Schweitzer Fachinformationen
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Ankunft - 1950
»Alles Gute zum Geburtstag, Tola!«
Mama hält mir einen kleinen Kuchen entgegen. Er ist mit blassrosa und weißem Zuckerguss verziert, obendrauf sind Kerzen, die in der Zugluft des Küchenfensters flackern.
Einen Moment lang bin ich unsicher, was ich tun oder sagen soll. Heute, am 7. September 1950, werde ich zwölf Jahre alt, und das hier ist der erste Geburtstagskuchen, den ich jemals bekommen habe. Er sieht so schön aus und so lecker - so perfekt - , dass ich ihn fast nicht berühren mag. Ich weiß, wie sehr sich meine Eltern diesen Kuchen vom Mund abgespart haben. Wir haben sehr wenig Geld, und meine Eltern sind sehr bedacht darauf, es nicht für Unnützes auszugeben.
»Na los«, sagt Mama. Sie schaut zu Papa, der neben ihr steht und stolz lächelt. »Blas die Kerzen aus. Wünsch dir was.«
Was wünsche ich mir? Es gibt so vieles - so vieles, dass ich kaum weiß, wo ich anfangen soll. Ich wünsche mir, dass wir für immer hier in unserer kleinen Wohnung bleiben können, dass wir nie wieder irgendwohin umziehen müssen. Ich wünsche mir, dass wir nicht nur zu dritt wären, sondern dass auch meine Großeltern und meine Tanten und Onkel und Cousins und Cousinen hier wären, um mit uns zu feiern. Ich wünsche mir, dass Mama nicht immer so traurig ist, dass ich sie nicht, wenn ich abends im Bett liege, durch die dünne Schlafzimmerwand weinen höre. Aber jetzt, in diesem Augenblick, wünsche ich mir vor allem, dass ich Freundinnen hätte, eine einzige wenigstens.
Ich hole tief Luft und blase, so fest ich kann. Die Flammen flackern wild, wehren sich kurz und gehen dann eine nach der anderen aus. Nachdem alle erloschen sind, schließe ich meine Augen. »Ich wünsche mir, dass .«
»Psst!«, macht Papa. »Sag's uns nicht, sonst geht es nicht in Erfüllung.«
Mama stellt den Kuchen auf den Küchentisch, und ich sehe ihr dabei zu, wie sie ein großes Küchenmesser nimmt und anfängt, ihn in winzig kleine Stücke zu teilen, damit wir so lange wie möglich etwas davon haben. Der glatte rosa Zuckerguss splittert, und der Kuchen darunter ist braun - Schokolade, den mag ich am liebsten. Mama lächelt zwar immer noch, doch ihre Augen glänzen feucht. Sie blinzelt die Gedanken an ihre Familie weg. Papa legt ihr sanft eine Hand auf die Schulter. Sie seufzt.
»Na los, Tola, das erste Stück gehört dir«, sagt sie.
Das muss man mir nicht zweimal sagen. Gierig habe ich mir schon eins geschnappt und mir zu viel davon in den Mund gestopft. Der Kuchen schmeckt unglaublich. Ich weiß genau, wie es sich anfühlt, hungrig zu sein. Doch heute werde ich essen wie eine Königin.
Mama, Papa und ich sind erst vor fünf Monaten in New York angekommen. Ich erinnere mich gut daran, wie ich ungläubig die Skyline bestaunte, als unser Schiff in den Hafen einfuhr. Mama ging es nach den vielen Wochen auf See gar nicht gut. Als Papa mich zum Bug des Schiffs schickte, lag sie an Deck auf einer Matratze.
»Lauf nach vorn und sieh dir die Freiheitsstatue an«, meinte er. »Das ist ein Anblick, den du nie mehr vergessen wirst.«
Bis dahin hatte ich die Statue nur auf Fotos gesehen, und mir blieb die Luft weg, als ich sah, wie groß sie in Wirklichkeit war - und wie ihre Augen unserem Schiff zu folgen schienen, als wir langsam an ihr vorbeifuhren. Ich konnte nicht glauben, wie hoch die Wolkenkratzer waren: Sie reichten tatsächlich bis in die Wolken. Der Unterschied zwischen dieser Stadt und den schmutzigen, zerbombten Kraterlandschaften Europas, die ich noch deutlich vor Augen hatte, hätte größer nicht sein können. Der Schatten der Freiheitsstatue glitt über unser Schiff hinweg, und ich betete, dass das Leben in unserer neuen Heimat sich zum Besseren wenden möge.
Während der ersten paar Wochen wohnten wir in einem Hotel in Manhattan. Dann fand Papa eine Arbeit und wir zogen in unsere Wohnung nach Queens, genauer: in den Stadtteil Astoria, ein italienisches Viertel mit kleinen Häuschen und gepflegten Gärten. Unser Haus war der einzige Wohnblock im Karree. Wir hatten ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, eine Küche und ein Badezimmer, an den Fenstern waren Vorhänge, und es gab sogar ein Radio. Es fühlte sich alles so luxuriös an, dass es mir gar nichts ausmachte, dass ich auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen musste.
Außerhalb unserer Wohnung war das Leben schwieriger. Alles in New York fühlte sich fremd an: die Kleidung, die Autos, das Essen, der Lärm, und am allermeisten die Sprache. Aus den Mündern der Leute kamen unverständliche Laute, und manchmal fragte ich mich, ob ich sie jemals verstehen würde. Am Anfang konnte ich nur einige Wörter Englisch - zu Hause hatten wir immer Jiddisch gesprochen. Ein wenig Polnisch sprach ich auch, aber das brachte mir hier nichts.
