Schweitzer Fachinformationen
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Nebelfetzen und Regenschauer jagen über das bleigraue Wasser des Jadebusens. Gespenstig verschwinden die dunklen Silhouetten der Schlachtkreuzer und Linienschiffe hinter den Nebelvorhängen und tauchen unversehens wieder auf. Für die letzten Tage des Oktober 1918 ist das rauhe Wetter an der deutschen Nordseeküste typisch. Immer wieder schiebt sich zwischen die mächtigen Schiffsleiber in vorsichtiger Fahrt ein neuangekommener Koloß, um Anker zu werfen. Allmählich sind alle schweren Einheiten der kaiserlichen deutschen Hochseeflotte auf Schillig-Reede versammelt. Kohlenprähme, von qualmenden Schleppern gezogen, werden sogleich von kohlebunkernden Matrosen und Heizern bevölkert. Dampfpinassen flitzen zwischen den Schiffen kreuz und quer, sie machen an ausgebrachten Spieren und Fallreeps fest oder streben dem Land zu. Der Anblick der kanonenbewehrten Armada vor Wilhelmshaven hat etwas Drohendes an sich. Doch sind die Schlünde der sich in Ruhestellung befindlichen Turm- und Kasemattgeschütze mit einer Mündungskappe verschlossen, und das Jadewasser wäscht spielerisch an den Bordwänden.
Auf den Schiffen herrscht die übliche Betriebsamkeit. Und dennoch ist es anders als sonst. Gerüchte, Spekulationen, Hoffnungen, gar Zorn und Verbissenheit geben in diesen Tagen dem Dienstablauf eine bisher nicht gekannte Spannung: Warum sind die schweren Schiffe der Hochseeflotte hier unter Dampf versammelt, jetzt, wo der Krieg doch nur noch Tage, vielleicht nur noch Stunden dauern kann?
Auf dem Linienschiff »Thüringen« geht der Bootsmannsmaat der Wache durch die Wohndecks und pfeift zum abendlichen Backen und Banken. Das braucht schon seine Zeit. Die »Thüringen« mit nahezu 170 Metern Länge und rund 23 000 Tonnen Wasserverdrängung gehört zu den vier Schiffen der Helgolandklasse und ist ein modernes Kampfschiff mit je gut 1100 Mann Besatzung. Sie wurde 1911 in Dienst gestellt. Überall, wo der Bootsmannsmaat erscheint, wird er erwartungsvoll angestarrt. Man erhofft von ihm als Wachhabenden Aufklärung, was die Versammlung der Hochseeflotte hier auf Schillig-Reede zu bedeuten habe. Doch jedesmal, wenn er den Routinebefehl ausgesungen hat, zieht er die Schultern hoch und geht weiter. Enttäuscht nehmen die Matrosen die eisernen Bakken und Bänke aus den Verlaschungen und stellen sie auf. Ein Heizer knurrt hinter dem Davongehenden her: »Der Scheißer weiß auch nicht mehr als wir.«
Die Backschafter machen sich mit ihren Schüsseln und den Kannen für die Zichorienbrühe auf den Weg. Vor der Proviantausgabe herrscht Gedränge. Über den verabreichten Fraß regt sich schon längst keiner mehr auf, der Zorn darüber ist permanent. Außerdem werden die Gemüter jetzt von anderem bewegt.
Im Wohndeck der III. seemännischen Division stellt der Backschafter die Abendmahlzeit auf die Back: für jeden einen bescheidenen Kanten dunkles Brot, ein Häufchen Magermilchquark, einen Klecks Margarine und eine dünne Scheibe billige Blutwurst. Zu seiner Backschaft gehören Männer der 30,5-cm-Geschützturmbesatzung »Cäsar« und der 15-cm-Steuerbordkasemattgeschütze. Unter ihnen ist der Obermatrose Alfred Meurer, ein Metallarbeiter aus dem Ruhrgebiet. In den Mannschaftswohndecks wird er »Admiral« genannt. Ursache dieses Beinamens ist wohl nicht so sehr die Tatsache, daß es einen wirklichen Admiral dieses Namens gibt, sondern das Ansehen, das er unter den Mannschaften der »Thüringen« genießt. Er gilt als »Roter«, als »Linker«, der aus seiner Meinung kein Hehl macht. Ursprünglich hatte er sich aus Protest zur SPD-Führung, die diesen Krieg unterstützte, zu den Oppositionellen in der Partei bekannt. Später sympathisierte er mit der Spartakusgruppe unter Führung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Ungeachtet des Befehls, der jede Parteimitgliedschaft während der Dienstzeit in der Marine untersagte, hielt Alfred Meurer Kontakt zu Gleichgesinnten und vertrat die Interessen der Mannschaften, wann und wo immer er konnte. Deshalb war er auch auf der »Thüringen« zum Vorsitzenden der Menagekommission gewählt worden.
Diese Kommissionen überwachten scheinbar nur die Verpflegung. Aber bald gingen sie auch gegen ungerechtfertigte Strafen und andere Willkürmaßnahmen der verhaßten Offiziere vor. Nach russischem Muster schufen die Matrosen und Heizer ihre illegale Mannschaftsorganisation.
Die Menagekommissionen existierten seit etwa einem Jahr. Nach dem Aufstand der Matrosen und Heizer von 1917 - damals waren Max Reichpietsch und Albin Köbis von der Militärjustiz ermordet worden - hatte man den Mannschaften die Menagekommissionen zugestehen müssen.
Die Offiziere der »Thüringen« fürchteten den »Admiral«, und sie hätten ihn längst kurzerhand zu einem Minensuchkommando abkommandiert, wenn er nicht in seiner Funktion eine Art Immunität besessen hätte.
