Schweitzer Fachinformationen
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DER BRIEF
Der Brief fiel Dorothy gleich auf. Zwar war der Umschlag weiß und glich mit dem Sichtfenster und seiner länglichen Form den Briefen, die sie von Versicherungen und Banken kannte, doch dieser Briefumschlag fühlte sich anders an. Das Papier war weicher und von einem eleganten Weiß, das der Absender sicher sorgfältig ausgewählt hatte. Dorothy kannte sich seit ihrer Zeit als Postbotin mit Briefen aus. Es war ein extravagantes Weiß, das jemand wählte, der eine wichtige Person war oder sein wollte. Wer dieses Weiß für Briefe verwendete, hatte Geschmack und musste nicht auf farbige Umschläge ausweichen, um sich hervorzutun.
Dorothy schloss den Briefkasten zu und stieg in Hausschuhen die Treppen hoch zu ihrer Wohnung. Das Licht im Treppenhaus war mal wieder kaputt und Dorothy fluchte leise, als sie im ersten Stock gegen einen Staubsauger stieß. Ihre Wohnungstür war angelehnt und sie schlüpfte leise wie eine Katze durch den hellen Spalt hinein in die Wärme.
In der Küche brannte Licht und der Geruch von Mandarinen verströmte vorweihnachtliche Gemütlichkeit. Dorothy legte das Kuvert auf den Esstisch und strich mit leichter Hand darüber. Absender des Briefes war ihr ehemaliger Chef Ernst Knuff, der Besitzer des Kaufhauses, in dem sie vor Jahren als Verkäuferin gearbeitet hatte. Sie hatte nie viel mit ihm direkt zu tun gehabt. Er besaß neben dem Kaufhaus an der Alster noch einige Boutiquen, in denen reiche Leute viel Geld für das ausgeben konnten, was andere im Kaufhaus kauften. Knuff war meistens in einer seiner Boutiquen anzutreffen, wo Champagner, eine Armada an puppig-hübschen Verkaufsberaterinnen und seine glänzende Anwesenheit die gepfefferten Preise rechtfertigten. Dorothy war einmal in einer der Boutiquen gewesen. Der Chef persönlich hatte im Kaufhaus angerufen und nach einer Dame geschickt, die ein bestimmtes Hutmodell aus der Hutabteilung und eine Brosche in Form einer goldenen Spinne aus der Schmuckabteilung bringen sollte.
»Bitte verhalten Sie sich recht unauffällig, Fräulein Dorothy, und nehmen Sie ruhig einen Mantel mit Pelzbesatz und ein paar Lederhandschuhe, ich habe bereits in der Abteilung angerufen und die Herrschaften informiert. Die Preisschilder können Sie einfach abschneiden.«
Knuff hatte noch gesagt, dass sie ein Herz sei. Dorothy ahnte, dass er das zu jeder Verkäuferin gesagt hätte. Für ihn waren sie alle gleich, und wenn wir ehrlich sein wollen, hatte er, was Frauen anging, ein Gedächtnis wie ein Sieb.
Neben dem Mantel und den Handschuhen erlaubte sich Dorothy, aus ihrer eigenen Abteilung noch ihr Lieblingsstück zu borgen: einen grünen Filzhut, der eng am Kopf saß und ihr rundes Gesicht einrahmte.
Und dieser Ernst Knuff schickte nun ihr, Dorothy Pirol, einen Brief in einem weichen, weißen Umschlag. Sie arbeitete schon seit sechs Jahren nicht mehr im Kaufhaus. Nachdenklich strich sie über das glatte Papier. Dieser Umschlag war zu fein, um einfach aufgerissen zu werden, sicher war er gefüttert. Entschlossen nahm sie ihre neue Stoffschere und trennte den Brief sauber auf.
Es war eine Einladung zu einer Weihnachtsfeier, gedruckt auf einer anthrazitfarbenen Karte, mit einer schnörkeligen Unterschrift. Dorothy hielt beim Lesen die Luft an.
