Schweitzer Fachinformationen
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Die Mutter in ihr sagte eindeutig Nein zu einem Spaziergang entlang der alten Hochbahn. Aber Oskar hatte von einigen Klassenkameraden gehört, dass es dort »wie nach einem Bombenanschlag« aussehe. Eine Zugmaschine, die mit ein paar Waggons auf dem Weg zum Hafen Emmelsum war, war vom Sturm überrascht worden. Wie Christin schon gehört hatte, war kein großer Schaden entstanden, aber sie gab ihrem Sohn nach und schlug eine Besichtigung des Schauplatzes zusammen mit Laika vor.
»Aber bilde dir nicht ein, dass wir da lange rumtun, um durch das Gestrüpp zu kommen. Außerdem wird immer noch vor losen Ästen gewarnt, die eventuell runterfallen können«, bremste sie Oskars Unternehmungslust.
Als sie am Samstag nach dem Essen ins Auto stiegen, überlegte sie, wo sie den Wagen am besten abstellen könnte. Bei dem kalten Wetter hatte sie keine Lust zu laufen. Sie fuhr von der Mehrstraße rechts ab in die Boltraystraße. Dort hielt sie direkt auf dem breiten Grünstreifen.
Mathilda und Oskar stiegen aus dem Auto, ihr Sohn wollte direkt zu der Böschung rennen. »Warte Oskar«, rief Christin und öffnete die Hundebox im Kofferraum. Sie ließ Laika herausspringen. »Wir gehen zusammen.«
Skeptisch schaute die Pfarrerin zum Bahndamm. Auch ohne die Schäden, die Friederike angerichtet hatte, konnte man an dieser Stelle eigentlich nicht zu den Gleisen hinauf. Sträucher und dichtes Gestrüpp überwucherten die Steigung der Hochbahn. Dazu kamen noch umgeknickte Bäume, die sich aber in die andere Richtung gelegt hatten, nicht zur Straße hin. Oben auf der Trasse sah sie einige größere, alte Bäume, manche standen noch aufrecht, zwischendrin sah sie aber mindestens einen großen Baum, der wahrscheinlich bis auf die Gleise gekippt war. Da musste irgendwo der eingeklemmte Zug sein.
Laika lief aufgeregt, ihre feine Hundenase auf den Boden gerichtet, los. Sie ahnte wohl, was ihre Familie vorhatte, und konnte es kaum erwarten.
»Lasst uns hier entlanggehen«, Christin wandte sich zur Mehrstraße um, »früher war hier ein Weg hinauf, ein Trampelpfad, da sind wir bei Schnee mit dem Schlitten runter.«
Mathilda sah sie belustigt an. »Mama, hier kann man doch nirgendwo mit dem Schlitten runter!«
Christin lächelte. »Nun«, gab sie zu, »das sind hier natürlich nicht solche Hügel, wie ihr sie aus Bayern kennt! Aber wir hatten trotzdem unseren Spaß.« Sie zuckte mit den Schultern und musste dann lachen. »Na ja, zumindest ein-, oder zweimal, dann war das bisschen Schnee zu Matsche gefahren.«
Kurz vor der Straße, von der sie gekommen waren, hielt Christin an. Tatsächlich, man konnte dort noch einen kleinen Weg hinauf erkennen.
Laika rannte den Trampelpfad hoch, sie hatte mit den tiefhängenden Ästen keine Probleme, Oskar und Mathilda liefen hinterher. Christin schüttelte den Kopf, stapfte dann aber auch los.
Schon nach wenigen Metern war sie schweißgebadet und hatte keine Lust mehr. Der Weg war matschig und glatt, sie und die Kinder rutschten ständig aus. Oskar ließ sich mit Wonne auf die Knie und den Hosenboden fallen, Mathilda zog eine Schnute, sie fror trotz des anstrengenden Aufstiegs.
»Versuche doch, dich an den Ästen hochzuziehen«, schnaufte ihre Mutter. »Kannst du Laika sehen?«
Mathilda verneinte, aber dann hörten sie den Hund etwas höher hecheln.
»Ich bin gleich oben, ich kann schon den Zug sehen!«, schrie Oskar.
Mathilda gab sich einen Ruck und versuchte, zu ihrem Bruder aufzuschließen, Christin folgte ihr.
»Oskar«, rief Christin energisch, »du wartest dort oben, bis wir auch da sind, du rührst dich nicht von der Stelle!«
Mit letzter Kraft schafften Mutter und Tochter das letzte Stück und standen dann neben Oskar.
»Wow!«, sagten alle drei, fast wie aus einem Munde.
Es war tatsächlich ein gespenstisches Bild. Stoisch, unberührt von dem heftigen Naturereignis, stand die Lokomotive auf den Gleisen, hinter ihr etwa fünf oder sechs Waggons. Genau vor ihr lag eine Eiche. Der Baum war gar nicht so riesig, aber es reichte aus, dem starken Zugwagen den Weg zu versperren. Auf der Lokomotive und auf den Waggons lagen auch einige Bäume, die kahlen Äste teils über den Wagen, teils zwischen ihnen.
