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Land tauchte auf, ich erinnere mich. Ich stand auf dem Deck der Kaamos, einer kleinen finnischen Fähre, die die Inseln der nördlichen Ostsee anfuhr, und erblickte in der Ferne einen Felsrücken. Ich sah keinen Baum, keinen Bootsschuppen, nur diesen steinernen Saum, der sich dunkel vom Bottnischen Meer absetzte und aussah wie eine graue, mit einer dicken Bleistiftmine gezogene Sichel. Über dem fernen Land ein Himmel, der von einem zweiten Horizont unterteilt war, ein gewittriges Violett und ein verhangenes Blau berührten sich entlang einer unendlichen Geraden. Möwen ließen sich von den Abendwinden treiben, im Parabelflug schnitten sie die Horizontlinien zwischen Meer und Himmel und zwischen Himmel und Himmel und trugen umso mehr zur Verwirrung bei. Unter diesem gefalteten Himmel, der hohl und flach zugleich war, fiel es mir schwer, Entfernungen und Größen einzuschätzen. Alles hätte die Erhebung vor mir sein können, ein Kontinent, ein Gebirge, eine kaum aus dem Wasser ragende Klippe. Doch es war Uusimaa, die Insel, zu der ich reiste, Uusimaa mit ihrer schmalen Halbinsel Kiviniemi im Süden, die der Insel auf Landkarten das Aussehen einer Kaulquappe verlieh. Wir näherten uns aus südlicher Richtung, der Streifen Land, der nun nach einer langen Fahrt über die glatte See vor mir auftauchte, musste also Kiviniemi sein. Und dieses Auftauchen vollzog sich nicht nur vor meinem Blick, das Auftauchen war eine geologische Tatsache. In einem fortlaufenden, morphologischen Prozess, der vor etwa zehntausend Jahren begonnen hatte, als sich die Gletscher der Eiszeit zurückzogen und Teile Lapplands, ganz Ostbottnien und Südwestfinnland von den Fluten des Yoldiameeres überspült wurden, begann das Gestein sich zu heben. Und es hob sich weiter, in einer erdgeschichtlichen Höchstgeschwindigkeit von einem Zentimeter im Jahr.
Als der römische Gelehrte Cornelius Tacitus um das Jahr 98 unserer Zeit über die Fenni ins Schwärmen geriet und sie als ein Volk beschrieb, das, ohne Furcht vor den Menschen, ohne Furcht vor den Göttern, erreicht hatte, was am schwierigsten war - dass sie niemanden um etwas bitten mussten[1] , gab es Uusimaa noch gar nicht. Erst viel später, als die abertausend finnischen Schäreninseln längst von den Wellen der Baltischen See umspült wurden, diese schönen, eisgeschliffenen Höcker aus Granit, die sich mit Wiesenblumen und Beerensträuchern, verwachsenen Kiefern und zerzausten Birken über das Wasser erhoben, erst dann, mit dem Beginn des ersten Jahrtausends, tauchte Uusimaa aus dem Meer auf. Der finnische Inselname Uusimaa, der sich aus den Worten uusi = neu und maa = Land zusammensetzt, bedeutet nichts weniger als Neues Land oder Neuland.
Als ich das erste Mal von jener Insel hörte, auf der Meisen lebten, die nicht mehr sangen, die schwiegen, ohne dass es eine wissenschaftliche Erklärung dafür gab, suchte ich Uusimaa auf einer Karte und fand die Insel nicht. Ich saß am Küchentisch meiner Brüsseler Freundin Clarissa, und der einzige Atlas, den ich zur Hand hatte, war ein Bildatlas für Kinder.[2] Auf der detailreichen Darstellung Skandinaviens streiften Elche durch seenreiche Wälder, Nils Holgersson überflog auf einer Gans die Ostsee, in Dänemark und im schwedischen Schonen erstreckten sich Weizenfelder bis ans Meer, und vor einer norwegischen Holzstabkirche ruhte ein Apfel, der sich in seinen Proportionen kaum geringer ausnahm als die Darstellung des Königlichen Schlosses von Stockholm. Ich erkannte Öland, Gotland und Ahvenanmaa, die Hauptinsel des Ålandarchipels, und jeder Insel war ein Attribut zur Seite gestellt: ein Bootsschuppen, ein mittelalterlicher Turm, eine Kiefer. Sogar Hailuoto, die, wie ich wusste, von den größeren Inseln im Bottnischen Meer Uusimaa am nächsten lag, war eingezeichnet, doch ausgerechnet dort, wo ich Uusimaa vermutete, verdeckte der Mast eines Fischerbootes die Sicht.
Orte in der Nähe von Uusimaa, und Nähe entsprach bei dem Maßstab der Karte einigen hundert Kilometern, waren Luleå in Schweden, der Bildlegende zufolge ein Umschlaghafen für Flößereiholz und Erz, und das finnische Rovaniemi, die Hauptstadt von Lappland. Einen Anspruch auf Genauigkeit erhob das Kinderbuch nicht, dennoch bedauerte ich, dass die Autoren ausgerechnet Uusimaa vergessen hatten. Gern hätte ich eine Darstellung der Insel im Stil der schönen Illustrationen gesehen. Eine Birke oder eine Beere hätten sie Uusimaa schenken können. Oder besser noch: eine kleine Lapplandmeise.