Liebe Dorothy,
wie in jedem Jahr möchte ich mit meinen Freunden und Geschäftskollegen die legendäre Weihnachtsfeier feiern. Als Highlight wird um Mitternacht der Schokoladenbrunnen aufgestellt!
Wann? 21. Dezember ab 20 Uhr
Wo? Villa Knuff, Alsterpfad 10
Mit Bitte um Rückmeldung
Ernst
Ernst Knuff lud sie zu sich nach Hause ein. War dies die Eintrittskarte in die Welt der Reichen, die Dorothy so faszinierte? Was sollte sie bloß anziehen? Immerhin war er ein Millionär. Ihr kamen gleich einige Outfits aus ihrer Secondhandkollektion in den Sinn. Sie las die Karte mehrmals durch und schloss kurz die Augen, sie kannte die Straßenzüge an der Alster gut. Knuffs Villa lag an einem lauschigen Kanal, Dorothy war den Alsterpfad oft mit dem Fahrrad entlang gefahren, ohne zu wissen, dass ihr ehemaliger Chef hier residierte. Sie nahm sich vor, gleich heute auf dem Weg zu Armins Knopfladen an dem Haus vorbeizufahren, so weit war es nicht, obwohl Barmbek-Nord doch eine ganz andere Welt war.
Die Einladung löste gemischte Gefühle in Dorothy aus. Sie würde alle modischen Register ziehen, die ihr zur Verfügung standen. Vielleicht bräuchte sie ein neues Kleid, ein Cocktailkleid! Es gab doch sicher Cocktails auf Partys von Millionären?
Wenn sie zu dieser Weihnachtsfeier eingeladen war, dann würde sicher auch Sarah kommen. Die Aussicht, ihre Kollegen von früher wiederzusehen, erfüllte Dorothy mit leiser, freudiger Melancholie. Sarah und Marc waren damals ein Paar gewesen, aber sie hatten sich wieder getrennt und Sarah war jetzt, soweit Dorothy wusste, mit Paul verheiratet und hatte ein Kind. Liebe war ein kompliziertes Thema, und Freundschaft war noch viel komplizierter. Sarah und Dorothy waren damals, während ihrer Zeit im Kaufhaus Ende der Neunziger, die dicksten Freundinnen, bis ihre Freundschaft abrupt auseinanderriss. Dorothy hatte Sarah seitdem nicht mehr gesehen und einen Mantel des Vergessens über die Sache gelegt, der im Laufe der Jahre unter einem Haufen anderer Themen begraben wurde. Der Brief von Knuff führte Dorothy schmerzlich vor Augen, dass sie Sarah vergessen hatte wie einen abgelegten Pullover.
Sie begegnete Marc gelegentlich auf der Straße, er wohnte in der Nähe und arbeitete jetzt in einer von Knuffs Boutiquen. »Komm mich doch mal bei der Arbeit besuchen«, hatte er sie schon mehrmals eingeladen. Sie hatte jedes Mal geantwortet, dass sie nicht die Zeit hätte, denn sie war ja arbeitslos und damit beschäftigt, ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben - das verschwieg sie Marc gegenüber natürlich. Die Jobs, mit denen sie sich die letzten Jahre über Wasser gehalten hatte, waren anfangs noch spannend gewesen, doch die Zufriedenheit, die Dorothy in einer Arbeit suchte, wollte sich nicht einstellen. Nicht als Verkäuferin in der Hutabteilung, nicht als Käsefachverkäuferin, nicht im Musikaliengeschäft, in dem sie nur einen Monat als Aushilfe gejobbt hatte, und auch nicht als Postbotin, wobei ihr dieser Job noch am besten gefallen hatte. Sie sah sich mehr als Künstlerin, liebte Farben und Formen und hatte Visionen, die sich in Bildern manifestierten. Dorothy war nicht besonders wortgewaltig, sie war jedoch stilsicher und konnte gut zeichnen. Sarah hatte das an ihr immer bewundert.
