zum Besten aller bestellen soll. Was nicht ins Bild passt, wird als »normale konjunkturelle Schwankung« auf einem stetig nach oben führenden Pfad interpretiert. Und es geht ja nach oben - wenn man bloß das BIP3 im Auge hat. Der entscheidende Hinweis kam von einem belgischen Wirtschaftshistoriker. »Ökonomische Gesetze gelten nur so lange, bis sich die stillschweigenden und nie hinterfragten Annahmen ändern, auf denen sie beruhen«, sagte Professor Paul Bairoch in einem Gespräch mit mir.
Eines dieser bis heute nie hinterfragten »Gesetze« geht davon aus, dass sich die Arbeitszeiten mit der steigenden Produktivität verringern. Das hat bis in die achtziger Jahre einigermaßen funktioniert - aber nur, weil die Politik und die Gewerkschaften die unsichtbare Hand des Markts sanft geführt haben. Nach dem Ende der periodischen Arbeitszeitverkürzungen wurde die Erwerbsarbeit zum knappen Gut.
Neue bezahlte Arbeit wurde insbesondere durch die Kommerzialisierung von Pflege und Betreuung geschaffen, was bisher in Haushalten und Kommunen erledigt wurde - nicht gegen Geld, wie in der Marktwirtschaft, sondern in Gegenseitigkeit. Damit wurde ein weiteres unhinterfragtes Gesetz hinfällig, nämlich dass die geldlose Bedarfswirtschaft und die auf Geld beruhende Staats- und Marktwirtschaft sich nicht in die Quere kommen sollen. Bedarfswirtschaft umfasst Tätigkeiten wie das Führen eines privaten Haushalts mit Kochen und Reinigen, das Großziehen von Kindern, aber auch ehrenamtliche Tätigkeiten in Vereinen und/oder Genossenschaften.4
Bis zum Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg störten sich die Bedarfswirtschaft, Markt und Staat nicht. Damals war es tragbar und durchaus sinnvoll, sich auf das optimale Funktionieren des Markts zu konzentrieren. Doch heute leben wir in einer ganz anderen Welt. Der Markt überwuchert und zerstört sowohl die Staatswirtschaft als auch die Bedarfswirtschaft.
Wie soll die auf soziale und räumliche Nähe angewiesene Bedarfswirtschaft gedeihen, wenn der Markt die Menschen zu reinen Arbeitskräften degradiert und etwa von den Müttern und Vätern totale Flexibilität und Mobilität verlangt? Die Stunden, die wir heute im Stau, auf den immer längeren Arbeitswegen oder mit der Stellensuche vertun, konnten wir früher dazu verwenden, mit den Kinder zusammen zu sein, mit Nachbarn zu plaudern oder unsere Pizza selbst zu backen.
Wie soll der Staat seine Aufgaben finanzieren, wenn ihm der Standortwettbewerb die Mittel raubt und ihn außerdem noch zwingt, die Löhne der Privatwirtschaft zu subventionieren? Wie soll die Demokratie funktionieren, wenn immer weniger Menschen längerfristig einen wirklichen Lebensmittelpunkt haben?
Die Wirtschaft umfasst nicht nur den Markt, sondern unsere gesamten Tätigkeiten, also auch die Bedarfswirtschaft und die Staatswirtschaft. Wenn man diese drei Koordinationsmechanismen vergleicht, erkennt man die entscheidende Schwäche des Markts. Die Bedarfsund die Staatswirtschaft reagieren auf Bedürfnisse der eigenen Gemeinschaft: Eltern betreuen ihre Kinder, Nachbarn helfen sich gegenseitig, der Staat baut Schulen für seine Bürgerinnen und Bürger. Der Markt hingegen reagiert lediglich auf die von ihm selbst geschaffene monetäre Nachfrage nach Unbekanntem. So werden Geräte, Fahrzeuge, Lebensmittel und vieles mehr in der Hoffnung produziert, sie irgendwo auf der Welt verkaufen zu können.
