Schweitzer Fachinformationen
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Anna Katharina Fröhlich, geboren 1971, lebt am Gardasee und veröffentlichte die Romane «Wilde Orangen» (2004), «Kream Korner» (2010) und «Der schöne Gast» (2014). Sie erhielt u. a. den Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. 2011 war «Kream Korner» für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
«Wir leben in einer Festung. Die Edleren unter uns aber müssen auf die Zinnen und Türme verzichten, auf allen Glanz, und in die Tiefe hinunter, wo tief unter der Pracht der Welt die Größe des Menschen wurzelt, wo in bärtiger Majestät sein erhabenes Urbild thront, ein verschüttetes, uraltes Standbild.»
Herman Melville
Es war der 19. März, derselbe Tag, an dem Timur im Jahr 1399, auf seiner Rückkehr von Indien in die Mongolei, mit einem Elefantenheer und indischen Steinmetzen im Gefolge den Indusstrom überquert hatte.
Die Temperatur war bereits auf achtunddreißig Grad gestiegen. Jedes Staubkorn war mit Hitze angefüllt. Keine einzige Wolke zog am Himmel dahin. In wenigen Wochen würde die rastlose Sonne die Äcker ausdörren und zerfurchen, die gebrechlichen und hinfälligen Bewohner dieses schattenlosen Landstriches, die kranken Kühe, die hageren Straßenköter, die ausgemergelten Katzen und die entkräfteten Menschen zur Strecke bringen.
Vor der Schranke des Bahnüberganges von Moth hatte sich ein knatternder Schwarm von Motorrädern gebildet, hatten sich Kühe und Kälber, Ziegen und Hunde, Traktoren und Kinder auf großen, schwarzen Fahrrädern zu einer Menge angestaut, die auf den langsam aus der Ferne heranrauchenden Güterzug wartete, der mit einem in der weiten Ebene verhallenden Pfiff seinen Durchzug ankündigte.
Jenseits des Schrankenpostens tat sich das einstige Königreich von Samthar auf.
Hier hatte im frühen achtzehnten Jahrhundert der Ahnherr des jetzigen Maharajas von Samthar ein sich über vierhundertsechzig Quadratkilometer erstreckendes Reich gegründet.
Es ist ein spärlich besiedeltes, doch fruchtbares Stück Erde. Klar und rauschend durchfließt das Wasser eines breiten Kanals die Felder, wo Weizen und Reis, Senf und Hanf gedeihen, wo Mango- und Amlabäume, Guavas und Papayas wachsen.
Von blühenden Kletterpflanzen umrankte Akazienbäume säumten die schnurgerade durch die Felder führende Landstraße.
Hin und wieder erblickte ich in der Ferne den Butea monosperma, von den Briten auch Flame of the Forest genannt, ein Baum, dessen leuchtend rote, geruchlose Blüten wie kleine, blutgetränkte Fahnen an den laublosen Zweigen hingen. Diese nektarreichen Blüten zogen zu dieser Jahreszeit die Vögel des Landes an, die Hirtenstare und Langschwanzdrosslinge, die Bülbül und die indischen Zaunkönige.
Es ist nicht lange her, da färbte man mit dem durch Alaun angereicherten Saft dieser Blüte Baumwolle und stellte aus den jungen Wurzeln des Baumes Bastsandalen her. Den Frauen dienten die Blüten als Haarschmuck, den Armen die Blätter als Teller. Nur die Ziege zog schon immer gleichgültigen Blickes an diesem dem Gott Brahma heiligen Baum vorüber.
Ein einziges Buch begleitete mich auf diese Reise, Manus Gesetzbuch, ein Band, den ich mir einmal am Tag, dem antiken Gebot der sortes vergilianae folgend, aufs Geratewohl aufzuschlagen vorgenommen hatte, um mit geschlossenen Augen meinen Zeigefinger auf eine Textstelle zu legen und sie hernach als Offenbarung zu lesen. Doch stellte sich dieses Spiel bald als so aufregend heraus, dass ich, seit meiner Ankunft in Indien, mehrmals am Tag nach der Manusmriti griff, um sie, einer inneren Laune folgend, aufzuschlagen.
Beim Anblick des Butea monosperma, der seinen seltsamen Namen von dem Earl of Bute, einem Patron der Botanik, herleitete, fiel mir eine am Morgen im Zug aufgeblätterte Stelle ein, die das Seelenleben der Vegetation mit einem klaren Satz erläuterte: «Die Pflanzen, die von vielgestaltiger Finsternis umgeben sind, verursacht durch ihre Taten in früheren Leben, haben ein inneres Bewusstsein und fühlen Freude und Schmerz.»
Gemeinsam mit dem Gesang der mit Weizengarben auf dem Kopf von den Feldern zurückkehrenden Schnitterinnen, dem Zischen der für diesen Tag letzten Sichelschwünge, dem Hupen von Motorrädern, dem auf dem Asphalt hart aufschlagenden Geklapper von Büffel- und Ziegenhufen, dem Gelächter einer auf der Ladefläche eines Lastwagens vorüberfahrenden Schar Frauen, die aus ihren bunten Tüchern, aus dem Blitzen ihrer gläsernen Armreifen und dem Goldschein ihrer Ohrringe wie zwischen den leuchtend aufflatternden Federn eines Papageienschwarms hervorblickten, drangen heiße Luftströme in den Wagen.
