Schweitzer Fachinformationen
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"SCHAFFEN SIE DIE Treppe?"
Ich blickte nach oben, blinzelte gegen die Sonne. Die Konturen des Mannes nahm ich nur schemenhaft wahr.
Die Treppe.
Noch vor ein paar Wochen hätte sie für mich ein unüberwindbares Hindernis dargestellt. Alles in mir hätte sich gesträubt, meine Beine in einem derartigen Winkel anzuheben. Mit jedem Schritt ging die Angst davor, die nachgewachsene Haut oberhalb meiner Schienbeine könnte dem Druck nicht standhalten und würde reißen.
Ich presste meine Lippen aufeinander und nickte entschlossen.
Irgendwo da oben lag meine Zukunft. Dort sollte etwas beginnen, was ich im Stillen bereits als mein zweites Leben bezeichnete. Ein Leben ganz ohne Ärzte, ohne Verbandsschwestern und ohne Cannabis, das ich gelernt hatte zu inhalieren. Vielleicht sogar ein Leben ohne Schmerzen, auch wenn mir diese Vorstellung im Moment noch wie eine Utopie erschien.
Für einen Augenblick spürte ich eine Angst in mir aufkeimen. Die Angst davor, dass diese Zukunft einzig und allein an dieser Treppe scheitern würde. Der Kerl dort oben würde jeden meiner verzweifelten Schritte überwachen. Und er wäre der Erste, der zu Doktor Degner gerannt käme, um ihm davon zu erzählen, dass ich noch nicht so weit sei. Schlimmer noch, dass ich es mit Sicherheit niemals packen würde.
Die Angst wurde von einer Welle aus Wut abgelöst. Ja, ich begann, den Mann über mir zu hassen. Dafür, dass er in diesem Augenblick eine solche Macht über mich hatte, dass er von oben auf mich herabsah. Dass er vielleicht insgeheim hoffte, ich würde schon bei der dritten Stufe laut aufschreien und aufgeben. Vielleicht grinste er dabei.
Ich hob meinen rechten Arm und schirmte meine Augen gegen die Sonne ab.
"Natürlich", sagte ich mit einem Lächeln.
Die Konturen des Mannes von der Wohnungsgesellschaft waren ein klein wenig klarer geworden. Er stand am oberen Ende der fünfzehn Stufen, und in seinem Gesicht lag eine Mischung aus Neugier und zur Schau getragener Besorgnis.
Ich packte die Griffe meiner Krücken fester und hievte mich die erste Stufe hinauf.
Na bitte.
Ich hoffte, der Kerl würde registrieren, wie leicht mir das gefallen war.
Wind zerrte an meinen Hosenbeinen und an meiner Jacke. Es war kalt oder frisch, wie man hier oben sagt.
Rechts neben mir rollten die Ausläufer weißer Wellen an den Strand. Eine Joggerin bewegte sich vorbei, mit Kopfhörern, die wie Ohrenschützer aussahen. Neben ihr rannte ein heller Labrador Retriever und hielt seine Schnauze in den Wind.
Ich setzte die gummierten Füße meiner Krücken auf der nächsten Stufe auf. Ich ächzte leicht, als ich das Hindernis überwand, und hoffte, dass der andere es nicht gehört hatte.
Natürlich hatte er das. Er wartete doch geradezu auf jedes kleine Anzeichen meiner Schwäche. Oder etwa nicht?
Mit einem Mal fühlte sich meine dicke Jacke zu eng an. Ich spürte, wie mir der Schweiß aus allen Poren ausbrach und sich auf meinem Rücken sammelte.
Ich hoffte, der andere hatte ausreichend Zeit mitgebracht.
Der Weg hier hinunter an den Strand war beschwerlich gewesen, und das, obwohl der Taxifahrer mich so nahe wie möglich an die Uferpromenade herangefahren hatte.
Ich spürte das Kribbeln in meinen Unterschenkeln. Da war etwas in mir, das diese Treppe nehmen wollte. Jede einzelne Stufe. An ihrem Ende lag die Verlockung. Die Verheißung eines besseren Lebens. Eines anderen Lebens. Dass sich Änderungen einstellen würden, damit hatte ich mich inzwischen abgefunden.
Stufe Nummer drei.
Meinen Beruf, das Schreiben, hatte ich immer schon als Geschenk empfunden. Ich würde weiter von zu Hause aus arbeiten können, nur würde ich häufiger als üblich Pausen einlegen müssen. Die größte Herausforderung bestand im Augenblick noch darin, eine Position zu finden, in der die Schmerzen von einem wütenden Brüllen auf ein sanftes Murmeln abklangen. Auf ein Stadium, das ich mittlerweile in Gedanken ausblenden konnte, wenn ich mich nur gut genug darauf konzentrierte.
Stufe vier.
Eine Windbö traf mich mit voller Kraft, zog und zerrte an mir, versuchte, mich ans Ende der Treppe zurück zu katapultieren. Ich hielt der Kraft stand, stemmte mich dagegen, bäumte meinen Oberkörper auf.
Der Wind pfiff durch die offenen Treppenstufen und blies mir losen Sand ins Gesicht.
Ich setzte meine Krücken auf und bewegte mich weiter nach oben. Natürlich hatten andere Wohnungen zur Auswahl gestanden.
Oben in der Siedlung gelegen. Bei den anderen Häusern im Ort. Ebenerdig. Bequem mit dem Auto und zu Fuß erreichbar.
Aber die hatte ich nicht gewollt. Sie hätten kaum einen Unterschied zu meiner Stadtwohnung dargestellt.
