Schweitzer Fachinformationen
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An einem Samstag Ende September 1419
Ein warmer Wind trieb kleine schneeweiße Wolken über den tiefblauen Himmel und ließ die Blätter der Obstbäume, die dem Garten der Christoffelsschwestern Schatten spendeten, leise rascheln. Serafina lehnte am Zaun, den Hund Michel zu ihren Füßen, und winkte ihrer Freundin Grethe nach.
Was für ein herrlicher Tag! Die Luft war rein und klar, von der drückenden Hitze des Hochsommers war nichts mehr zu spüren. Gemeinsam hatten Grethe und sie einen Korb voll Buschbohnen geerntet, aus denen ihre Freundin, zusammen mit gebratenem Speck und Knoblauch, ein schmackhaftes Mittagessen bereiten wollte. Schmackhaft würde die Mahlzeit mit Sicherheit werden, denn Grethe war eine begnadete Köchin. Dass ihr die eigenen Gerichte zusagten, war ihrem rundlichen Leibesumfang deutlich anzusehen.
Serafina selbst hatte sich nur eine Brotzeit mitgenommen, um den Tag zu nutzen und ihr Kräuterbeet von Unkraut zu befreien und den Boden zu lockern. Am Nachmittag würde Adalbert sie abholen kommen. Fast ebenso sehr wie das Mischen der Salben und Arzneien für ihre kleine Armenapotheke liebte sie die Arbeit hier im Garten in der Lehener Vorstadt, der ihr, auch nachdem sie aus der Schwesternsammlung ausgetreten war, zur freien Verfügung stand. Die Stunden hier draußen bedeuteten jedes Mal ein Labsal im Vergleich zum Lärm und Gestank in der Stadt.
Michel winselte der davonschlendernden Grethe jammervoll nach, und Serafina lachte. «Sag bloß, du wolltest mit ihr nach Hause. Glaubst du etwa, du würdest beim Kochen etwas vom Speck abbekommen?»
Wie zur Antwort wedelte Michel mit seiner lustig nach oben geringelten Rute. Der kleine hellbraune Mischlingshund war ihr vor gut vier Jahren im Dreisamtal zugelaufen und gehörte seither als einziger männlicher Mitbewohner zum Beginenhaus Sankt Christoffel. Da Adalbert sich immer so um sie sorgte, hatte sie ihm versprechen müssen, den Hund als ihren Bewacher mitzunehmen, wann immer sie allein im Garten arbeitete. Und ein verlässlicher Bewacher war Michel allemal, hatte er ihr doch schon einige Male aus der Patsche geholfen.
«Komm, gehen wir zurück in den Schatten.»
In der Wiege unter dem alten Apfelbaum rührte sich etwas. Zwei dralle Ärmchen reckten sich in die Luft, und gerade als sich Serafina über die Wiege beugte, schlug Kathrin ihre großen blauen Augen auf. Als sie die Hundeschnauze neben sich entdeckte, begann sie zu strahlen.
«Wau, wau!», rief sie begeistert.
Serafina hob sie hoch und drückte sie voller Liebe an sich.
«Ja, das ist der Michel, und er passt auf uns beide auf. Dann hat mein kleiner Schatz also endlich ausgeschlafen?»
Das Mädchen gluckste und strampelte mit den nackten Beinchen. Serafina mochte kaum glauben, dass ihre Tochter nun schon ein gutes Jahr alt war. Und wie schwer sie inzwischen geworden war!
Sie setzte das Kind auf der Decke ab, die sie vor der Sitzbank ausgebreitet hatte, und hockte sich dazu.
«Jetzt essen wir beide erst einmal zu Mittag.»
Seit Kurzem stillte Serafina nicht mehr, und so hatte sie neben Brot und Hartkäse auch einen Tiegel voll Haferbrei mitgebracht, den Kathrin jetzt Löffel für Löffel hungrig verschlang. Dabei saß sie kerzengerade und voller Aufmerksamkeit auf ihrem dicken Windelhintern.
