Die Herren vom Schwarzen Stein
von Marc Freund
Sie waren ein Verbund aus Dämonen, die sich zwar nicht ge?sucht, aber auf verschlungenen Pfaden gefunden hatten. Diese Wege waren voller Verderben gewesen und besudelt mit Blut.
Es hatte auch Opfer in ihren eigenen Reihen gegeben, dennoch hatten sie bisher erfolgreich allen Gegnern und Gefahren getrotzt.
Der Halbdämon Ty Frazier, die Hexe Anahid und der Wendigo.
Sie gehörten zu den letzten Dienern des Spuks!
Vor einiger Zeit ...
Er schreckte aus seinem Schlaf auf, der nicht mehr als ein schwebender Dämmerzustand war, aus dem er sich jederzeit und im Bruchteil einer Sekunde selbst befreien konnte.
Mit einem Satz war der Wendigo auf den Beinen. Bedrohlich zeichnete sich seine hohe Gestalt mit dem knöchernen Geweih gegen das Halbdunkel des Raums ab. Unter ihm lag eine schmutzige Matratze, die ihm als Lager diente.
Sein Körper war dominiert von langen Gliedern und sehnigem Muskelgewebe. Die ehemals schneeweiße Haut war von unzähligen schwarzen Narben durchzogen, die Asmodis' Feuer im Kampf um die Höllenscheibe hinterlassen hatte.
Der Wendigo reckte seinen gewaltigen Schädel Richtung Decke und stieß einen schnaufenden Laut aus. Für einen Augenblick noch hielt er inne, dann setzte er sich mit einem gewaltigen Satz in Bewegung. Er huschte zwischen den beiden Pfeilern hindurch, die den Eingang zu seiner unterirdischen Höhle markierten, und war im nächsten Moment bei der Treppe, die über grob in den Fels gehauene Stufen steil nach oben führte.
Dort war ein blasser Fleck zu erkennen. Ein letzter Rest Helligkeit, der in diesem Haus in einer der unzähligen Zwischendimensionen im Reich des Spuks herrschte.
Der Wendigo hetzte hinauf, machte dabei gewaltige Sätze, die katzengleich wirkten und die unbändige Kraft erahnen ließen, die in diesem Wesen wirkte.
Währenddessen war von draußen ein dumpfer Schlag zu hören. Eine Art Donnergrollen, dessen Druckwelle das Gebäude am dunklen Fluss erschütterte. Staub und feine Gesteinspartikel rieselten von der Decke.
Irgendetwas passierte, und der Wendigo war der Erste gewesen, der es gewittert hatte.
Er gelangte in eine weitläufige dunkle Halle, die mit pechschwarzem Boden ausgelegt war. Er wirkte wie ein glatter Spiegel, wie das Abbild einer unendlichen Nacht, in der es keine Sterne gab.
Der Wendigo huschte darüber hinweg und steuerte auf eine unscheinbare Tür zu, die einen Durchgang in der fast drei Meter hohen Felswand bildete.
Das Wesen preschte hindurch und befand sich im nächsten Moment inmitten eines Raums, in dem sich außer einem breiten Himmelbett kein weiteres Möbelstück befand.
Gardinenartige Vorhänge hingen vom Dach des Betts. Dahinter zeichneten sich im seltsam fahlen Licht, dessen Quelle nicht auszumachen war, die Umrisse einer schlafenden Frau ab. Sie lag still da, auf dem Rücken, und rührte sich nicht. Auch war nicht zu erkennen, ob sie atmete.
Der Wendigo zögerte nicht. Er jagte auf das Bett zu, stieß einen schnaubenden Laut aus, hob seine krallenbewehrte Pranke und riss den Vorhang mit einer einzigen Bewegung in Stücke!
Gegenwart
Ich erhielt den Anruf ungefähr drei Minuten, nachdem ich die Tür zu meiner Wohnung aufgeschlossen und meine Jacke an den ihr angestammten Platz an der Garderobe gehängt hatte.
Gerade war ich dabei, den Öffner an eine Flasche Bier zu halten, die ich mir aus dem Kühlschrank geangelt hatte.
Ich setzte beides wieder ab und stellte es beiseite, ohne zu wissen, dass ich an diesem Abend kein Bier mehr trinken, mehr noch, dass das Bier nach dem Anruf sogar vollkommen in Vergessenheit geraten und auf meinem Küchentisch Zimmertemperatur annehmen würde.
Ich langte nach meinem Smartphone, wischte über das Display und setzte aller Wahrscheinlichkeit nach ein verdrossenes Gesicht auf, da ich den Namen des Anrufers bereits gelesen hatte. Trotzdem bemühte ich mich um einen heiteren, fast ausgelassenen Ton.
»Sir James! Was für eine angenehme Überraschung!«
»Geben Sie sich keine Mühe, John. Aus Ihnen wird doch kein guter Schauspieler mehr.«
Ich spürte regelrecht, wie meine Mundwinkel herabsackten. Der Alte klang nicht nur humorlos wie eigentlich immer, nein, heute Abend schien er dazu auch noch schlecht gelaunt zu sein.