Es blieb das Problem der Ortsbestimmung. Im zweiten Buch, das ich auf meiner Suche aufschlug, einem Schulatlas von 1974, wurden sämtliche Inseln des Bottnischen Meeres als Ärgernis behandelt, als lästiges topographisches Phänomen, das man zu bewältigen versuchte, indem man einige staubkorngroße Pünktchen verstreute, die eher Druckfehlern glichen. Uusimaa in dieser verpixelten Punktmenge zu identifizieren war unmöglich. Auf einer physischen Karte des nordskandinavischen Raumes, auf die ich in einem anderen Atlas gestoßen war, hatte man sich der Darstellung der Inselwelt mit größerer Sorgfalt gewidmet, doch zu meinem Unglück wurde Uusimaa bei der Bindung der Buchseiten verschluckt. In dem nächsten Buch, das ich durchblätterte, entdeckte ich in den schmalen Spalten des Ortsregisters zwar ein Uusimaa, doch handelte es sich leider nicht um die Insel Uusimaa, sondern um die gleichnamige Provinz im Süden Finnlands.
Ich musste weitere Kartenwerke durchblättern[3] , bis ich die Insel schließlich fand, eine kleine Kaulquappe in der nördlichen Ausbuchtung der Ostsee, bedenklich nah am Polarkreis, dessen geographische Lage mir Angst bereitete, ebenso weit von der schwedischen wie von der finnischen Festlandküste entfernt.[4]
Als ich am späten Nachmittag im Frühsommer 1997 an Bord der Kaamos gegangen war, hatte mich eine Schüchternheit ergriffen, die sich während der ganzen Fahrt weg von der Küste nicht legen wollte. Die Fähre, die nicht größer war als die kleinen Schiffe, die Sonntagsausflügler über den Bodensee beförderten, bot nur wenige Möglichkeiten, sich zu verstecken. Als ich mich auf die Suche machte nach einem Ort in größter Entfernung von den wenigen Passagieren, die mit mir reisten, es waren kaum mehr als eine Handvoll Menschen[5] , die sich jedoch so verteilten, dass man nirgendwo allein war, wählte ich einen Platz draußen auf dem Deck, von dem ich mich während der vierstündigen Fahrt nur einmal entfernte, um mein eingeschlafenes Bein wach zu rütteln. Auf dem Weg zurück zu meinem Platz kam mir eine rundliche Frau im Trainingsanzug entgegen, sie schwankte, trotz der ruhigen See. Ob ihr Gesichtsausdruck böse oder freundlich war, ob sie getrunken hatte, ich konnte es nicht erkennen. So befangen, wie ich war, traute ich mich nicht, zu ihr aufzusehen.
Im Café unter der Kommandobrücke sah ich durch die geöffnete Schiebetür ein Mitglied der Schiffsbesatzung eine Rohrzange am Ventil eines Bierzapfhahns anlegen, mit den nervösen Bewegungen eines Angestellten, der sich bei seiner Arbeit beobachtet fühlte. Ich hätte Softdrinks, Kaffee und einem handbemalten Pappschild nach auch Makkara kaufen können, die nicht besonders schmackhafte finnische Grillwurst, um es mir mit dem Imbiss vor dem Bajazzo bequem zu machen, einem uralten, mechanischen Glücksspielautomaten, der in der Ecke des Aufenthaltsraumes stand. Aber ich wagte es nicht, die Türschwelle zu übertreten und bei dem finnischen Steward eine Bestellung aufzugeben. So kehrte ich zurück an meinen Platz auf dem Deck. Auf dem Absatz der Treppe, die zum Ruderhaus führte und deren Geländer, wie mir nun auffiel, mit bunten Luftschlangen geschmückt war, saß der Teenager, der im Hafen von Oulu mit mir an Bord gegangen war. Das Geschenk hatte er nicht mehr bei sich. Neben ihn hatte sich ein Mädchen gesetzt. Mehr wie Geschwister denn Liebenden gleich kauerten sie eng beieinander und teilten sich den Kopfhörer eines Discmans. Gerne hätte ich die beiden gefilmt, den Jungen mit dem gelockten Haar, das bis an seine hohen Wangenknochen reichte und ihm ein viel weicheres Aussehen verlieh als dem Mädchen, das sich mit dem breiten Kreuz einer Schwimmerin oder Eishockeyspielerin von mir abwandte. Vor der Kamera hätte ich den Jungen und das Mädchen nach der Zeit vor der Evakuierung befragen können, als es auf Uusimaa eine reformpädagogische Gesamtschule gab, die zweihundert Kinder besuchten, und vom Keller des Jugendhauses ein Piratensender betrieben wurde, der die Musik experimenteller Grunge- und Metal-Bands bis nach Oulu übertrug, der nächstgelegenen Großstadt. Vielleicht hätten wir uns angefreundet und einer der beiden Teenager hätte mich zu seinem leerstehenden Elternhaus geführt, einer amerikanisch anmutenden Holzvilla mit einer Veranda und einem Basketballkorb über dem Garagentor. Mir wäre der Garten der Kindheit gezeigt worden und das mit zerfetzten Postern behangene Jugendzimmer. So wären wir ins Plaudern gekommen, und ich hätte mir ihre Sicht auf all die Ereignisse angehört, die zur Evakuierung Uusimaas geführt hatten. Doch in meiner großen Schüchternheit packte ich die Kamera nicht aus und sprach sie nicht an. Dabei bestand darin der Anlass meiner Reise; das Erschaffen von Gelegenheiten und das Ins-Gespräch-Kommen mit Fremden. Ich war so lebensuntüchtig befangen, zu niemandem sagte ich auch nur ein Wort.
Die Gefahren der Sprachlosigkeit: Der Blick verklärt sich, wird...
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