Schweitzer Fachinformationen
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»Warum sind Sie hier?«, fragt Schwester Margot, wobei sie mich durch die dicken Gläser ihrer Hornbrille eingehend mustert.
Schwester Margot ist eine Barmherzige Schwester vom Heiligen-Soundso-Orden, den Namen des besagten Heiligen habe ich vorher noch nie gehört und konnte ihn mir deshalb auch nicht merken.
»Unser Haus ist in katholischer Trägerschaft, aber wir sind natürlich offen für alle Konfessionen«, hatte sie mich noch im Eingangsbereich aufgeklärt. Dann führte sie mich durch zwei lange Flure und eine Treppe in den ersten Stock. An allen Wänden und auch im Treppenhaus hing ein dürrer Jesus und blickte von seinem berühmten Kreuz erschöpft zu uns herunter. Schwester Margot ist also eine Nonne, und nach allem, was ich über das Christentum und über Nonnen weiß (was nicht viel ist), ist sie quasi mit dem traurigen Knochengerippe von Jesus da oben verlobt, wenn nicht gar verheiratet. Ich versuche, ihr zuzuhören, versuche es krampfhaft, doch sie und ihr Quasi-Ehemann lösen in mir eine ganze Reihe mulmiger Gefühle aus: Ehrfurcht, dicht gefolgt von herkömmlicher Furcht bis hin zu einem undefinierbaren Schuldgefühl, das wohl aus meiner ersten Zeit in der deutschen Schule stammt. Damals wusste ich noch nicht, dass man den monatlichen Gottesdient in der Kirche auch getrost hätte schwänzen können. Ich hatte es gerade aufs Gymnasium geschafft und wollte nichts falsch machen, also ging ich brav mit und kniete mich neben meine katholischen Klassenkameraden und meinen Freund Aljoscha in die Gebetsbänke, die Finger noch feucht vom Weihwasser, mit dem wir uns am Eingang bekreuzigt hatten. Beim Bekreuzigen und auch während des ganzen Gottesdienstes empfand ich eine beißende Schuld gegenüber meinem Volk und all seinen Märtyrern, gegenüber der Jüdischen Gemeinde Aachen, die mich und meine Familie so freundlich aufgenommen hatte, und ganz speziell gegenüber meiner armen, alten Großmutter, die so energisch vor jedem Kreuz zurückweicht, als sei es der Teufel in Person. Kurz gesagt: Ich fühlte mich schrecklich. Das Mindeste, was ich tun konnte, war, meine Finger nicht wie die anderen zum Beten ineinander zu verschränken, sondern die Hände nur ineinanderzulegen, wie der Sportlehrer es uns beim Volleyball gezeigt hatte. Ich schielte rüber zu Aljoscha, der mit ineinander verschränkten Fingern dasaß. Er hatte es einfacher als ich, seine Mutter war ja zur Hälfte russisch-orthodox - über ihrem Bett hing sogar eine kleine Ikone, ein Erbstück ihrer Großmutter. Ich habe schon länger den Verdacht, dass dieses kleine Bildchen der Grund ist, warum Aljoscha heute in Frankfurt lebt und ich immer noch hier festsitze. Denn welche echte jüdische Mutter lässt schon zu, dass die Frucht ihres Schoßes in die weite Welt hinauszieht! Da kann ja alles passieren, man könnte am Kreuz landen mit Nägeln in den Handflächen und zu allem Übel auch noch eine neue Weltreligion lostreten, die uns Juden vernichten will, es wäre nicht das erste Mal . Aljoscha faltete also die Hände wie ein echter Christ, während ich mir vormachte, ich würde gar nicht zum katholischen Gott beten, sondern nur Volleyball spielen in einer ziemlich finsteren Sporthalle voller Kerzen und Kreuze, in der es mysteriös nach Weihrauch roch. Und jetzt, während ich in dem kleinen Büro des Hospizes St. Martin vor Schwester Margot sitze, kommt es mir so vor, als würde dieser unheimliche Weihrauchgeruch mir wieder in die Nase steigen. Und plötzlich fühle ich mich sehr, sehr schuldig, dass ich überhaupt hier bin, ohne Mamas Wissen und gegen ihren Wunsch. Ich habe ja nicht erwartet, von einer Nonne empfangen zu werden. Als ich anrief und sie sich mit »Schwester Margot« meldete, war ich mir sicher, dass es sich um eine Krankenschwester handelt. Ich weiß wirklich nicht, wie man mit einer Nonne spricht. Diese mittelalterliche Kluft, die strenge Haube auf ihrem Kopf und das große hölzerne Kreuz um ihren Hals irritieren mich. Auf der Liste der Frauen, vor denen ich mich fürchte, stehen Nonnen ganz weit oben, noch vor Mama und sogar vor Rebekka, meiner heimlichen, blauäugigen Liebe.
Und jetzt schaut Schwester Margot mich auch noch an, als hätte ich eines ihrer Kreuze mit dem Abbild ihres Verlobten gestohlen, um es für ein paar Mark auf dem Trödelmarkt zu verscherbeln. Aus irgendeinem Grund fühle ich mich tatsächlich ertappt und habe plötzlich das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. Dabei biete ich ihr doch freiwillig und unentgeltlich meine Hilfe als Ehrenamtlicher an.
