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Schlettstadt im Elsass, Juni 1484
Die letzten Nachbarn hatten das Haus verlassen, um sich an diesem sonnigen Frühsommermorgen an ihr Tagwerk zu machen. In der Wohnstube waren die Kerzen niedergebrannt, die noch immer verschlossenen Fensterläden sperrten die Geräusche von der Gasse aus. Nur die leisen Atemzüge meines um drei Jahre älteren Bruders Martin, der auf der Bank in der Fensternische eingenickt war, durchdrangen die bedrückende, düstere Stille.
Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und trat an den Eichenholztisch, auf dem die Mutter im weißen Totenhemd aufgebahrt lag. Ein Leintuch, das ihr bis zu den Schultern reichte, verbarg ihre zerschmetterten Glieder. Allein das Gesicht war unversehrt geblieben von dem Sturz aus großer Höhe, aber es lag so gar nichts Friedvolles darin, wie damals beim Tod unserer kleinen Schwester. In den feinen, noch immer fast mädchenhaften Gesichtszügen schienen Schmerz und Verzweiflung wie eingemeißelt zu sein.
Als ich vorsichtig ihre kalte Wange berührte, schluchzte ich laut auf. Martin schreckte hoch.
«Entschuldige», murmelte er. «Ich muss eingeschlafen sein.»
Er strich sein schwarz-weißes Ordensgewand glatt und sah sich verwirrt um.
«Sind Vater und Gregor noch immer nicht zurück?»
Ich schüttelte den Kopf, ohne den Blick vom Leichnam der Mutter lösen zu können. Gestern Abend noch hatte sie beim Abendessen mit uns gescherzt, war nach etlichen Tagen der Schwermut endlich wieder fröhlich gewesen. Hatte bei dem sauren Kraut mit Schweinespeck herzhaft zugegriffen, sich nach Vaters Geschäften erkundigt und uns mitgeteilt, dass sie am nächsten Tag wieder einmal im Kramladen mithelfen wolle. Nach dem Essen war sie nicht gleich in ihre Schlafkammer verschwunden wie an den Tagen zuvor, sondern hatte gemeinsam mit mir den Küchentisch abgeräumt und den Abwasch gemacht. Als ich schließlich zu Bett ging, hatte ich sie noch leise aus der Nachbarkammer Psalmen singen hören Und jetzt lag sie vor mir, eine leblose Hülle, aus der alles, was ihr Wesen ausgemacht hatte, entschwunden war.
Ein Schauer lief mir über den Rücken. Nie wieder würde ich sonntags an diesem Stubentisch essen können, ohne das Bild der toten Mutter vor Augen zu haben.
«Wo bleiben sie denn nur?», hörte ich Martin sagen. «Sie müssten doch längst hier sein.»
Ich antwortete nicht. Mit einem Mal war ich froh, dass Ruhe eingekehrt war nach dieser schrecklichen Nacht, die ich mit meinem Vater und meinen beiden Brüdern in verzweifeltem Weinen und Beten zugebracht hatte, bevor heute Morgen Nachbarn, Freunde und Bekannte zuhauf ins Haus geströmt waren, um von der Mutter Abschied zu nehmen oder uns Trost zu spenden. Wie ein Lauffeuer musste sich die Todesnachricht in den Gassen verbreitet haben.
Martin trat neben mich. Seine Stimme war sanft, sanft wie die unserer Mutter.
«Du solltest in die Küche gehen und was zu essen vorbereiten, wenn gleich der Herr Pfarrer kommt. Ich hol derweil einen Krug Wein aus dem Keller und neue Kerzen.»
«Das hat doch noch Zeit.»
Wieder und wieder strich ich der Mutter über Stirn, Augen und Wangen, dann wandte ich mich ab und ließ mich kraftlos auf den Stuhl neben der Tür sinken. Durch die Stille hatte ich plötzlich erneut das Rufen meines ältesten Bruders Gregor im Ohr, mit dem er mich in der Nacht geweckt hatte: «Susanna! Wach auf! Es ist was Schreckliches geschehen.»
Draußen im Hof unter dem Sternenhimmel hatte sie gelegen, mit verrenkten Armen und Beinen, die Augen weit aufgerissen. So hatte mein Vater sie gefunden und schleppte sie gerade in den Hauseingang, als ich die Treppe heruntergerannt kam und zitternd in meinem dünnen Hemd vor ihr stehen blieb. Sie war schon nicht mehr bei sich gewesen, ihr Atem ging stoßweise, aber sie lebte noch, als Pfarrer Oberlin, den Gregor geholt hatte, ihr die Absolution erteilte und sie mit Weihwasser besprengte. Als wenig später der Wundarzt eintraf, hatte der nur noch ihren Tod feststellen können. Da war mein Vater mit einem Aufheulen, das mehr an ein Tier als an einen Menschen erinnerte, zusammengebrochen, mitten auf dem kalten Steinboden. Ich hatte da noch nichts begriffen - wie in einem Albtraum rief ich immerzu «Warum?», doch niemand antwortete mir. Erst als Martin aus dem Kloster eingetroffen war, hatte sich mein Vater allmählich beruhigt. Da lag die Mutter bereits in der Stube aufgebahrt, die ersten Totengebete waren gesprochen, und ich erhielt endlich eine Antwort auf meine Frage.
«Sie hat wieder mal genachtwandelt und ist dabei aus dem Dachfenster gestürzt», erklärte mein Vater tonlos. «Sie hätte nicht vom Rotwein trinken dürfen, wo sie das doch immer so unruhig macht. Aber sie war endlich wieder fröhlich, endlich wieder guter Dinge.» Und plötzlich begann er zu schreien: «Ich bin schuld! Ich hätte es wissen müssen!»