Wie bei allem, was ihre Tochter tat, ging Serafina wieder einmal vor Mutterglück das Herz auf. In ihrem Leben hatte sie so viel Unbill erfahren, dass sie noch immer nicht fassen konnte, wie reich sie nun beschenkt war. Ihr Umzug von Konstanz nach Freiburg vor viereinhalb Jahren war das Beste, was ihr hatte zuteilwerden können. Die Beginen hatten ihr ein neues Zuhause gegeben, und mit Sicherheit würde sie noch heute bei den frommen Schwestern im Brunnengässlein leben, hätte sie sich nicht in den Freiburger Stadtarzt Adalbert Achaz verliebt, mit dem sie, nach einigen Irrungen und Wirrungen, zusammengekommen und inzwischen verheiratet war. Zu diesem großen Glück, das sie noch immer jeden Tag aufs Neue genoss, hatte der Herrgott sie beide auch noch mit einem gesunden, aufgeweckten Kind gesegnet, obwohl Serafina die dreißig längst überschritten hatte. Schon die Schwangerschaft hatte sie als etwas Wunderbares und ohne Beschwernisse erlebt, ganz so, wie sie in Adalberts klugen Büchern als causa optima beschrieben war. Die Geburt war zwar schmerzvoll gewesen, aber ohne Komplikationen, und die Stillzeit das reinste Himmelreich - mit Adalbert als liebevollen Kindsvater an ihrer Seite und mit Gisla und Irmla als zwei Gevatterinnen, die ihr und nun auch der Kleinen jeden Wunsch von den Augen ablasen.
Mit Adalberts Einverständnis hatten sie ihre Tochter auf den Namen Kathrin getauft, nach ihrer Taufpatin Catharina, der Meisterin der Christoffelsschwestern. Neben Adalbert war Catharina, diese kluge, herzensgute Frau, der vielleicht wichtigste Mensch in Serafinas Leben, nach all den schwierigen Jahren in Konstanz, in denen sie aus der Not heraus der unrühmlichen Profession als Hübschlerin nachgegangen war. Niemals hatte die Meisterin ihr daraus einen Vorwurf gemacht, sondern es im Gegenteil als eine wichtige Zeit der Prüfung angesehen. So war sie Serafina im Laufe der Zeit zu einer mütterlichen Freundin und Ratgeberin geworden.
«Ach Kathrin, was haben wir beide es doch gut getroffen!»
Fröhlich drückte sie der Kleinen einen Kuss auf die Stirn. Dann wischte sie ihr mit einem Tuch Mund und Wangen sauber, was Kathrin gar nicht mochte, weshalb sie sogleich empört das Gesichtchen verzog.
Anfangs hatten Serafina und Adalbert im Scherz oft gestritten, wem sie ähnlich sah: Serafinas Meinung nach kam sie eindeutig nach dem Vater, mit dieser spitzen Nase, der hohen Stirn und dem erstaunten Gesichtsausdruck beim Gähnen. Adalbert hingegen fand, dass Kathrin ganz die Mutter sei, da er nie zuvor so einen bildhübschen Säugling gesehen habe. Tatsächlich war Kathrins Haar inzwischen immer dichter und lockiger geworden, die Augen hatten ihr tiefes Blau behalten - gerade so wie bei Serafina. Auch sie selbst hatte als Kind blonde Locken gehabt, die allerdings mit dem Alter immer dunkler und glatter geworden waren.
Kaum hatte Serafina von ihr abgelassen, krabbelte die Kleine erstaunlich geschwind auf Michel zu und patschte ihm mit ihren Händchen auf den Kopf.
«Du darfst nicht so grob sein, mein Schatz», lachte Serafina. «Schau mal: Streich ihm nur ganz zart über das Fell.»
