Schweitzer Fachinformationen
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Seite an Seite kehrten Schulmeister Futter und sein Lehrling den Kirchplatz, der ungepflastert und löchrig war, nach dem Regen voller Pfützen stand oder jetzt, bei schönem Wetter, nach jedem Besenstrich aufstaubte und die beiden Reinemacher einpuderte. Der Staub biss Hansjörg in den Augen; immer wieder setzte er den Besen ab und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Dennoch hörte er aufmerksam seinem Meister zu, der ihm die Mesnerarbeiten erklärte, die zum Schuldienst in Ringelfingen gehörten.
»Das Wichtigste schreibst du dir für alle Zeiten hinter die Ohren.« Futter hielt inne und blickte an dem barocken Kirchturm hinauf. »Der Lehrer ist ein Kirchendiener. Die Volksschule gehört der Kirche, der Lehrer arbeitet für die Kirche und samstags und sonntags vor und in der Kirche.« Er stützte sich auf seinen Reisigbesen, hustete, spuckte Staub und setzte außer Atem hinzu: »Der Pfarrer ist der Schulvorstand und der Dekan unser oberster Vorgesetzter. Alles, was die geistlichen Herren wünschen, ist uns Befehl. Kapiert?«
»Mir scheint«, entgegnete Hansjörg, »den Lehrern an der Lateinschule und am Gymnasium hat der Pfarrer nichts zu sagen.« Er wischte sich den Staub aus den tränenden Augen. »Die lachen, wenn sie hören, dass wir den Mesnerdienst versehen müssen.«
»Stimmt, wer hat dir das geflüstert?« Futter sah seinen Lehrling erstaunt an. »Hierher nach Ringelfingen verirrt sich doch keiner von den gelehrten Schulherren.«
Hansjörg legte beide Hände auf das Ende seines Besenstiels und lehnte sich darauf. »Am letzten Samstag bin ich mit meinem Freund Eugen am Bach gesessen und habe einem Mann zugeschaut, der barfuß im Wasser herumgewatet ist wie die Fischreiher.«
Beim Gedanken an jenen Augenblick musste Hansjörg unwillkürlich laut lachen. »So fangt Ihr keinen Fisch, habe ich ihm zugerufen. Darauf er: Will ich nicht, ich suche nach Schnecken. Der Eugen hat sich gebogen vor Lachen: Dann kommt heraus aus dem Wasser und geht in den Garten von unserem Pfarrer. Da könnt Ihr Schnecken holen, so viel Ihr wollt. Da kam der Mann zu uns herüber, zeigte uns versteinerte Schnecken aus dem Bach und fragte uns, ob der Pfarrer unser Vater sei. Als er hörte, dass wir zum Lehrerinstitut des Pfarrers gehören, hat er geseufzt und uns bedauert: So, so, arme Dorfschulmeisterlein wollt Ihr werden und billige Knechte für die Pfarrer.«
»Die hohen Herren von den Bürger- und Lateinschulen und vom Gymnasium sehen auf uns Kirchendiener herab«, bestätigte der Schulmeister und wiegte den Kopf. »Die lassen uns überall spüren, dass sie was Besseres sind. Staatsdiener nennen sie sich.«
»Schulmeister Futter, das versteh ich nicht.«
»Die Herren Oberlehrer gehen nicht bei einem Schulmeister in die Lehre oder in ein Lehrerinstitut wie du.« Futter zog ein großes Tuch aus seiner Hosentasche, wischte sich die Augenwinkel aus und schnäuzte in den grünen Stoff. »Nein, sie studieren wie die Pfarrer an der Universität in Tübingen. Das sind lauter feine Leut, die mit uns nichts zu tun haben wollen.« Er faltete bedächtig das Tuch zusammen und steckte es wieder in die Hose. »Sie bekommen ihren Lohn aus dem Staatssäckel, und ihr Dienstherr ist nicht der Dekan, sondern die Regierung unseres Königs.«
Hansjörg lachte so laut, dass er sich verschluckte und mit Mühe am Besenstiel festhalten konnte.
»Warum lachst du, hab ich was Lächerliches gesagt?« Der Lehrer schlug mit seinem Besen in die Richtung des Jungen.