Nein, ich wollte mit dem Wind und den Wellen kommunizieren, wenn ich tagsüber an meinem Laptop saß oder mich nachts schlafen legte.
Ich wollte die Einsamkeit. Wollte allein sein.
Und deshalb stand ich jetzt hier, quälte mich die Stufen nach oben. Nicht etwa, um dem Kerl da oben etwas zu beweisen. Oder mir.
Es handelte sich auch nicht um eine Flucht aus den beiden Reha-Aufenthalten, die hinter mir lagen und insgesamt drei Monate meines Lebens verschlungen hatten, das mir inzwischen so kostbar erschien.
Ich brauchte Ruhe, und die würde ich nur hier bekommen. Doktor Degner hatte mir einen Prospekt zukommen lassen, ein blaues Hochglanz-Faltblatt, auf das er einen gelben Post-it geklebt hatte, versehen mit zwei Reihen seiner dünnen Handschrift, die auf mich immer so ungelenk wirkte, als hätte er einen Magnum-Kugelschreiber aus Beton verwendet.
Ich wollte von Anfang an das Krähennest, und ich sollte es bekommen.
Es war noch weit vor der Saison, es gab noch keine Reservierungen. Es war die Zeit, in der die Menschen allenfalls damit begannen, ihren nächsten Urlaub zu planen oder zu buchen. Bis Ostern könnte ich es mir hier bequem machen, vorausgesetzt, ich würde wieder zu mir selbst finden und zu den Dingen, die mir wichtig waren, die mein Leben ausmachten.
"Für einen Moment dachte ich schon, Sie schaffen's nicht", sagte Ingo Lausen, der mich mit einem verkniffenen Lächeln ansah, als ich die fünfzehnte Stufe hinter mir gelassen hatte und schnaufend neben ihm stand.
Ich öffnete meine Jacke und bog mein Kreuz durch, die Krücken mit meiner rechten Hand umklammernd.
Es hatte viele dieser Momente gegeben, in denen ich dasselbe gedacht hatte. Aber die lagen weit hinter mir, und ich betete, dass es auch so bleiben würde.
Laut Doktor Degner konnten posttraumatische Symptome jederzeit auftreten. Laut seinen Aussagen waren diese Erscheinungen selbst nach über zwölf Monaten keine Seltenheit. Seine Stimme hatte damals, vor fünf oder sechs Wochen einen ernsten Unterton angenommen, als er so vor mir saß, das rechte Bein über das linke geschlagen, seine Brille an einem Bügel in der Hand haltend.
Keine Seltenheit bedeutete für mich damals, dass es mich mit Sicherheit treffen würde. Wie auch immer sich diese Symptome äußerten. Degner musste damals meine Verunsicherung gespürt haben, denn er machte sofort eine abwehrende Handbewegung und beugte sich in seinem schwarzen Arztstuhl aus knarzendem Kunstleder nach vorne.
"Ich rechne bei Ihnen nicht damit", hatte er gesagt. "Aber es ist meine Pflicht, Sie zumindest darauf hinzuweisen."
"Worauf genau?", hatte meine Frage gelautet.
"Nun, man spricht allgemein von organischen Psychosen, die oftmals in Koexistenz mit einer Bewusstseinsstörung auftreten. Gestörte Wahrnehmungen, Halluzinationen, bis hin zu Wahnvorstellungen. Andere wiederum haben in dieser Zeit nur einige . lebhafte Träume."
Ich hatte da gesessen und dem Mann mit den grauen Schläfen zugehört, während er mich aufmerksam beobachtete, als wolle er feststellen, inwieweit meine Träume (und ich hatte in dieser Zeit weitaus lebhaftere als mir lieb gewesen waren) möglicherweise noch meine Tage beeinflussten.
"Die meisten allerdings, die ein wirkliches Problem mit ihrem Trauma haben, greifen zu Alkohol oder Tabletten."
Wieder dieser durchdringende, leicht stechende Blick. Zu jener Zeit hatte ich das Gefühl, dass ich vor Degner nichts verbergen konnte. Und höchstwahrscheinlich traf diese Überlegung sogar den Nagel auf den Kopf. Hätte mein Arzt seinerzeit irgendwelche dieser Symptome an mir erkannt, hätte er vermutlich darauf verzichtet, den blauen Prospekt mit den Ferienhäusern an der Ostsee an mich zu adressieren.
"Machen Sie sich um mich keine Sorgen", hatte ich geantwortet, und zwar nicht nur Doktor Degner.
Ich ertappte mich dabei, dass ich dieselben Worte auch Ingo Lausen gegenüber benutzt hatte.
Ich stand auf der kleinen Hochterrasse, die mit einem hölzernen Geländer umfasst war. Von dort blickte ich über den weiten, gelbgrauen Sand. Die Joggerin und ihr Hund waren in der Ferne längst zu winzig kleinen Punkten geworden, die sich an der leicht schäumenden Wasserlinie entlang in östlicher Richtung bewegten.
Ich drehte mich zu Lausen um, der in seinem dünnen, grauen Geschäftsanzug zu frieren schien.
Er langte in seine Tasche und zog einen kleinen Schlüsselbund heraus. Den Haustürschlüssel reckte er demonstrativ in die Höhe, als würde er mir die Pforte zum Paradies öffnen.
Aber vielleicht war es ja genau das, was mich hinter der vollverglasten Tür erwarten würde.
Lausen schloss auf. Ich sah den Mann das erste Mal von hinten und erkannte, dass seine leicht fettigen Haare über den Kragen von Hemd und Sakko ragten.
Er öffnete die Tür, missachtete den Fußabtreter und war im nächsten Moment im Innern des Hauses verschwunden. Hinter der halb geöffneten...
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