Schweitzer Fachinformationen
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Das laute Klopfen unten an der Haustür ließ Serafina aus dem Schlaf auffahren, den sie am Ende trotz ihrer Grübeleien doch noch gefunden hatte. Sogar einen wunderschönen Traum hatte sie gehabt, von einer sommerlichen Kahnfahrt an den Ufern des Bodensees.
Sie streckte ihre steifen Glieder. Das musste Grethe sein, die sie ablösen kommen sollte. Bestimmt hatte sie wieder einen riesigen Korb mit Verpflegung dabei, um nicht zu verhungern bis zum Abend.
Prüfend betrachtete sie die Kandlerin. Sie atmete mit geschlossenen Augen und entspanntem Gesicht ruhig vor sich hin. Als es erneut gegen die Tür schlug, war Serafina schon auf dem Weg nach unten.
«Immer langsam mit den jungen Pferden», rief sie, während sie den Riegel zurückschob.
Vor ihr stand Grethe, wie erwartet mit einem vollbepackten Henkelkorb neben sich. Ihr rundes Gesicht mit dem Herzchenmund war rosig von der kühlen Morgenluft.
«Was schleifst du da wieder alles mit?»
Das Mädchen strahlte sie an.
«Mein Andachts- und Gebetbuch. Schließlich muss ich der guten Kandlerin ja auch geistige Labung bieten.»
«Ach ja?» Serafina zog das Tuch vom Korb. Zum Vorschein kamen zwei große Kanten Käse, ein halber Laib Brot, ein viertel Ring Hartwurst und ein verschlossenes Krüglein mit Wein. Augenblicklich begann ihr Magen zu knurren.
«Dass mich die Raben fressen! Das reicht ja für eine Großfamilie. Du weißt aber schon, dass die alte Kandlerin vom Niklasbeck versorgt wird?»
«Nun ja, kannst dir gern was nehmen.»
Serafina winkte ab.
«Lass nur, du sollst ja nicht vom Fleisch fallen.» Sie kniff der Freundin in die rundliche Hüfte. «Wer kocht eigentlich für uns, wenn du nicht da bist?»
«Unsere liebe Heiltrud.»
«Ach herrje - das wird eine karge Kost.» Nun klaubte sie sich doch ein Stück Krume aus dem Brotlaib. «Bist du eigentlich allein gekommen?»
Die Regel besagte nämlich, dass die freundlichen Armen Schwestern, wie sie von den Leuten auch genannt wurden, nicht allein durch die Gassen ziehen durften. Wobei dies in ihrem Hause nur für die Jüngeren galt.
«Die Meisterin höchstpersönlich hat mich gebracht.»
«So ist's recht. Auf euch junges Gemüse muss man aufpassen.»
«Du redst ja daher wie meine Mutter.»
«Um Himmels willen - seh ich mit meinen dreißig Jahren etwa schon so alt aus?»
«Unsinn! Du weißt genau, dass du die schönste von uns allen bist.» Grethe grinste breit. «Auch wenn du in dem Alter bist, wo eine Frau die ersten Kinder großziehen sollte. Aber sei froh, dass du keine hast - meine Schwester hat nur Scherereien mit ihren Blagen.»
Bei diesen Worten war Serafina innerlich zusammengezuckt. Doch sie ließ sich nichts anmerken.
«Danke für die Schmeichelei! Aber ein Beginenweib kann gar nicht schön sein.»
«Du schon!»
Ein lautes Stöhnen von oben unterbrach ihre Plauderei.
Grethe zog ihren Korb weg. «Die Nächstenliebe ruft.»
Damit verschwand sie auch schon auf der engen Stiege nach oben.
«Sag noch, Grethe», rief Serafina ihr hinterher, «muss heut Nacht wieder jemand bei der Kandlerin wachen?»
«Nein, ihre Schwester kommt gegen Abend zurück.»
