VERHEXUNG
Bitte, lieber junger Herr, ach bitte, gehen Sie nicht vorbei! Gehen Sie nicht herzlos vorbei an einer alten Frau, die friert, - in dieser trüben Herbstnacht seit Stunden in der dunklen Ecke lehnt und nichts Heißes getrunken hat. Sie kommen gewiß aus einem Cafe, worin es behaglich und heiter war.
Dacht' ich's doch! Sie können sich nicht hartmachen und achtlos vorübereilen.
Sie haben ein gutes Herz, ein warmes Herz. - Oder haben Sie nur Neugier, weil Sie mir so prüfend unter die Kapuze schauen? Bitte, erschrecken Sie nicht. Ja, ich weiß, die Leute sind immer ein wenig erstaunt über mein Angesicht. Es will nicht recht passen zu meiner Behauptung, ich sei eine alte Frau. - Gut gepolstert und rosig sei es, hat man mir versichert.
Auch fehlt mir kein Zahn im Mund, es ist wahr. "Schimmerndes Raubtiergebiß" hat es einmal jemand genannt, - nun, eh - dieser Jemand ist längst erledigt. Aber, junger Herr, wenn ich meine Kapuze abnähme, da würden Sie schneeweißes Haar sehen. Sie wissen, daß greise Frauen mit vollen weißen Haaren bis ins höchste Alter das Antlitz der Jugend bewahren? Eh was, ich bin ein altes schwaches Weib! Betrachten Sie meinen hilflosen Körper, den gekrümmten Rücken, ich kann ihn nicht mehr geradebiegen; will ich Ihnen in die Augen sehen, muß ich den Hals verrenken, daß mir der Kehlkopf wehtut. Hören Sie doch meine Stimme! Ich selbst höre sie gut. Wenn andere Leute auch nicht wissen, ob sie hoch oder tief sprechen, laut oder leise, gepreßt oder frei, dröhnend oder erstickt, - ich weiß, daß ich krächze und blechern scheppere mit meiner ausgeleierten Gurgel, daß ich zischle und quietsche, wenn ich, wie jetzt, leise und freundlich zu einem Menschen reden möchte, der gutherzig zu mir ist. - Sie finden mich gesprächig, wie? - Ein wenig geschwätzig?
Erkennen Sie nun, daß ich eine alte Vettel bin, die gerne schwatzt?
Ich tue es, um Ihnen Dankbarkeit zu zeigen, weil Sie sich meiner annehmen wollen. Sehen Sie meinen humpelnden Gang, sehen Sie die Last der Ledertasche, in der nichts steckt als ein paar leichte Habseligkeiten, - wie sie mich zu Boden zieht! Fassen Sie ganz Vertrauen zu mir, ich bin arm und alt.
Nein - bleiben Sie nicht unter dieser Laterne stehen, ziehen Sie nicht Ihre Börse! Ich möchte Sie um etwas anderes bitten als um Geld.
Ich habe einen weiten Weg vor mir, einen beschwerlichen durch den Nebel dieser Herbstnacht. Am Fluß wird er besonders milchig und stickig sein. Gleich feuchten zerfließenden Fingern, die kraftlos krallen und dennoch würgen, legt er sich in allen Straßen den späten Fußgängern um den Hals; es ist gut, wenn man zu zweit ist und sich seiner ein wenig erwehren kann: durch ein trostreiches Wort, durch einen aufmunternden Blick. Man müßte einen Wagen haben, ein gepolstertes kleines Kabinett mit lautlosen Rädern, einem Lämpchen zur Seite und einem durchheizten Fußboden, der dem klebrigen Dunst nicht erlaubt, hereinzusickern, der dafür sorgt, daß er nur die Außenseiten der kleinen Fenster umfangt und tränend an den Scheiben niederrinnt. - Sie wundern sich über meine Worte, schöner junger Herr? Aber ich bin einstmals - einstmals in Moskau, in London, in Wien und Kopenhagen bin ich gefahren in solchen seidengepolsterten Schmuckkästchen auf lautlosen Rädern.
Nein, werden Sie nicht ungeduldig. Ich weiß, ich bin abgekommen. Ich habe Ihnen sagen wollen, worum ich bettele, und Sie warten darauf, es zu hören. Wollen Sie mich ein Stück des Weges begleiten? Wollen Sie einer alten, gebrechlichen Frau nach Hause helfen? Dies ist meine Bitte. Ich habe vorhin gesagt: ein weiter Weg ist zurückzulegen, ein beschwerlicher Weg. Nein, er ist nicht weit: nur für meinen kurzgehenden Atem; und beschwerlich: nur für meine morschen Füße. Ihren lustgeschwellten Gliedern ist er ein Kleines; Ihre giergeschwellten Glieder fressen diese Entfernung wie der Windhund die paar Meter zwischen Laternenpfahl und Laternenpfahl.
Sie stutzen, Sie sind befremdet, weil ich sage, Ihre Glieder sind giergeschwellt? Lieber schöner junger Herr, wenn ich Ihren Blick nicht aufgefangen hätte! Schmerzt auch mein verrenkter Kehlkopf, so ist er's doch gewöhnt, daß ich mein Angesicht aufwärts wende, denn es trifft sich manchmal, daß ich jungen Männern in die Augen schauen muß. O, wenn ich Ihren Blick nicht abgefangen hätte, der sich an die beiden Mädchen hängen wollte, die gerade vorbeistrichen! Schütteln Sie nicht so heftig den Kopf; Sie bejahen deutlich vor lauter Verneinung, und Sie ringen um den Entschluß, mich stehen zu lassen und den beiden Tieren dort zu folgen. Sehen Sie nicht, daß Ihre Wahl schlecht getroffen wäre? Muß ich Ihnen meine Augen leihen, die das brausende Blut Ihrer dreißig Jahre nicht geblendet hat? Meine welterfahrenen Augen, die durch den Samtmantel der einen hindurch die verwelkten Spitzen ihrer Brüste künstlich aufgerichtet im Mieder taumeln sehen, und bei der anderen unschwer entdecken, daß sie falsches Haar pfundweise unter den Federhut gepfercht trägt und in x-beinigen Gelenken wassersüchtig aufgetrieben ist?