»Cool!« Oskar war beeindruckt, er ging sofort los und machte mit seinem Handy Fotos, dicht gefolgt von Laika. Selbst Mathilda konnte etwas Begeisterung für dieses Schauspiel aufbringen und versuchte, ein Selfie mit dem umgekippten Baum sowie der Lok im Hintergrund zu machen.
Dann zog sie wieder eine Schnute.
»Komm, Mama, lass uns nach Hause gehen. Mir ist kalt, und ich finde es hier etwas gruselig.«
»Ja, mir ist jetzt auch kalt. Komm Oskar, wir machen uns an den Abstieg.«
Christin schaute sich nach dem Hund um. Laika war verschwunden.
»Laika, hier!«, rief sie laut.
Stille.
Auch die Kinder blickten sich suchend um.
»An dem Zug ist sie nicht vorbei«, sagte Oskar, »lasst uns ein bisschen in die andere Richtung laufen!«
Alle drei gingen ein paar Schritte in Richtung des alten Haltepunkts Spellener Bahnhof, aber schon nach wenigen Metern versperrten ihnen Bäume und Sträucher den Weg, die mit ihren Wurzeln auch etwas, das wie Schotter oder Kieselsteine aussah, aufgeworfen hatten.
Wieder riefen sie den Hund.
Christin wurde unruhig. Die Vegetation war teilweise undurchdringlich, wenn der Hund sich irgendwo verfangen hätte, müsste man die Feuerwehr rufen, um ihn zu befreien. Und langsam kroch das trübe Grau des späten Januarnachmittags in den Tag hinein.
»So ein Mist!«, schimpfte die Pfarrerin.
Sie musste eine Entscheidung treffen, sie wollte nicht mit den Kindern im Halbdunkel den matschigen Trampelpfad hinunterrutschen.
Plötzlich hörten sie etwas rascheln, dann stand Laika vor ihnen, in der Schnauze ein undefinierbares, schwarzes Etwas.
Erleichtert schimpfte Christin mit Laika.
»Da bist du ja! Pfui, was hast du da im Maul?« Sie ging zurück. »Los Kinder, seid ja vorsichtig, wer geht vor?«
Mathilda und Christin waren froh, als sie heil wieder unten angekommen waren. Oskar versuchte herauszufinden, was der Hund gefunden hatte, aber Laika drehte immer ihre Schnauze weg, wenn Oskar sich ihr näherte.
Christin stieg ins Auto und überließ es ihrem Sohn, den Hund in den Kofferraum springen zu lassen. Es dauerte einen Moment, bis Laika ihren Platz, das Fundstück zwischen ihren Pfoten argwöhnisch bewachend, in der Hundebox eingenommen hatte.
»Haben Sie schon gehört? Am alten Bahndamm ist eine Leiche gefunden worden!«, informierte die Gemeindesekretärin Ursula Höfer die Pfarrerin, als sie am Montagmorgen in das Gemeindebüro kam.
»Oh!« Erschreckt sah Christin auf. Sie versuchte gerade, den Fragebogen der Versicherung bezüglich der entstandenen Sturmschäden korrekt auszufüllen. »Wer ist es denn? Und unter welchen Umständen?«
»Dass Sie da nichts von mitbekommen haben! War doch ganz großer Bahnhof um den alten Spellener Bahnhof herum!« Die Sekretärin musste lachen, verstummte aber, als sie sah, dass die Pfarrerin das Wortspiel nicht so lustig fand. »Alles abgesperrt, mehrere Polizeiwagen, Spürhunde und so! So ein Katastrophentourist, der sich durch die Büsche kämpfte, hat die Leiche gefunden, die da verbuddelt war. Da, wo auch der Güterzug vor einem umgekippten Baum halten musste. Mehr weiß man noch nicht.«
Christin spürte die Sensationslust ihrer Sekretärin, mit der sie ihr diese spannende Neuigkeit als Erste überbrachte. Nachdenklich blickte sie auf ihre Schreibtischunterlage. »Nein«, sagte sie, »das habe ich nicht mitbekommen. Mein Gott! Wir waren selber Samstag da, die Kinder wollten sich das Spektakel angucken. Die Kinder und ich waren gestern noch im Kino, und in der Zeitung habe ich auch nichts gelesen.«
»Da wird erst morgen was kommen, die Polizei hat komplett dichtgehalten.«
»Nun«, die Pfarrerin schaute wieder in ihre Papiere, »schlimm. Wird denn jemand vermisst?«
»Nein, nicht dass ich wüsste«, antwortete Höfer.
Beide Frauen arbeiteten schweigend weiter.
Christin schaute zum Fenster hinaus, auf das zerstörte Gemeindehaus. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich sie, wenn sie daran dachte, dass sie am Samstag noch mit ihren Kindern dort selber Katastrophentouristen gewesen waren.
Plötzlich kam ihr noch ein...
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