An meinem ersten Tag in der Schule sagte der Direktor, dass ich in die vierte Klasse müsse, wo die Kinder zwei ganze Jahre jünger waren als ich. Ich war groß für mein Alter, ragte also weit über meine neunjährigen Klassenkameradinnen und -kameraden hinaus. Die anderen Kinder hänselten mich, weil ich seltsam aussah mit meinen langen Zöpfen, Secondhand-Kleidern und abgetragenen Schuhen, und weil ich einen ausländischen Akzent hatte. Manchmal näherten sie sich mir, als würden sie sich an ein seltsames Tier heranpirschen, um es zu begutachten, nur um dann kichernd davonzurennen. Oder einer schubste den anderen in meine Richtung und sie riefen dabei etwas, das ich nicht verstand, und lachten mir dann direkt ins Gesicht. Ich schämte mich, aber ich wusste auch, dass alles noch viel schlimmer hätte sein können. Wenigstens nannte mich niemand mehr »dreckige Jüdin« oder versuchte, meine Familie umzubringen.
Die Kinder in meiner Straße waren genauso. Sie starrten mich an, als wäre ich eine Außerirdische. Ich hätte so gerne mit ihnen gesprochen, bei ihren Spielen mitgemacht, aber ich wusste ja nicht einmal, wie man spielt. Den ganzen ersten Sommer hier in New York fühlte ich mich einsam, hatte Angst und war verwirrt.
Meinen Eltern konnte ich nicht sagen, wie traurig ich war. Wir hatten alle schon so viel durchgemacht, und ich hatte das Gefühl, dass es nun an mir war, sie stolz und glücklich zu machen. Obwohl seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs schon fünf Jahre vergangen waren, waren unsere Wunden immer noch sehr frisch.
Jetzt bin ich also zwölf, und ich denke - ich hoffe - , dass die Dinge von jetzt an besser werden. Das neue Schuljahr beginnt und ich komme in die siebte Klasse, mit Kindern in meinem Alter. Ich muss nicht mehr auf einem winzigen Stuhl sitzen, und meine Lehrerin hat mir bereits gezeigt, wie man einen Stift richtig hält. Und ich verstehe immer mehr englische Wörter, was bedeutet, dass die anderen mich etwas weniger wie eine Idiotin behandeln. Grund dafür ist dieses wundervolle Buch, das mir Mama geschenkt hat. Es ist ein großes Bilder-Wörterbuch, und man könnte sagen, dass dieses Buch der erste Freund war, den ich in New York hatte.
Ich verbrachte den Sommer auf einem Stuhl vor unserem Wohnblock, prägte mir die Bilder ein und sagte die Wörter auf - so, wie sie da standen, also wahrscheinlich nicht ganz richtig. Jeden Abend, wenn sie von ihrer Arbeit in der Schuhfabrik nach Hause kam, ging Mama mit mir die Wörter durch, die ich an diesem Tag gelernt hatte.
Wenn Mama und Papa abends zu Bett gegangen sind, habe ich das Wohnzimmer für mich alleine. Zum allerersten Mal muss ich mir ein Zimmer nicht mit irgendjemandem teilen und kann sogar - das ist das Allerbeste - stundenlang bis spät in die Nacht Radio hören. Für den Großteil meines bisherigen Lebens waren Radios verboten gewesen; sie konnten dich töten, wenn sie ein Radio bei dir fanden. Jetzt eines zu haben, gibt mir das Gefühl von Freiheit.
Eines Freitagnachmittags, ich bin seit etwa einem Monat in der siebten Klasse, werde ich ins Büro des Direktors gerufen. Ich bin nervös und überlege, was ich Falsches getan haben könnte. Ich kämpfe gegen schreckliche Erinnerungen an und mache mich auf das Schlimmste gefasst. Zu meiner Erleichterung werde ich von einer freundlich lächelnden Frau begrüßt, die mir bedeutet, mich zu ihr zu setzen.
»Hallo, Tola«, sagt sie.
Ich nicke, sage aber nichts. Ich sitze so still wie möglich da und warte auf Bestrafung.
»Keine Sorge, du hast nichts angestellt. Ich sag dir, worum es geht. Uns ist aufgefallen, dass du noch keine Freunde hast, Tola. Es scheint, als seist du immer allein. Ich würde dir gerne helfen.«
Ich fühle, wie mir die Hitze in die Wangen steigt.
»Ich weiß, dass es schwierig ist, sich zugehörig zu fühlen, wenn man neu ist und von . woandersher kommt. Aber es gibt Dinge, die du tun kannst, um es dir selbst ein wenig leichter zu machen. Hier haben Mädchen in deinem Alter keine so langen Zöpfe.« Sie deutet in Richtung meiner Haare und formt mit Zeige- und Mittelfinger eine Schere, für den Fall, dass ich sie nicht verstanden hätte. »Abschneiden wäre doch eine Möglichkeit, oder?«
Es ist weniger eine Frage, mehr ein Befehl. Unbewusst greife ich nach meinen Zöpfen und zwirbele sie wieder und wieder um meine Finger. Ich habe mir seit fünf Jahren nicht mehr die Haare geschnitten - nicht mehr, seit sie mir im Konzentrationslager abrasiert wurden. Meine langen Haare bedeuten Mama so viel, und ich weiß, sie wird entsetzt sein.
»Und dann deine Kleidung.« Sie deutet auf mein langes, formloses Kleid, von dem ich natürlich bereits weiß, dass es mit den modischen Kleidern der anderen Mädchen in der Schule nicht...
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