Schweitzer Fachinformationen
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Alma und Friedrich bekommen ein Kind, das keinen Schmerz empfinden kann. In ständiger Sorge um ihren Jungen, ist es vor allem Alma, die ihn unaufhörlich auf körperliche Unversehrtheit kontrolliert. Jeden Abend tastet sie das Kind ab, um keine Blessur zu übersehen. Und nichts fürchtet die junge Mutter mehr als die unsichtbare Verletzung eines Organs, die ohne ein Zeichen bleibt. Halt findet Alma bei ihrer Großmutter, die jetzt, hochbetagt und bettlägerig und nach lebenslangem Schweigen, zu erzählen beginnt: vom Aufwachsen im Krieg, von Flucht, Hunger und der Kriegsgefangenschaft des Großvaters. Mit dem Kind auf dem Schoß, das keinen Schmerz kennt, sitzt Alma am Bett der Schwerkranken, die sich nichts mehr wünscht, als ihren Schmerz zu überwinden. Und in den Geschichten der Großmutter findet sie eine Erklärung für jene scheinbar grundlosen Gefühle der Schuld, der Ohnmacht und der Verlorenheit, die sie ihr Leben lang begleiten.
Wie wird ein Kind zum Menschen, zu einem mitfühlenden sozialen Wesen, wenn es die Verwundbarkeit nicht kennt? Wenn es nicht versteht, wie sehr etwas wehtun kann? In eindringlichen Bildern erzählt Valerie Fritsch von einem Trauma, das über die Generationen weiterwirkt, sie lotet die Verletzlichkeit des Menschen aus und fragt nach dem Wesen des Mitgefühls, das unser aller Leben bestimmt.
Alma war ein ungeduldiges Kind, das nicht verlieren konnte, bei Brettspielen betrog, lieber schrie als schwieg, die Hände oft zu Fäusten ballte, die auch im Schlaf selten aufgingen. Das Elternhaus war immer leer, kathedralisch, zu groß für einen kleinen Menschen. In der Wohnstube hing ein riesenhaftes Gemälde mit Weintrauben, so lebensecht, dass im Sommer die Vögel durch die offenen Fenster in den Raum flogen und versuchten, sie von der Leinwand zu picken. So still war es, dass einen schon das leiseste Geräusch erschreckte, und wenn das Telefon klingelte, dachte man stets, es läutete im eigenen Kopf. An den heißen Tagen beschäftigten Alma die Vogelstimmen im Garten, dann stand sie draußen unter den Bäumen und hörte dem unsichtbaren Orchester mit angehaltenem Atem zu, aber sooft sie es auch probierte, zum Nachsingen waren die Tonfolgen nicht geeignet. Mit jedem Jahr, das sie älter wurde, erschien sie mehr auf der Welt. Mit jedem Jahr wurde sie sichtbarer auf ihr, wuchs in die eigenen Formen, nahm ihren Platz ein, hineingeboren ins Fragen und in die Lücke, die auf der Welt war, bevor ein Mensch sie füllte. Die Wirklichkeit des Hauses, in dem sie wohnte, erschien ihr bald als eine, auf die man sich nicht verlassen konnte. Sie beobachtete, wie die Eltern durch die Räume geisterten, mal Mutter und Vater spielten, dann das liebende Ehepaar gaben und hin und wieder Besuch empfingen, für den sie lachten. Mit dem Großvater aß man sonntags manches Mal gemeinsam im Garten zu Mittag, bei stockenden Gesprächen, mit Spritzwein und kleinen Käfern, die aus den großen Bäumen in die Suppe fielen wie Pfefferkörner. Wann immer Alma ihre Eltern mit dem alten Mann sah, dachte sie, dass man den Menschen anstelle einer Sprache auch ein