Vergeuden Sie sich nicht an diese beiden Bewahrerinnen kümmerlicher Herrlichkeiten, schöner junger Herr. Sie verdienen, daß andere Arme sich um Ihren kräftigen Nacken schließen. Ihnen wären Schenkel angemessen, deren beseligende Linie weich neben der herrischen Stärke Ihrer Lenden ruht.
Weshalb zittern Sie? Sie müssen nicht Angst vor mir haben. Wundern Sie sich bitte nicht über diese vielleicht gedrechselten und ein wenig überraschenden Worte aus dem Munde einer alten Frau. Vergessen Sie doch niemals, wie sehr alt ich bin, und daß ich die Welt kenne und die vielen Worte dieser bunten Welt, die man einmal alle, mögen es auch viele sein, gehört und selbst gesprochen hat, wird man nur alt genug. Ich glaube auch nicht, daß Sie aus Angst zittern.
Sie zittern wie der Hund, der Beute entwischen sieht; wie der Kater, dem das Fleisch des Vogels entflogen ist. Aber vielleicht, heißer junger Herr - vielleicht kann ich Ihnen helfen.
Sehen Sie, wir sind schon am Flußufer, und Sie haben sich noch gar nicht entschieden, ob Sie mir die Liebe antun wollen, mich ein Stückchen zu betreuen. Wie gut ich schreite, nicht wahr? Viel besser als in den Straßen der Stadt. Es geht sich leichter, weiß man junge Kraft neben sich, auf die man sich im Notfall stützen kann.
Aber Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen! Ich kann es gar wohl verstehen, daß Sie wissen möchten, weshalb ich nächtlicherweise auf Straßen der Stadt in dunklen Winkeln stehe, - stundenlang. Daß ich - lauere sozusagen, - ja, lassen Sie mich diesen Ausdruck gebrauchen, er liegt Ihnen auf der Zunge, ich weiß es. Schämen Sie sich dessen nicht! Und bitte, hören Sie endlich auf mit dem entschuldigenden Gestammel. Sie sollen alles erfahren, Sie haben ein Recht darauf kraft Ihrer Ritterlichkeit mir gegenüber. Sehen Sie, jetzt behandeln Sie mich fast wie eine Dame Ihrer Kreise, und vorhin unter der Lampe wollten Sie mir Geld schenken. O, das braucht Sie nicht zu bedrücken; Sie wollten ja auch den beiden Frauen, die vorbeistrichen, Geld geben. Wem hätten Sie wohl mehr in die Hand gelegt: einer von diesen oder mir? Freilich, bei den anderen konnten Sie auf Gegenleistung rechnen, bei mir nicht. Trotzdem glaube ich, Sie hätten mich fürstlich, Sie hätten mich königlich beschenkt. Der Freimut Ihrer Bewegungen - ein wenig zwar behindert durch die Ungewißheit des Weges, in den Sie hineintappen. Wie.?
Alles sollen Sie erfahren, freilich; ich versprach Ihnen Aufklärungen. Niemand weiß besser als ich, daß ich sie Ihnen schuldig bin. - Aber Sie dürfen sich nicht an dem Wort "hineintappen" stoßen; das war doch nur eine kleine scherzhafte Wendung. Weil wir gerade vom Wege sprechen, will ich Ihnen zuerst vor allen anderen Dingen auseinandersetzen, wohin ich zu gehen habe.
Es fällt Ihnen auf.? Ja, manchmal gelingt es mir, meinen krummen Rücken geradezubiegen. Wenn ich in besonders anregender Gesellschaft bin. Befeuert von Zuneigung mögen mir Kräfte zurückkehren, die mich längst verlassen haben. Es ist eine Schwäche der Rückenwirbel, die plötzlich behoben ist. Aber es hält nicht vor, es geht vorüber, es ist nur für kurze Zeit. Ja, Sie haben recht, mein Rückgrat hat Straffheit und Biegsamkeit zurückgewonnen. Stoßen Sie sich nicht an diesem für mich glücklichen Ereignis, gönnen Sie mir diese bald wieder schwindende Fähigkeit. Sie darf Sie nicht beunruhigen, sie ist leider nur augenblicklich und nicht von Belang. - Gehe ich Ihnen zu schnell? Sie nehmen den Hut ab. Wahrhaftig, auch mir wird heiß. Ich werde die Kapuze ein wenig lüften. Die Kapuze.? Freilich, Sie beobachten recht trotz des Nebels und der Dunkelheit: sie ist aus schwerem Samt. Streifen Sie ruhig darüber, ihre Hand wird Ihnen bestätigen, daß es schwerer, schwarzer Samt ist; deshalb macht sie mir auch heiß. Graues Tuch -? Nein, liebes junges Herzchen, aus grauem Tuche war die Kapuze niemals; nicht in der dunklen Häuserecke, nicht unter der Laterne, die zusehen sollte beim Aufschnappen der Geldbörse. Gewiß, ich weiß: der grauen Kapuze wollten Sie Geld geben, dem schwarzen Samt keineswegs. - Aber nein, Sie sollen sich doch nicht schon wieder entschuldigen.
Weshalb dieser fassungslose Mund? Blond? Nein, Ärmster, blond sind meine Haare nicht. - Ganz hellblond? Nein, auch das nicht. Weiß, schneeweiß, das habe...