Weiße Schmetterlinge schwebten über den Büschen und Sträuchern entlang der Straße. Auf den Zweigen der Casuarina saßen noch weißere Sumpfvögel, mit jener würdevollen Reglosigkeit, die Menschen nicht kennen, wenn sie irgendwo Platz nehmen. Athenahaft, schlank und stolz wachte eine auf einem Felsbrocken stehende junge Ziegenhirtin über ihre Herde, den Stock wie eine Lanze umklammert.
Plötzlich tauchte in der Ferne das Fort von Samthar auf. Da war es, mit seinen Bastionskämmen, Türmen, Zinnen, Erkern und Scharten. Ein uraltes, zahnlückiges Kamel, ragte es aus tropischem Dickicht hervor, aus dem Grün von Palmen, Peepalbäumen und dem opaken Schlammgrün des Burggrabens.
Bald geriet das Taxi in das am Fuß der Festung liegende Dorf, das in seinem Gewirr aus Gassen, alten und modernen Gebäuden, verfallenen Moscheen und brandneuen Tempeln jeglichen architektonischen Charakters ermangelte.
Zu Geld gekommene Muslime hatten sich um die Jahrhundertwende zwei- und dreistöckige, hellblau gestrichene, nunmehr verfallene Stadtpalais mit spitzbogigen Eingangspforten, Alkoven und verzierten Fensterumrandungen bauen lassen, die zwischen den einfachen, meist aus Ziegeln oder Lehm gebauten Häusern und Hütten der Hindus standen. Holzfeuer brannten in den Höfen, auf den Dächern wehte Wäsche an langen Leinen, vor den Eingangstüren trockneten Kuhfladen.
Winkelläden, Schneiderstuben, Armreifenbuden, Juwelier- und Stoffgeschäfte öffneten sich am Straßenrand wie kleine Theaterbühnen, auf die das Sonnenlicht fiel.
Geruch von überreifen Papayas, von Gemüseabfällen, Räucherstäbchen und Urin drang durch das offene Wagenfenster.
Auf der Marktstraße hockten die Gemüsehändler wie lauernde Affen auf ihren Holzkarren und hielten zwischen Apfel- und Blumenkohlpyramiden, inmitten von Türmen aufgeplatzter Granatäpfel und Haufen plastikroter Chilischoten Ausschau nach Kundschaft.
Wasserbüffel schritten glotzend zwischen den Ständen umher, und rosagefiederte Hühner, die am Holi-Fest teilgenommen hatten, flatterten, von den Marktleuten aufgescheucht, unter die Handwagen, wo sie auf pinkfarben besprühte Lämmchen stießen, die hier Zuflucht vor der Sonne gesucht hatten.
Die Bäuerinnen am Straßenrand hatten die Früchte ihrer Felder auf großen Tüchern ausgebreitet. Kleine Kinder spielten zwischen Säcken und geflochtenen Körben. Ein beinloser junger Mann mit Schnurrbart und dem Lächeln eines scheuen Mädchens schob sich auf einem handgefertigten Fuhrwerk zwischen den Ständen hindurch. Auf einem Müllhaufen schlug ein Rabe seinen Schnabel in den Leib einer toten Ratte. Eine junge Schönheit balancierte in einem erbsengrünen Sari einen Wassereimer auf ihrem Kopf durch die Menge. Unter dem nackten Fuß eines Jungen in blauer Schuluniform zerbarst ein roter Apfel, und mit der Würde eines Dorfschullehrers bahnte sich ein alter Muslim mit einem Regenschirm als Spazierstock seinen Weg durch die Gemüseabfälle. Vor dem Eingang der Moschee stand ein Stier mit lang herabhängender Halswamme und betrachtete ein Schwein, das seine Schnauze bis zu den Augen in einen Abfallhaufen gegraben hatte.
Nur durch anhaltendes Hupen kam das Taxi im Kuhschritttempo in der lärmenden, feilschenden Menge voran, bis es vor die Zufahrt der Festung mit ihren drei Ringmauern gelangte.
Hier markierten zwei auf Pilastern einander gegenübersitzende, vom Zahn der Zeit zernagte Steinlöwen die Grenzlinie zum einstigen Festungsgebiet, Herz des Königreichs von Samthar.
Vor den hohen Mauern des Forts verlor sich das Gedränge. Neben der Hütte einer Steinmetzfamilie, die unter schwarzen, niedrig gespannten Plastikplanen für die Festung Steine schlug, hatte ein Parfumhändler seinen Karren voller Flakons aufgestellt.
Mein Blick begegnete den Augen in einem fladenrunden, von grauem Steinstaub überzogenen Gesicht. Es waren die sumpfgrünen, todernsten Augen...
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