Konzerne produzieren nicht am Ort des Bedürfnisses, sondern dort, wo die Arbeit gerade am billigsten ist. Und sie lassen Gebiete - wie den Ruhrpott oder den Rust Belt - zurück, in denen jegliche Strukturen zunichtegemacht wurden, sodass die Bewohnerinnen und Bewohner nicht mehr in der Lage sind, auf die eigenen Bedürfnisse zu reagieren.
Diese Erkenntnisse ließen mich vermuten, dass wir unsere Lebensqualität markant steigern könnten, wenn wir einen großen Teil unserer produktiven Tätigkeiten von der Markt- in die Bedarfswirtschaft verlagern. Dies würde für die allermeisten Menschen die besseren und gesünderen Arbeitsbedingungen ergeben, da sowohl Produktion als auch Konsum auf Augenhöhe erfolgen. Denn die Marktwirtschaft steht unter Konkurrenzdruck und muss möglichst billig produzieren, was sich nicht nur auf das Arbeitsklima, sondern auch auf die Produktqualität niederschlägt und zu Überproduktion führt. Diese Ineffizienz wird noch verstärkt durch die zunehmend ausufernde Bürokratie des Markts. Die Bedarfswirtschaft reagiert hingegen direkt auf unsere Bedürfnisse und erlaubt eine regionalere Ausrichtung, was wiederum die Umwelt schont.
Es bleibt die Frage, wie wir die Umstellung auf vermehrte Bedarfswirtschaft konkret bewerkstelligen können. Tatsächlich liegt uns Bedarfswirtschaft sehr nahe. Sie beginnt ganz einfach und im Kleinen, etwa indem man sich gegenseitig die Kinder hütet, die Haare schneidet, einen Mittagstisch anbietet, das Auto teilt, einen Schrebergarten pflegt und vieles mehr.
Doch wenn man solche Dienstleistungen in größerem Stil betreiben will, werden unter anderem städtebauliche Maßnahmen, Flächen und Räumlichkeiten etwa für Küchen und Produktion vonnöten sein, für Launch, Laundry und Lager; eventuell macht gar eine regionale Währung Sinn. Mein Mitautor Fred Frohofer ist auf diesem Gebiet praktisch und politisch tätig. Er gründete mit Hans E. Widmer und anderen zusammen den Verein Neustart Schweiz, recherchiert und feilt am sogenannten Nachbarschaftsmodell und entwickelt dafür Konzepte.
Auf all dieser Vorarbeit baut unser Buch auf. In den folgenden Kapiteln gehen wir vertieft darauf ein, was Wirtschaft wirklich bedeutet und welche konkreten Vorteile die bewusste Verlagerung von Tätigkeiten in die Nachbarschaft bringt. So wird unter anderem aufgezeigt, wie ein Paar mit zwei Kindern die bezahlte Arbeit pro Elternteil auf etwa eine Zwanzig-Stunden-Woche reduzieren kann. Auch die unbezahlte Arbeit nimmt merklich ab, da sie im Rahmen einer Nachbarschaft intelligenter organisiert und teilweise auf rüstige Rentner und Rentnerinnen übertragen werden kann. Zudem hat die Nachbarschaft die Funktion eines sozialen Sicherheitsnetzes, das den Sozialstaat entlastet, aber nicht ersetzen soll.
Es wird mit Annahmen operiert, die realistisch sind. Es werden Ansätze verfolgt, die sich bereits bewährt haben. Ob sich der Wandel von der Marktwirtschaft zur Bedarfswirtschaft verwirklichen lässt, ob mehr Bedarfswirtschaft unser Leben verbessern wird, hängt entscheidend davon ab, wie schnell die Ökonomen und Wirtschaftspolitikerinnen verstehen, was Wirtschaft wirklich und umfassend ist - eben...
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