Wenigstens das. Serafina trat hinaus in die Kühle des angebrochenen Tages. Der Himmel war noch rosenrot gefärbt und ohne eine einzige Wolke. Was für ein wunderbarer Morgen! Ihr war, als hätte das Gewitter der letzten Nacht alles reingewaschen.
Begierig sog sie die frische Luft ein, bevor es in den Gassen wieder nach Schweinekot und den Inhalten der ausgeleerten Nachttöpfe stinken würde. Von den Abortgruben der Häuser ganz zu schweigen.
So hundemüde und hungrig sie war, wollte sie doch noch einen Abstecher zu Gisla machen, um sie nach einigen Heilkräutern zu fragen, die nicht im Garten von Sankt Christoffel wuchsen. Die Kräuterfrau gehörte zu jenen Menschen, die schon mit dem ersten Hahnenschrei auf den Beinen und gleich darauf bei der Arbeit waren. Im Falle von Gisla hieß das, auf Kräutersuche an den Uferwiesen der Dreisam oder am Waldrand. Daher erwischte man sie nur zur frühen Morgenstunde. Falls Serafina sich von ihr nicht wieder in ein Fachgespräch über Gartenkunde verwickeln lassen würde, konnte sie es hinterher noch rechtzeitig zur Morgenmesse bei den Barfüßern schaffen.
Sie überquerte den menschenleeren Platz vor dem Kirchhof des Münsters, auf dem tiefe Pfützen standen. Die Lauben der Kleinkrämer an der Friedhofsmauer waren zu dieser Stunde noch mit Brettern verschlossen, und es herrschte eine fast unheimliche Stille. Linkerhand bog sie in ein enges, düsteres Gässchen ein, nicht ohne sich noch einmal umzudrehen und einen Blick hinauf zum Münsterturm zu werfen, der, ein Wunder an Baumeisterkunst, kraftvoll und feingliedrig zugleich in schwindelerregende Höhe ragte. Das prächtige Gotteshaus war zu Recht der ganze Stolz der Freiburger, diente Unser Lieben Frauen Münster ihnen doch ganz bescheiden als Pfarrkirche. Gewiss wäre es noch um einiges herrlicher zu nennen, erhabener noch als die Konstanzer Bischofskirche, wäre da nicht die hässliche Bauruine auf der anderen Seite gewesen. Der Chor nämlich war umgeben von halbfertigen, hohen Mauern mit Säulen, die sich im Halbrund wie ein lückenhaftes Riesengebiss um die Ostseite der Kirche zogen. Halbwilde Hunde und Katzen trieben sich da herum, nährten sich von dem stinkenden Unrat, den die Leute immer wieder heimlich hier abluden. Eigentlich hätte hier ein neuer Hochchor, mit Chorumgang und Kapellenkranz, entstehen sollen, vor etlichen Jahrzehnten schon. Doch die Große Pest und der Freikauf von den ungeliebten Grafen von Freiburg hatten die Stadt und ihre Bürger einst wirtschaftlich an den Rand des Abgrunds getrieben und belasteten sie bis heute.
Serafina beschleunigte ihren Schritt, sodass der Schlamm unter ihren Schuhen nur so spritzte. Die Kräuterfrau Gisla wohnte in der Schneckenvorstadt, gleich hinter dem Spitalbad. Inzwischen vermochte Serafina in dieser Stadt an ihr Ziel zu gelangen, ohne stundenlang in die Irre zu gehen. Führten doch längst nicht alle Gassen gradlinig auf die beiden Hauptstraßen zu, die Freiburg wie ein Kreuz durchschnitten.
Allmählich erwachte die Stadt. Die Handwerker öffneten ihre Läden, Taglöhner und Knechte machten sich auf den Weg zur Arbeit, die ersten Ziegen und Rinder wurden zwischen kläffenden Kötern hindurch auf die Viehweide vor der Stadt getrieben. Kurz vor dem Untertor ließ ein schriller Pfiff Serafina zusammenfahren. Es war Barnabas, der Bettelzwerg, der sich auf diese Weise bemerkbar zu machen pflegte.