Ich räuspere mich und huste, um etwas Zeit zu schinden. Soll ich ihr wirklich die ganze Wahrheit erzählen? Dass mein Vater, als ich sieben war, bei der schrecklichsten Reaktorkatastrophe unserer Zeit ums Leben gekommen ist, dass er wahrscheinlich verbrannt ist oder verschüttet wurde oder gar in tausend Stücke gerissen, dass dieses allgemeine Unglück, das sich an jenem Tag über Europa legte, zu meinem ganz persönlichen Unglück geworden ist. Dass sein Tod in meine Zellen eingedrungen ist wie die Radioaktivität in den Boden, dieser Tod, der sich bereits bis in meine Haarwurzeln gefressen hat und mich jetzt schon kahl werden lässt wie einen alten Mann. Und dass ich endlich verstehen will, was genau das ist, was da Besitz von mir ergreift.
Irgendwie habe ich die leise Ahnung, dass dies keine gute Idee ist.
»Weil, ich möchte behöflich sein.«
So ein Mist! Nicht schon wieder! Seitdem wir nach Deutschland gekommen sind, vertausche ich Buchstaben oder Silben, wenn ich nervös bin. Dann sage ich Wörter, die es nicht gibt, und alle lachen. Sogar Schwester Margots Mundwinkel verziehen sich leicht.
»Behilflich, meine ich«, versuche ich, mich zu retten. »Ich bin Student hier an der Uni und habe Freistunden, die ich sinnvoll nutzen will.«
Das klingt hoffentlich glaubwürdig. Das Hospiz befindet sich tatsächlich nur wenige Minuten von meiner Fakultät. Wenn es nicht so wäre, würde ich kaum hier arbeiten können, ohne dass Mama Wind davon bekäme. So kann ich die Zeit zwischen zwei Vorlesungen nutzen, immer mittwochs, da habe ich zwischen zwölf und halb vier eine große Lücke. Doch Schwester Margot scheint das nicht zufriedenzustellen.
»Was wir hier tun, ist keine leichte Arbeit. Es kann sehr belastend sein, wenn man keine Erfahrung hat. Sind Sie denn jemals mit todkranken Menschen in Kontakt gekommen?«
Da muss ich nicht lange überlegen.
»Ja«, nicke ich. »Meine Großmutter. Sie liegt schon sehr lange im Sterben.«
»Was meinen Sie mit sehr lange?«
»Eigentlich schon immer.«
»Ein Pflegefall?«
»Kann man so sagen.«
»Das ist nicht ganz dasselbe.«
Wenn Schwester Margot nur wüsste!
»Diese Arbeit kann nicht jeder machen«, fährt sie fort. »Das müssen Sie wissen.«
»Ich glaube, ich kann es!«, beteure ich.
»Glauben ist gut«, sagt sie nachdenklich und rückt ihre Brille zurecht.
Ich erfahre, dass Schwester Margot das Hospiz leitet und dass sie vor allem als Seelsorgerin tätig ist, das ist der eigentliche, wichtige Teil ihrer Arbeit. Dass es auch Leute für die Pflege der Gäste gibt und jemanden für die Hauswirtschaft und mehrere Ärzte, die täglich ins Haus kommen.
»Alles, was man braucht, um unsere Gäste auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Aber Sie können sich ja selbst ein Bild machen, kommen Sie, ich zeige Ihnen erst mal das Haus, dann sehen wir weiter.«
Wir beginnen im ersten Stock. »Die Menschen kommen hierher, um in Würde zu sterben«, eröffnet Schwester Margot den Rundgang. In Würde sterben. Ich habe mich schon immer gefragt, wie das wohl geht, ob es überhaupt möglich ist. Es geschieht in einem Gebäude, das eigens für diesen Zweck erbaut worden ist, mit großen Fenstern, die zu einer öffentlichen Parkanlage hinausgehen, in einem von fünfzehn Einzelzimmern, die auf zwei Stockwerke verteilt sind. Wir betreten so ein Zimmer, das gerade frei geworden ist. Ob der Geist des letzten Bewohners noch da ist?, schießt es mir durch den Kopf, doch ich verscheuche den Gedanken wieder. Es ist schon sehr lange her, dass mir zum letzten Mal ein echter Geist erschienen ist, und ich denke nicht allzu gern daran zurück. Der Raum ist eine Mischung aus Krankenhauszimmer und Mittelklassehotel, mit Gardinen, die dasselbe Muster haben wie der Bettüberwurf und die Kissen, mit einem Fernseher, der von der Decke hängt, und einem behindertengerechten Duschklo mit einem großen Spiegel über dem Waschbecken. Will man wirklich so einen riesigen Spiegel im Bad haben, frage ich mich, wenn man kurz davor ist, zu sterben und höchstwahrscheinlich so aussieht, als wäre man schon längst tot? Wie so jemand tatsächlich aussieht, weiß ich nicht, denn wir haben auf unserem Rundgang noch keinen einzigen Bewohner getroffen. Die ganze Zeit schon hatte ich damit gerechnet, dass uns jemand entgegengeistert, jemand sehr krankes, ein Fast-Phantom in einem Rollstuhl, mit langen Schläuchen in Mund und Nase und dem aufflackernden Tod in den müden Augen. Doch es ist niemand da, die Gänge sind leer. Im ganzen Haus herrscht Stille. Vielleicht gehört auch das zum in Würde sterben, überlege ich und muss an den Lärmpegel bei uns zu Hause denken: das ewige Töpfeklappern in der Küche, Mamas Befehlston, wenn sie die Einkaufsliste diktiert oder mich zum Staubsaugen abkommandiert, das Brummen des Staubsaugers und im Hintergrund der Fernseher, den Baba Soja immer lauter dreht, bis er nicht mehr im Hintergrund ist - das alles noch übertönt von Mamas Gebrüll aus der Küche, ich hätte die Ecke hinter dem Kühlschrank vergessen. Kein Ort zum Sterben, schießt es mir durch den Kopf, und noch weniger ein Ort zum Leben!
»Das hier ist unsere Küche«, reißt Schwester...
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