»Wieder Schlimmeaugenwurst!« Mit hängender Unterlippe deutet ein Matrose auf die schäbige Blutwurstscheibe.
Alfred Meurer hat den Vorwurf herausgehört, er war ja auf ihn gemünzt. Er antwortet nicht. Was auch sollte er seinem Kameraden erwidern? Alle seine Auseinandersetzungen mit dem Verwaltungsoffizier über die Verbesserung der Mannschaftsverpflegung waren erfolglos. Die Offiziers- und Mannschaftsküchen blieben nach wie vor getrennt. Er war sehr bald dahintergekommen, daß die Menagekommission von den Offizieren mehr und mehr dazu benutzt wurde, die Mannschaften zu beschwichtigen. Das bedeutete, er, Meurer, mußte versuchen, den Kommissionsmitgliedern bestimmte politische Zusammenhänge zu erklären, damit sie sich nicht vor den falschen Karren spannen ließen. Es war natürlich gar nicht so einfach, die Matrosen und Heizer beharrlich über die Ursachen des Weltkrieges und die Ziele des kaiserlichen Deutschlands aufzuklären.
»Du müßtest wieder mal auf die Pauke hauen, >Admiral<, klar?« Der Matrose läßt nicht locker, als man sich endlich zum Essen niedergesetzt hat.
Alfred Meurer winkt ab.
Doch das bringt den Matrosen erst recht auf. Einige nicken ihm sogleich aufmunternd zu.
»Du hast doch von der Schweinerei auf der >Nürnberg< gehört. Hat das Krachschlagen Erfolg gehabt oder nicht?«
Auf dem in Kiel neu in Dienst gestellten kleinen Kreuzer »Nürnberg« hatten es vor Monaten die Offiziere zu weit getrieben. Von der Offiziersküche zur Offiziersmesse führte der Weg durch ein Mannschaftswohndeck. Die Matrosen mußten mit ansehen, wie Braten, Wurstplatten und andere Delikatessen in die Messe gebracht wurden, während man ihre Rationen auf das erbärmlichste reduzierte. Diese Zustände sprachen sich in der Marine alsbald herum, und das Flottenkommando sah sich gezwungen, eine Untersuchung einzuleiten. Damit wurde zwar die Prasserei einigermaßen eingedämmt, aber eine prinzipielle Veränderung der unterschiedlichen Verpflegungszuteilung für Mannschaft und Offiziere trat nicht ein.
So setzt denn Alfred Meurers Antwort gleich den richtigen Akzent. »In der Messe haben sie es ganz gern, wenn wir uns mal wieder über die Fresserei streiten.«
Die Mehrzahl der Matrosen um die Back herum stimmt ihm zu.
Eine ganze Zeit lang kaut nun jeder schweigend an seinem Brotkanten. Alle hängen ihren Gedanken nach. Endlich bricht Hannes, ein stiller, meist zurückhaltender Obermatrose, der schon zu Beginn des Krieges zur Ableistung seiner Dienstpflicht an Bord war und deshalb von allen »Aktiver« genannt wird, das Schweigen: »Irgendetwas Hinterhältiges braut sich zusammen.«
Das trifft den Kern ihrer Gedanken. Die gesamte Backschaft hat den Krieg satt, das Inbereitschaftliegen, das Hungern, das Schikanieren durch die Offiziere. Ihr ganzes Sinnen und Trachten ist darauf gerichtet, endlich nach Hause zu können. Doch was soll das Zusammenziehen der Flotte? Das Heimlichgetue der Offiziere? Sind etwa die Friedensverhandlungen nur Bluff? Was geht eigentlich vor?
Aller Augen sind auf Alfred Meurer gerichtet.
»Wir müssen es herausfinden«, sagt er ruhig und bestimmt. Er steht auf, und mit gedämpfter Stimme wendet er sich an Hannes: »Geh doch mal 'rum, und trommle die Kommission zusammen. Aber vorsichtig, daß nicht gleich der Leutnant der Wache oder einer der Deckoffiziere Wind kriegt. Wir treffen uns am Steuerbordkasemattgeschütz sieben.«
Der »Aktive« nimmt seine Mütze vom Blechspind und trollt sich davon.
Wenig später haben sich alle Mitglieder der Menagekommission - Matrosen, Heizer, ein Signalgast und ein Torpedomechaniker - in dem engen Raum vor dem 15-cm-Geschütz eingefunden. Am vorderen und am achteren Schott sichtet je ein Mann, um vor unliebsamem Besuch zu warnen, denn offizielle Sitzungen der Kommission sind beim I. Offizier anzumelden. Es ist nicht das erste Mal, daß sie hier illegal zusammenkommen. Man muß sich kurzfassen. So beginnt Alfred Meurer auch gleich ohne Umschweife. »Kameraden! Wir müssen herausfinden, warum die Flotte hier auf Schillig-Reede zusammengezogen wurde. Hat einer vielleicht schon etwas Genaueres feststellen können?«
Ein Matrose meldet sich. »Auf >König< ist die Artilleriemunition ergänzt worden. Ich habe das vom Schlepperführer, der gestern den Kohlenprahm längsseits bugsierte.«
»Winksprüche an Schiff oder Land dürfen nur noch mit Genehmigung des Offiziers der Wache abgesetzt werden«, ergänzt der Signalgast.
Ein Heizer, Maschinist auf der Dampfpinasse, antwortet: »Die verheirateten Offiziere fahren kaum noch an Land. Sie bleiben über Nacht an Bord.«
»Also gut«, kürzt der »Admiral« ab, »keiner weiß Genaues, wenn auch alles dafür spricht, daß eine verdammte Schweinerei geplant ist. Vielleicht passen den Offizieren die Friedensverhandlungen nicht, und sie träumen immer noch von einem Sieg....
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