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Der Regen hatte nachgelassen, als ich am Tatort ankam. Fröstelnd duckte ich mich in den grauen Wollmantel, den Gisela mir geschenkt hatte. Die Düsternis des Morgens durchdrang alles mit ihrer kalten, dunstigen Nässe. In den Pfützen spiegelte sich der Himmel schattenhaft.
Eine halbe Stunde zuvor hatte mich ein Streifenpolizist aus dem Bett geklingelt, und ich war gleich von der Neustadt hierhergeeilt mit meinem Fahrrad, ohne zu frühstücken oder vorher zum Präsidium zu fahren. Außer dem Pfefferminzgeschmack der Zahnpasta hatte ich noch nichts genossen. Aber ich wollte so früh wie möglich erscheinen. Es war schließlich mein erster Fall, und Schröder konnte ungehalten werden, wie man mir gesagt hatte.
Nur zögernd näherte ich mich dem Tatort.
Das blaue Licht der beiden Polizeiautos durchpulste stumm die Szenerie, während eine Straßenbahn sich einen Weg durch das Chaos bimmelte. Kreischendes Quietschen, als Stahl auf Stahl schabte. Das Geräusch verursachte Schmerzen an meinen Zähnen. Und endlich ruckelte die Straßenbahn knirschend vorbei.
Im selben Moment, wie ich unterm Absperrband durchtauchte, kam auch Schröder. Groß und feist verließ der Mann seinen Wagen und schritt quer über die Straße, als durchteilte er ein Meer. Alle Augen waren sofort auf ihn gerichtet, den Hauptkommissar. Mich bemerkte man kaum. Ich trat an den Wagen, dessen Fahrertür geöffnet war, und sah den Toten, den Toten im Borgward, wie es später in der Presse lauten würde.
Ich schüttelte mich vor Kälte, auch um ein Bild loszuwerden, das Bild eines anderen Toten, den ich einmal gesehen hatte. Einen Jungen.
Der Tote blickte aus seinen leeren . Augen. Nein, es gab keine Augen. Stattdessen gab es - Blumen. Ja, er schaute mit seinen Blumenaugen in den weißen Kunststoffhimmel des Wagens. Der Mund stand offen, was dem Gesicht einen erstaunten Ausdruck verlieh. Der Kopf war nach hinten gelehnt. Jemand, vermutlich der Täter, hatte den Sitz nach hinten gedreht, sodass der Tote nicht nach vorn fiel.
Das Auto war ein Borgward, also nicht irgendein Auto; denn natürlich dachten wir alle sofort an die Borgward-Krise, die die Schlagzeilen beherrschte, und so war es ein Sinnbild, dass der Tote gerade in solch einem Wagen saß, hinter dem Steuer, in einer halb liegenden Position.
Um mich herum war Stimmengewirr. Das Innere des Wagens und der Tote selbst waren geradezu voller Blut. Blitzlichter funkten in den diesigen Morgen. Die Fotografin suchte immer wieder eine neue, eine bessere Stellung, um das Innere des Wagens und die Lage des Opfers ins Visier zu nehmen.
Aber was war das?
Mein Chef, Kriminalhauptkommissar Schröder, begann, irgendetwas zu rezitieren. Es klang eigenartig schön, begleitet vom rasselnden Beckenklang des Windes, der über die Pfützen strich.
Es klang auch zynisch.
»Das macht der immer so«, flüsterte mir Kemnich von der Kriminaltechnik zu. Ein Polizist in Uniform glotzte verständnislos. Ein anderer zeigte einem anderen heimlich den Vogel. Aus Schröders immer feuchten und irgendwie gierigen Lippen strömten diese Verse in einem basstiefen Gurgeln. Es ging um einen ersoffenen Bierkutscher, der eine Aster zwischen den Zähnen hatte. Er liegt nackt auf einem Seziertisch. Man schneidet ihm die Zunge heraus. Da schwimmt eine kleine Aster davon in sein Gehirn. Soll sich die kleine Aster satt trinken, heißt es. Satt trinken am Fleisch des Toten, sagt die Stimme des Gedichts und sagte die Stimme Schröders.
Dabei waren es keine Astern, es waren zwei Nelken, eine weiße und eine rote, und sie lagen dem Toten auf den Augen, waren seine neuen Augen. Um den Mund und auf dem Kinn viel Blut. Trotz allem, dachte ich, ist die Anmut des Antlitzes noch nicht ausgelöscht. Die blutigen Blütenaugen vereinigten auf bizarre Weise Schönheit und Grausamkeit.
Schröder beendete seinen kleinen Ausflug ins Poetische mit einem Wort wie ein Gong: »Benn.« Und fügte noch hinzu: »Gottfried.« Er grinste, um den Zynismus perfekt zu machen. Schröder war ein Hüne, über einen Meter neunzig aufragend, Stiernacken, breiter Brustkorb, riesige, kräftige Schaufelbaggerhände. Dazu eine richtige Fresse: selbst jetzt noch, wo er über fünfzig Jahre alt war, pockennarbig. Dazu ein zünftiger Schmiss, quer über die rechte Wange, war Korpsstudent in Göttingen Anfang der Dreißigerjahre gewesen.
»Die Blüten. Die sind doch vom Schießstand«, bemerkte Schröder.
Der Rechtsmediziner, der den Toten untersuchte, kam aus dem Wagen hervor und machte Schröder Platz. Der stierte ins Innere, er beugte sich hinein in den Fond des Wagens und schaute dem Toten direkt auf die Blütenaugen. »Aha«, murmelte er. Alle warteten gespannt. »Die sind angepinnt«, stellte er fest. »Mit einem Draht oder so. Das müsst ihr euch nachher mal genau anschauen.«
»Wo sind denn die Augen?«, fragte ich. Ich war bisher noch niemandem aufgefallen. Jetzt starrten mich alle an, und dann lenkten sie den Blick auf den toten Mann im Wagen. Schröder knurrte. Schröder kramte. Er zückte eine Pinzette. Damit versuchte er vorsichtig, die Kunstblüte beiseitezuschieben, um dahinter zu sehen.