Im Grunde wusste sie, dass Michel ihrem Kind niemals etwas zuleide tun würde. Doch Kathrin hatte längst etwas anderes im Sinn. Sie krabbelte zu der Holzbank, die am Stamm des Apfelbaums lehnte, und zog sich daran hoch. Mit einer Hand hielt sie sich fest, mit der anderen winkte sie Serafina stolz zu.
Wie groß sie dabei wirkte! Nein, ihre Tochter hatte so gar nichts mehr von einem hilflosen Säugling. Acht Milchzähne besaß sie schon, schlief die Nächte durch und lernte jede Woche etwas Neues hinzu. So setzte sie sich neuerdings ihre Haube selbst auf, winkte jedem zu, den sie mochte, beim Abschied oder auch einfach so, und sprach schon die ersten Worte. Etwa Wauwau, womit auch Katzen gemeint sein konnten, Dada, wenn sie auf etwas zeigte, oder Baba zu ihrem geliebten Stoffball. Und natürlich immer wieder Mammam, wenn sie Hunger hatte oder nach ihrer Mutter verlangte. Nur mit dem Laufenlernen wollte es noch nicht so recht klappen. So hangelte sie sich zwar überall hoch, doch anstatt freihändig zu stehen, wenn sie losließ, plumpste sie jedes Mal auf ihr Hinterteil. Was sie nicht selten in zorniges Weinen ausbrechen ließ.
«Dada!», rief sie in diesem Moment und zeigte auf Michel, der sie aufmerksam beobachtete. «Wauwau!»
Der wedelte prompt mit dem Schwanz, woraufhin Serafina lachen musste. Wahrscheinlich hörte der Hund jetzt auch schon auf den Namen «Wauwau».
Serafina brach sich ein Stück Brot ab, legte eine Scheibe Käse darauf und biss hungrig hinein. Jetzt hätte sie nichts gegen Grethes Bohnen mit Speck gehabt. Derweil krabbelte Kathrin zu ihr zurück auf die Decke und griff nach dem Viertellaib Brot.
«Brobro!», rief sie.
Serafina war begeistert. «Mein süßer Schatz, du kennst ja ein neues Wort! Richtig, das ist Brot.» Sie brach ein kleines Eckchen ab und reichte es ihr. «Sag mal: Brot.»
«Brobro.»
Gerührt zog Serafina ihre Kleine an sich. War es nicht ein Geschenk des Himmels, dass sie Kathrin heranwachsen sehen durfte? Mit Vitus war ihr das nicht vergönnt gewesen. Ihren inzwischen fast zwanzigjährigen Sohn hatte sie als blutjunges Mädchen im Radolfzeller Armenspital zur Welt gebracht, wo man ihn ihr nach wenigen Monaten Stillzeit ohne Vorankündigung weggenommen und in ein Konstanzer Kloster gebracht hatte, wie sie später erfuhr. Vitus war nämlich die Frucht einer Schändung durch vier junge, betrunkene Unholde gewesen, und trotzdem hatte sie ihn von seinem ersten Atemzug an geliebt. Nur aus diesem Grund, nur, um ihren Jungen gegen ein Schmiergeld sonntags für einen kurzen Augenblick besuchen zu dürfen, war sie in die Bischofsstadt am Bodensee gezogen und dort prompt aus Not und Armut auf die schiefe Bahn geraten. Das Schlimmste sollte indessen noch kommen: Eines Tages war Vitus, bereits zum Knaben herangewachsen, spurlos verschwunden. Einer der Mönche hatte ihm überaus gehässig zugesteckt, dass seine Mutter nichts als eine Hure sei, woraufhin er aus dem Kloster geflohen war und sich einer Gauklertruppe angeschlossen hatte.
Es tat immer noch sehr weh, wenn sie an jene Zeit zurückdachte, und manchmal suchten die schrecklichen Erlebnisse sie sogar in ihren Träumen heim. Doch dann sagte sie...
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