Zeichnen fiel Dorothy schon als Kind leicht und im Kunstunterricht hatte sie immer eine 1 im Zeugnis gehabt. Ihre Eltern fanden, dass Zeichnen ein unnützes Talent sei, doch Tante Dorothea schickte ihrer Nichte regelmäßig Care-Pakete mit Zeichenpapier, Stiften, Tusche und Pinseln. Dorothy war die Tochter eines flachsblonden Mondkalbes und eines hammelbeinigen Ochsens, der seine Tochter nach der neunten Klasse abschulen wollte. Dorothys Tante, die ihren Bruder für so dumm wie fünf Meter Feldweg hielt, hatte sich für das Mädchen starkgemacht und ihn schließlich überzeugt, das Kind den Realschulabschluss machen zu lassen. Sie hielt ihrer Nichte gegenüber mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg und schimpfte gelegentlich über ihren Bruder, den sie als einen Knirps im Geiste bezeichnete.
Nach dem Schulabschluss ließ Dorothea Pirol ihre Nichte bei sich wohnen, bis sie einen Ausbildungsplatz zur Technischen Zeichnerin und ein Zimmer gefunden hatte. Die berufsberatende Dame beim Arbeitsamt hatte gesagt, dass Technisches Zeichnen ein gut bezahlter Beruf mit Aufstiegschancen wäre, und das hatte Dorothy, die damals wie heute nicht genau wusste, was sie wollte, schließlich überzeugt. Der Lohn während der Ausbildung reichte gerade aus, um sich im Studentenwohnheim ein kleines Zimmer zu mieten, doch die junge Frau fühlte sich sorglos, denn sie hatte das Gefängnis ihrer Kindheit unbeschadet hinter sich gelassen. Sie war glücklich, obwohl der Beruf der Technischen Zeichnerin gar nicht zu ihr passte und sie bald wusste, dass sie nach der Ausbildung keine Bauteile aus allen möglichen Ansichten zeichnen wollte. Berechnungen waren ihr ein Graus, und was ihr am schwersten fiel, war die Dokumentation ihrer Arbeiten unter Verwendung modernster Technologien. Nein, in diesem Beruf fühlte sie sich nicht zu Hause. Sie zeichnete lieber Kleider und Schnittmuster, und auch das war schon schwer genug. Sie kämpfte während der Ausbildung und biss sich durch, denn sie wollte ihrem Vater nicht die Genugtuung geben, dass sie ihre Ausbildung nicht zu Ende brachte. Tante Dorothea, in deren Änderungsschneiderei sie nach wie vor viel Zeit verbrachte und mit der sie alles besprechen konnte, was ihr auf dem Herzen lag, nahm ihr schließlich das Gefühl, als Mensch völlig ungeeignet zu sein; sie schaffte es auf ihre zupackende, herzlich-motivierende Art, die Wogen der Empörung zu glätten, die Dorothy mit nach Hamburg gebracht hatte. Von ihrer Tante lernte sie schließlich, was es hieß, dass Kleider Leute machten.
»Kleide dich für das Leben, das du haben möchtest. Weißt du, eine Gehaltserhöhung kriegst du nur, wenn dein Kostüm perfekt sitzt. Wer das nicht weiß, dem ist nicht mehr zu helfen. Egal, welchen Beruf du nun hast.«
Dorothea Pirol schaffte eine Atmosphäre, die es Dorothy erlaubte, über ihr Leben nachzudenken. Sie warf ihre wenigen Habseligkeiten und Klamotten, mit denen sie nach Hamburg gekommen war, in einen Container, kleidete sich neu ein und legte schließlich auch ihren Namen ab. Seitdem nannte sie sich Dorothy. (Dorothy hieß nämlich gar nicht Dorothy, sondern Tilda Dorothea,...
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