»Weg . Keiner rührt sich!«
Wir erstarrten sofort. Er kam aus dem Wagen heraus. Vorsichtig eierte er zehenspitzig mit seinen riesigen Quadratlatschen über die Gehwegplatten, sein Blick auf den Boden geheftet, ein Nilpferd als Ballerina. »Nicht, dass die Augen hier herumliegen und morgen spielen Kinder damit Murmeln.«
»Mensch, die hätten wir doch schon gefunden«, versicherte Kemnich.
Schröder entspannte sich. »Wie lange ist der Mann schon tot?« Er wandte sich an Dr. Hauptmann, den Rechtsmediziner.
»Noch nicht lange. Würde sagen, keine zwei Stunden.«
Schröder schaute auf seine Armbanduhr. »Also ist der Tod so gegen halb fünf, fünf eingetreten.«
»Ja, round about.« Der Mediziner war Mitte fünfzig, graue, trockene Haut und glasige Augen. Überarbeitet. Er hatte nach dem Krieg erst für die Engländer und dann für die Amerikaner gearbeitet, daher seine Angewohnheit, englische Redewendungen einzuflechten.
»Was meinen Sie, war der Mann schon tot, als man ihn blendete?« Wieder war der Arzt gefragt.
»Das lässt sich nur durch eine Autopsie feststellen, wenn überhaupt. Todeszeitpunkt und Augenentnahme liegen vermutlich zeitlich eng beieinander. Ich hoffe natürlich, dass die Blendung nachher geschah.«
Alle nickten.
»Jetzt erst mal weg mit ihm nach nebenan, in die Rechtsmedizin. Aber Vorsicht!«
Die Pathologie lag tatsächlich nicht weit weg von dem Ort, an dem wir uns gerade befanden, wenn auch nicht nebenan. Schröder trat beiseite und ließ zwei Sanitäter ihre Arbeit machen. Der Tote wurde aus dem Wagen gehievt und auf eine Bahre gelegt - die beiden Männer waren nervös und unsicher angesichts des schaurigen Anblicks. Schließlich rutschte einem der Griff aus der Hand. Dabei fiel eine der beiden Blüten aus seiner menschlichen Vase und wäre beinahe auf dem Boden gelandet, aber ich, Thomas Nettelbeck, war zur Stelle und fing sie auf. Schröder fauchte die beiden an, die sich schuldbewusst duckten, sodass die Bahre zu schwanken begann. Dr. Hauptmann machte eine hilflose Bewegung.
Wir alle sahen in die leere rechte Augenhöhle des Toten. Eine Blutspur von der Augenhöhle die Wange hinab war geronnen und glich einer roten Träne, künstlich, kitschig und schrecklich-clownesk zugleich, wie aufgemalt. Wir schauderten. Nur Schröder, so viel bemerkte ich, zuckte nicht, verriet mit keiner Miene, ob er betroffen war. Sein Gesichtsmassiv war versteinert, und dann sagte er, als würde ein Fels mit Leben behaucht: »Gut gemacht.«
Schröders Lob verwies mich wieder auf die Blüte in meiner Hand. Darin steckte ein Draht, wie man es von Jahrmarktblumen kennt. Kemnich hielt mir einen Asservatenbeutel hin. Ich legte die Blüte vorsichtig hinein. Am Draht und an einigen Blättern war Blut. Ich war zwar froh, die Blüte loszuwerden, wollte aber auch nicht pietätlos sein. Diese Blüte, so schien mir, war auf wunderliche Weise zu einem Teil des Toten geworden.
»Hier, meine Rotzfahne.« Schröder reichte mir ein zusammengefaltetes Taschentuch. Ich rieb das Blut ab und wusste nicht, ob ich ihm das blutbefleckte Stück Stoff wieder zurückgeben sollte. Was soll's. Ich steckte es in meine Manteltasche.
»Warum hat der Mörder sein Opfer brutal geblendet und dann mit Blumen bedeckt?«, sinnierte Schröder für sich, aber so, dass es jedermann hörte.
Währenddessen erklärte ein eifriger Polizeiwachtmeister: »Die Leiche, ein gewisser Thomas Neumann, neunundzwanzig Jahre alt, verheiratet, wurde heute um sechs Uhr fünfundvierzig gefunden. Ein neugieriger Passant wollte einfach einmal einen Blick ins Innere des schicken Wagens werfen. Ist ja auch eine Luxuskarosse, ein P100, das Beste, was Borgward zu bieten hat, und ein paar Extras dazu. Liegt tiefer, weil er eine Luftfederung besitzt. Das muss schaukeln wie im Himmelbettchen. War bestimmt ein Borgward-Liebhaber.«
»Wird es bald nicht mehr viele geben«, kommentierte einer.
»Sechs Zylinder, Hubraum zweitausendzweihundertvierzig Kubikzentimeter«, konstatierte Kemnich nüchtern mit leichtem Aufflackern von Zahlenmagie.
»Mann, kriegen Sie sich mal wieder ein! Der Wagen ist vermutlich ein Tatort!«, rumste Schröder dazwischen.
»Der Hansa 24-Hundert gefällt mir besser, irgendwie runder! Der alte Carl Borgward fährt den auch. Na ja, den haben die abgesägt. Hat im eigenen Laden nichts mehr zu sagen«, warf ein umherstehender Polizist ein und erntete einen...
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