Als Hansjörg wieder Luft holen konnte, sagte er: »Ich hab mir vorgestellt, dass unser König mit ausgebeulten Hosen herumlaufen muss, weil er so viel Geld in seinem Hosensack kaum schleppen kann.«
»Du Kindskopf, glaubst du, unser König geht wie der Nikolaus mit einem Sack über der Schulter im Land herum und zählt seinen Staatsdienern persönlich die Gulden in die Hand?« Futter warf einen Blick auf die Kirchturmuhr, die nur einen Stundenzeiger hatte; für eine neue Uhr wie in Sommerfelden, die auch die Minuten anzeigen kann, hatte man hier in Ringelfingen kein Geld. Dann mahnte er Hansjörg, die Arbeit rasch zu beenden: »Auf geht's, junger Mann, schau mal auf die Uhr. Bald schlägt's vier. Es pressiert. Heut ist Mittwoch, und da hast du Pädagogikunterricht beim Herrn Pfarrer.«
Im Pfarrhaus saßen neun Fünfzehnjährige um einen langen Tisch, den Bauch an die Tischkante gepresst und beide Hände in schöner Disziplin flach auf den Tisch gelegt, wie es in den Lehrerseminaren üblich war. Mit den Füßen scharren und sich im Gesicht oder an den Armen und Beinen kratzen, war ihnen verboten, sogar wenn das grobe Leinenhemd auf der nackten Haut juckte und die gestrickten Strümpfe unter der knielangen Lederhose scheuerten. Pfarrer Steinhilber saß seitlich zum Tisch, die Beine übereinandergeschlagen, den linken Ellbogen auf die Tischkante gestützt und den Kopf in die Handfläche geschmiegt. Er blätterte nachdenklich in einem dicken Buch, das vor ihm auf dem Tisch lag. Sein schwarzer Kittel verdeckte zur Hälfte die große, blank geputzte Schultafel; links davon hing eine Landkarte des Königreichs Württemberg, und rechts neben der Tafel war eine Holzleiste in geringem Abstand zur Zimmerdecke an die Wand geschraubt; darauf war mit Stecknadeln eine Darstellung des Heiligen Landes geheftet. Sie zeigte eine Karte Palästinas zur Zeit des Neuen Testaments und etliche kleine Kupferstiche mit biblischen Motiven.
Ruckartig blickte der schwarz Gekleidete mit dem grau melierten Backenbart auf, setzte sich aufrecht an den Tisch, rückte seinen Stuhl gerade und sah jeden seiner Zöglinge streng an: »Vier Monate seid ihr schon in Ringelfingen und habt euch gewiss eingelebt. Das erste Heimweh ist hoffentlich verflogen. Im Umkreis von einer halben Stunde Fußmarsch ist jeder von euch bei einem Schulmeister untergekommen, bei dem ihr die praktische Seite des Schulehaltens erlernen sollt. Unser Hansjörg hat es am besten getroffen; er geht hier im Ort dem Schulmeister Futter zur Hand. Da spart er sich jeden Tag eine Stunde Fußmarsch; dafür muss er beim Mesnerdienst mithelfen.«
Hansjörg schwang unter dem Gefeixe seiner Leidensgenossen einen imaginären Besen.
Pfarrer Steinhilber beobachtete es aus den Augenwinkeln. »Die äußere Ordnung in meinem Seminar habt ihr kapiert. Heute wollen wir beginnen, innere Ordnung in euren Köpfen zu schaffen«, fuhr er schmunzelnd fort und sah Hansjörg an.
Er hielt ein Buch in die Höhe, das in hellbraunes Ziegenleder gebunden und mit einem goldenen Rückenschild verziert war, und fragte in die Runde: »Wer kennt dieses Buch?«
Eugen, der neben Hansjörg saß, meldete sich. »Das Buch hat Ihr Schulfreund geschrieben. Sie selbst haben's mir gesagt.«
»Christian Heinrich Zeller war nicht mein Schulfreund, er war mein Studienfreund. Ich habe ihn nicht auf der Schule, sondern auf der Universität in Tübingen kennen gelernt«, der Pfarrer strich sich mit der Hand über die Augen, »vor bald vierzig Jahren. Und seit dieser Zeit schreiben wir uns regelmäßig und treffen uns ab und zu, so Gott will.«
Hansjörg rechnete nach. Dann musste Steinhilber bald seinen sechzigsten Geburtstag feiern. So alt hätte er den schlanken Mann nicht geschätzt, der es »im Kreuz hatte«, wie er oft sagte. Er war nicht so dick wie viele andere Pfarrer. Wie hatte Schulmeister Futter neulich gesagt? Unser Dekan ist ein Versuch der Natur, wie weit menschliche Haut dehnbar ist.
Ein Lachen huschte über Hansjörgs Gesicht, das Pfarrer Steinhilber zu der Bemerkung veranlasste: »Unser Hansjörg lacht mal wieder in sich hinein. Immer himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, gell, Hansjörg.«
Hansjörg wurde puterrot und setzte eine ernste Miene auf, während ihn Eugen grinsend von der Seite musterte.
»Mein Freund Christian Heinrich Zeller hat mir in Beuggen vorgemacht, was ich ihm hier in Ringelfingen nachzumachen versuche. Er hat vor zwanzig Jahren in einem alten Wasserschloss am Rhein, in der Nähe der schweizerischen Stadt Basel, aber noch im Badischen gelegen, ein Rettungshaus gegründet.«
Steinhilber sprach bedächtig und machte immer wieder Pausen, in denen er mit flinken Augen prüfte, ob ihm seine Seminaristen zuhörten. »In den fürchterlichen Kriegen Napoleons wurden viele Kinder zu Waisen. Und in den schlechten Ernten und strengen Wintern danach verarmten Hunderttausende, deren Kinder zu Bettlern und Dieben verkamen und verwahrlosten.« Er hielt ein und blickte versonnen auf das Buch, das vor ihm lag. »Zeller wollte die hilflosen Geschöpfe retten und ihnen eine neue Bleibe schaffen. Die Begabtesten sollten Lehrer werden. Deshalb hat er sein...
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