Schweigen beibringen konnte. Und immer gab es zum Abschluss Kaffee und Torte, so fett, dass die Sahne beinahe schon Butter war, oder so trocken, dass man scherzte, das Gebackene würde einem zu den Ohren herausstauben, je nachdem, ob es aus der Küche der Mutter oder aus der Konditorei kam; und es gab Kinderspiele. Noch viele Jahre später erinnerte sich Alma, wie sie an trägen Sonntagnachmittagen die Finger und nackten Zehen der Anwesenden mit einem Reim abzählte und stets ins Stolpern geriet und verwirrt innehielt, wenn sie beim Großvater angekommen war, weil sie an seinem rechten Fuß bloß drei Zehen fand. Dass womöglich nicht nur an dem alten Mann etwas fehlte, aber es überall mehr gab, als man sie sehen ließ, wurde für Alma ein vager Gedanke, ein unbestimmtes Kindheitsgefühl, dem sie sich nicht entziehen konnte. Stets fühlte sie sich um etwas betrogen, von dem sie nicht recht wusste, was es war - als prallte sie ab an der Wirklichkeit. Selbst die Früchte in den Schalen des großen Zimmers waren aus Kristall, durchsichtig und so hart, dass man sich die Zähne ausbeißen konnte an ihnen. Ihr Zuhause schien ihr mitunter beängstigend kulissenhaft, es war keine Scheinwelt, aber brüchig zusammengezimmert, wackelig und unstimmig in den Einzelheiten, als wären sie nur geborgt. In jeder Ecke stieß sie auf Kleinigkeiten, die nicht zueinanderpassten und dem prüfenden Blick nicht standhielten, leise umfielen, wenn man sie zu lange ansah. Manche verschwanden ganz, andere kamen wieder in veränderter Gestalt oder ungenügend maskiert. Man schwieg mit offenem Mund. Unterhaltungen erstarben, wählte man auch nur ein einziges falsches Wort, das man noch Minuten zuvor für unverdächtig gehalten hatte. Eine Sorge tauchte plötzlich als Ärger auf, eine Geste der Zuneigung lief ins Leere, ein harmloser Satz wurde zum Vorwurf, ein Lachen misslang und verwandelte sich in einen weggedrehten Kopf. Manches verschob sich beinahe unmerklich, blieb sich selbst aber ähnlich genug, so dass man nur kurz stutzte und dann darüber hinwegsah. Die Gefühle schienen künstlich und unbeständig und ärgerten den Kinderblick. Es war, als hätten alle Menschen in Almas Leben etwas zu verbergen, die Eltern und die Großeltern, deren Verhältnis untereinander und zur Welt so gespannt war, dass man es gerade noch ertrug. Alma wurde die Idee nicht los, dass man für sie Theater spielte. In jedem Zimmer war eine Bühne errichtet für die endlosen Vorstellungen, in denen alle ihr Bestes gaben und stets heimlich enttäuscht davon waren, dass der Applaus für ihre Mühen ausblieb. Die Rollen waren von unsichtbaren Kräften zugewiesen worden, und Unsicherheiten kompensierte man mit Vehemenz. Als Alma größer wurde, dachte sie, wie erschöpfend es sein musste, im eigenen Lebenswerk nicht Regie zu führen, sondern darin nur mitzuspielen, in einem Lehrstück ohne Pause, die einen erlöste, ohne Vorhang, der je fiel. Maschinen der eigenen Biographie, die Lebenslügen produzierten, sich mal als diese, mal als jene Version ihrer selbst ausgaben. Müde Marionetten mit einem schwarzen Fleck auf dem Herzen, die um ihr Leben spielten, sich immerzu bückten, aber sich nie verbeugen durften.