«Du meine Güte - hast du mich verschreckt.»
Der kleine Kerl mit den stämmigen krummen Beinchen und dem riesigen Kopf, wie immer in ein buntscheckiges Meer von Flicken gekleidet und mit einer viel zu kleinen Filzkappe auf dem struppigen Haar, zupfte heftig an ihrer aschgrauen Tracht. Für gewöhnlich begrüßte er sie mit einer tiefen Verbeugung und sprach sie mit «schöne Frau Serafina» an, was sie innerlich jedes Mal zum Schmunzeln brachte. Heute jedoch zitterte er am ganzen Leib.
«Was hast du denn? Du bist ja völlig außer dir!»
Ohne ein Wort herauszubringen, wies Barnabas in Richtung Abtsgasse. Sie schüttelte den Kopf.
«Nein, Barnabas, ich hab es eilig. Zeig mir, was du mir zeigen willst, ein andermal.»
«Ddder To-Tod! - Im Holz! - So grrroße Au-augen!»
Wie immer, wenn Barnabas aufgeregt war, brachte er entweder gar nichts heraus oder stotterte zusammenhangloses Zeugs. Jetzt erst fiel Serafina auf, dass alles, was so früh schon unterwegs war, in Richtung dieser Gasse strömte.
Unwillig ließ sie sich von ihm mitziehen. Sie mochte Barnabas, der ihr in der kurzen Zeit hier in Freiburg ans Herz gewachsen war, und sein absonderliches Wesen machte ihr auch keine Angst, erinnerte er sie doch an den Dorfnarren aus ihrer Kinderzeit. Doch manchmal konnte er einem schon gehörig zur Last fallen.
Die Menschen vor ihnen bogen allesamt hinter dem Haus Zum Grünen Wald in das brachliegende Grundstück ein, von dem es hieß, dass es dort des Nachts spuke. Jetzt allerdings drangen von dem mit Bäumen und Sträuchern überwucherten Ort keine Geisterrufe herüber, sondern gedämpftes Schreckensgemurmel. Als die Menge ihrer Schwesterntracht gewahr wurde, gab man ihr den Weg frei bis vor das Tor einer schmalen Scheune, die verlassen und verfallen an der Stadtmauer lehnte.
Serafina hatte schon so einiges gesehen in ihrem Leben, doch der Anblick, der sich ihr dort bot, fuhr ihr tief ins Herz. Am Querbalken des offenen Tores war ein grober Strick befestigt, und daran baumelte, nur einen Schuh hoch über der Erde, der Leichnam eines sehr gut gekleideten jungen Burschen von höchstens fünfzehn Jahren. Die Zunge hing ihm blaurot geschwollen aus dem Mund, die Augen hatte er weit aufgerissen, die Finger zu Fäusten gekrampft. Das Merkwürdigste aber: Auf seine hohe, helle Stirn war ein Aschenkreuz geschrieben, als Zeichen der Schuld. Ganz offensichtlich hatte sich der Junge selbst aufgeknüpft.
Keiner der umstehenden Gaffer wagte es, sich auf mehr als Armeslänge dem Toten zu nähern. Serafina schlug das Kreuzzeichen und sprach ein stilles Gebet, während sie voller Mitgefühl die sterbliche Hülle des Jungen betrachtete. Zu Lebzeiten musste er ausnehmend hübsch gewesen sein, mit seinen feinen, fast mädchenhaften Gesichtszügen.
Sie wandte sich um. «Warum holt ihn keiner dort runter?»
Verständnislos glotzten die Leute - einfache Handwerker, Knechte und Mägde - sie an. Dabei wusste sie selbst die Antwort. Einen Selbstmörder vom Strang zu schneiden brachte nämlich Unglück. Serafina allerdings hielt das für dummes...
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