Das Herz krampfte sich mir zusammen, als ich nun neben ihrem leblosen Körper an die letzte Nacht, an die Verzweiflung meines Vaters dachte. Ich hielt mir die Ohren zu, schlug mir mit den flachen Händen ins Gesicht, hörte mich lauthals auf einmal schluchzen. Da spürte ich einen Arm um meine Schultern.
«Beruhige dich, Susanna», flüsterte Martin. Seine Stimme zitterte dabei.
«Ich verstehe es einfach nicht», stieß ich hervor. «Wie kann das sein? Wie kann ein Mensch im Schlaf auf eine Leiter steigen, auf eine wacklige Leiter, und dann aus dem Dachfenster stürzen?»
«Du weißt doch, dass unsere Mutter immer wieder geschlafwandelt hat. Erinnerst du dich, wie wir sie mal gesucht und schließlich schlafend im eiskalten Keller gefunden haben? Komm, lass uns beten.»
Er wirkte zwar gefasst, war aber noch bleicher als zuvor. Dunkel zeichneten sich die Bartstoppeln auf seinen Wangen ab, und der tiefschwarze Haarkranz auf dem ansonsten kahl geschorenen Schädel stach noch mehr hervor. So viel Martin innerlich von der Mutter hatte, seine Empfindsamkeit und Verletzlichkeit, so sehr glich er äußerlich dem Vater, der wie viele Menschen hier am Oberrhein fast wie ein Welscher aussah.
Mitten in unseren Gebeten hörten wir unten die Haustür aufspringen. Müde und mit tiefen Schatten unter den Augen betraten der Vater und Gregor die Stube. Sie warteten, bis das Amen unser Gebet beendet hatte, dann schlugen sie das Kreuzzeichen, und im nächsten Moment war der Vater schon wieder aus dem Raum geflüchtet. Gleich darauf drangen seine schweren Schritte aus der Schlafkammer herunter.
«Was ist los?», fragte Martin. «Wo bleibt der Pfarrer?»
Gregor schüttelte nur niedergeschlagen den Kopf und setzte sich auf jenen Stuhl an der Tür, auf dem ich zuvor gesessen hatte und der am weitesten vom Leichnam entfernt stand.
«So red schon, Gregor», flehte ich.
Mein großer, stämmiger, um fünf Jahre älterer Bruder wirkte plötzlich hilflos wie ein kleines Kind.
«Der Pfaffe kommt nicht.» Seine Unterlippe bebte. «Weil wir nämlich ein Haus der Schande sind.»
Wir starrten ihn an, als hätte ein Geist zu uns gesprochen. Da packte Martin ihn beim Arm.
«Was soll das? Was redest du da für einen Blödsinn?»
«Dann frag halt den Vater», brauste Gregor auf. «Einer unserer Nachbarn war beim Pfarrer und hat ihm brühwarm gesteckt, dass er genau gesehen hätte, wie die Mutter hellwach am Fenster stand. Plötzlich hätte sie gerufen und sich heruntergestürzt. Versteht ihr? Sie hat gar nicht genachtwandelt. Sie hat ihrem Leben ein Ende gemacht!»
«Das . das glaube ich nicht», stieß ich hervor. In meinem Kopf begann es zu schwindeln, und ich musste mich an die Wand lehnen.
«Du glaubst es nicht?» Gregor ballte die Fäuste. «Wer müsste es besser wissen als du? Du hast dich doch immer um sie gekümmert, wenn sie mal wieder den ganzen Tag in der Schlafkammer geblieben ist, alles dunkel gemacht hat und nichts geredet und nichts gegessen hat! Nur deshalb bist du doch noch nicht mit dem Auberlin verheiratet - weil wir dich hier im Haus so nötig brauchen. Und hat sie dir nicht mehr als ein Mal gesagt, dass sie am liebsten gar nicht mehr sein möchte? Hast du das vergessen? Und jetzt hat sie's endlich getan. Und damit Schande gebracht über uns alle! Im Henkerskarren wird man sie aus der Stadt schaffen und in der Ill versenken oder auf dem Schindanger verscharren.»
«Hör auf!», schrie ich und begann, mit den Fäusten auf ihn einzuschlagen.
Martin zog mich weg. Er schüttelte nachdrücklich den Kopf.
«Das ist böswilliges Geschwätz und gehört bei Gericht angezeigt. Wer soll dieser Nachbar überhaupt sein?»
Gregor war vom Stuhl aufgesprungen. «Geh doch selbst zum Pfarrer und frag ihn, wer der verfluchte Kerl ist. Ich sag nichts mehr. Und im Übrigen wird nachher nicht der Pfaffe bei uns aufkreuzen, sondern der Stadtarzt zur Beschau. Wie bei jedem Verbrechen, das in der Stadt geschieht.»
Dann stürzte er hinaus, und wir hörten ihn auf dem Holz der Außentreppe nach unten poltern.
Am Nachmittag beschloss ich, als verspätetes Mittagessen eine Gemüsesuppe aufzusetzen, obwohl ich wusste, dass keiner von uns etwas davon anrühren würde. Ich selbst am allerwenigsten, so aufgewühlt war ich noch immer. Martin war ins nahe Dominikanerkloster zurückgekehrt, Vater hatte die Schlafkammer nicht mehr verlassen, und Gregor hörte ich unter mir im Lager unseres Kramhandels hantieren.
Gleich nachdem Martin gegen Mittag gegangen war, hatte ich den Vater aufgesucht, der stumm auf seinem Bett lag und die Deckenbalken anstarrte. Ich fragte ihn, ob es stimme, was Gregor behauptet hatte. Da war er in die Höhe geschossen, hatte sich das ergraute Haar...
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