Die Eltern stritten nur in der Nacht, im Schutz der Dunkelheit, als würden sie glauben, die späten Stunden verbärgen sie vor der Welt. Oft stand Alma lauschend an der Tür, ein kleines Gespenst mit bloßen Füßen, ein blasses Kind in blassen Kleidern, das erst laute Schritte oder jene Müdigkeit, die einen innen und außen frieren ließ, zurück ins Bett trieb. Sie verstand nichts und riss die Augen auf, so weit sie konnte, um besser zu hören, aber vernahm doch nur das erstickte Auf und Ab der Stimmen und die Atemlosigkeit, wenn man einander das Gesagte nicht glauben wollte. Die Eltern sprachen wie Fremde hinter verschlossenen Türen, und gerne hätte sie die weißen Holzflügel aufgerissen und nachgesehen, ob sie mit den neuen Redeweisen auch ein anderes Gesicht trugen. Denn in der Nacht waren die Regeln des Tages aufgehoben. War Almas Vater tagsüber ein unauffälliger Mann, der sich den Ordnungssystemen der Mutter mit einer irritierenden Dankbarkeit unterwarf, stets lieber Knecht als Herr, so dass es einem leichter fiel, ihn zu vergessen, als an ihn zu denken, so wurde er nachts laut und traurig. Die Mutter schwieg zur Verteidigung, und man hörte ihre Schmallippigkeit durch die Wände. Sie war eine penible Person in einem klinisch sauberen Haus, in dem sie jeden Dienstag die Regale abstaubte, bevor die Putzfrau jeden Mittwoch kam. Eine Frau, stets kontrolliert und immer so freundlich, als müsste sie etwas nicht nur gut, aber wiedergutmachen, ungeeignet für jeden Streit, denn Vorwürfe und andere Meinungen machten sie erst untröstlich, dann krank, und wie zur Strafe hungerte sie und schluckte für Tage nur ihre Seufzer hinunter, ansonsten keinen Bissen. Die Welt um sie herum war so sorgfältig organisiert, dass Unvorhergesehenes darin keinen Platz fand und darum erst gar nicht geschah. So kam es, dass Alma nicht nur die Nächte voll Streit auf merkwürdige Art und Weise mochte, aber auch jene seltenen, in denen die Mutter schlafwandelte. Es waren magische Momente der Unordnung, Verstöße gegen die von ihr selbst aufgestellten Gesetzmäßigkeiten, die Alma mit eigenartiger Befriedigung beobachtete. Die reservierte, stets kontrollierte Mutter wurde zur Irren im Nachthemd, der Alma, aufgeschreckt von einem ungewöhnlichen Geräusch, staunend folgte. Das Weiß des Stoffes leuchtete ihr den Weg. Es war eine hemmungslose Verwandlung. Der Mutter stieg in dunklen Nächten der Mond zu Kopf, durchbrach ihre Gefasstheit und machte sie planetensüchtig, fiebrig und außerirdisch. Er öffnete ihr die Augen und zog ihr die Lider an den Wimpern hoch, bis ein starrer Blick hervorkam, der ins Leere sah. Er ließ sie aufstehen aus dem Ehebett und führte sie wie eine Mondpuppe an unsichtbaren Fäden durch das nächtliche Haus, auf labyrinthischen Bahnen und die Teppichmuster in den Korridoren entlang. Auf sein Geheiß öffnete sie Türen und stand in Schränken, nahm sie die Kuchenteller aus der Vitrine und ließ sie im Kreis um sich herum fallen, als deckte sie einen Tisch. Sie griff nach jedem Lichtschein, wanderte durch den eigenen Garten und jenen des Nachbarn, holte man sie nicht schnell genug zurück. Sie ging mit sicherem Tritt, stieß unbeeindruckt gegen Mauerkanten und Regentonnen, Obstbäume und Zaunpfähle, stürzte manchmal die Treppen und manchmal die Straße hinunter und kehrte erst an der Hand des Vaters ins Bett zurück. Einmal lief sie bis zum Friedhof und stand vor einem fremden Grab, weiß wie eine Kerze, bis ein nächtlicher Spaziergänger sich zu Tode erschrocken an die Polizei wandte, die sie nach Hause begleitete. Stets schlief sie weiter, als wäre nichts geschehen, und kam morgens zu...
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