»Och, für eine Laienspielgruppe wird es sicher noch reichen«, meinte ich, dann wurde ich ernst. »Gibt es Ärger?«
»Das will ich wohl meinen. Gerade eben kam ein Anruf rein, der zu mir ins Büro durchgestellt wurde.«
»Lassen Sie hören!«
»Das Beste wird sein, Sie machen sich gleich auf den Weg. Ich erkläre Ihnen, was Sie wissen müssen, und lasse Ihnen parallel die Adresse und einen Mitschnitt des Anrufs auf Ihr Handy senden.«
Ich war bereits auf dem Weg zur Garderobe, nahm meine Jacke vom Haken und schlüpfte hinein.
Als ich die Wohnungstür öffnete, stand Suko davor, gerade im Begriff, meinen Klingelknopf unter seinem Daumen zu begraben.
»Suko müsste inzwischen bei Ihnen eingetroffen sein«, sagte Sir James in diesem Moment.
»Alles klar«, antwortete ich.
Ich nickte Suko mit einem Grinsen zu.
Vor einiger Zeit ...
Anahid riss die Augen auf und wandte ihren Kopf nach links. Durch die wehenden Fetzen der Bettgardine blickte sie auf die Gestalt des Wendigos, der in leicht gebeugter Haltung vor ihr stand. Das Wesen stieß einen knurrenden Laut aus.
Die blonde Frau war sofort hellwach. Sie wusste, dass ein besonderer Grund vorliegen musste, wenn der Wendigo sich hierher begab, noch dazu um diese Zeit. Es konnte kein angenehmer Grund sein.
»Was ist los?«, flüsterte sie.
Der Wendigo knurrte abermals und wandte seinen gewaltigen Schädel in Richtung der Zimmertür.
In dieser Sekunde schwoll von draußen ein unheimliches Grollen an, so als hätte sich aus den zerklüfteten schwarzen Felsen, die das einsame Haus umgaben, eine gewaltige Lawine gelöst, die nun unerbittlich auf sie zurollte, um das Gebäude mit allem darin für immer dem Erdboden gleichzumachen.
Dann zuckten Lichter auf. Ein ungleichmäßiges Flackern. Feuer!
Der Raum verfügte nicht über Fenster, es gab nur eine Art Schießscharte, an die Anahid herantrat. Sie blickte auf das dunkle, stetig murmelnde Wasser des Flusses, der das Haus von beiden Seiten umgab und es damit zu einer Art Insel machte. Hinter den Felsen intensivierte sich der unheilvolle Feuerschein mit jeder Sekunde.
Für einen Wimpernschlag stand Anahid still und versuchte, die Situation zu erfassen, die ihr jedoch zunächst unbegreiflich erschien. Sie wusste nur, dass die Geräusche und das Flackern keine guten Vorzeichen waren. Im Gegenteil, sie schienen eine tödliche Gefahr zu bedeuten.
Bisher hatten sie alle das Reich des Spuks als den vermeintlich sichersten Ort der Welt wahrgenommen, doch dieses Bild schien nun ins Wanken zu geraten.
Ein Geräusch des Wendigos riss Anahid aus ihren Gedanken. Die Bestie hinter ihr schnaubte und scharrte mit seinen Krallenfüßen tiefe Rillen in den Boden.
Im Laufe der Zeit hatte sich zwischen der Hexe und dem Wesen eine Art stiller Kommunikation entwickelt, die hauptsächlich auf Blicken und Gesten basierte, hin und wieder auch auf Lauten, die der Wendigo ausstieß, wenn Gefahr drohte. So wie jetzt.
Das Reich des Spuks schien in Aufr?uhr. Anahid glaubte nun auch Kampflärm wahrzunehmen. Sie machte kehrt und warf dem Wendigo einen kurzen Blick zu.
»Komm!«
Das Wesen setzte sich in Bewegung und war mit einem Satz bei der Tür und zurück in der Halle, die jetzt bereits von dem Feuerschein erhellt war. Was auch immer jenseits der Berge geschah - es schien mit jeder Sekunde weiter auf sie zuzurollen.
Anahid begann zu laufen, quer durch die Halle, die kurze Treppe hinauf, die zur wuchtigen Tür der Bibliothek führte. Sie war nur angelehnt.
Anahid stieß die Tür auf. Der Wendigo war die ganze Zeit über an ihrer Seite.
Ihr Blick irrte durch den Raum, der nur spärlich von einigen Kerzen erhellt wurde.
Auf dem dunkelroten Läufer kniete eine Gestalt, das Gesicht in seinen Händen verborgen. Merkwürdige Geräusche drangen aus der Kehle des Mannes. Dazu bewegte er den Oberkörper hin und her.
Als die beiden anderen eintraten, erstarrte er mitten in der Bewegung. Langsam ließ er die Hände sinken. Es war, als rutschten sie kraftlos an seinen Wangen hinab.
Es handelte sich um Ty Frazier, den Halbdämon.
Sein Blick suchte Anahid, die ihn mit Entsetzen anstarrte.
In Fraziers Augen glomm ein geheimnisvolles Feuer. Langsam öffnete er die schmalen Lippen.
»Das Reich des Spuks ist verloren. Unser Herr ist gefallen!«
Gegenwart
Gemeinsam begaben wir uns in die Tiefgarage, wo ich meinen Audi abgestellt hatte.
Sir James Powell redete derweil unermüdlich auf mich ein.
»Der Name ist Isaac Moran. Er ist Antiquitätenhändler und hat einen kleinen Laden in der Brewer Street. Das liegt in Soho. Soeben hat er unserer Telefonistin erklärt, seine Frau umgebracht zu haben.«
»Bitte, was?«
Suko und...