Lutz Liebstöckl
Herzerweichend trotzig blickt das kleine Huhn den Betrachter an. So lebensecht, als wollte es davonlaufen aus dem Bild, in dem es festgehalten ist. Mit der blutrot versinkenden Sonne im Hintergrund deutet der Künstler in seiner ganz eigenen Art an: Überall lauert Gefahr in einer vordergründig heilen Welt.
(E. Kautz über »Das Küken« von Liebstöckl)
Das Huhn spielte im Leben von Lutz Liebstöckl stets eine besondere Rolle.
Gern hatte er als Kind der Großmutter zugesehen, wie sie im Gehege hinter dem Siedlungshaus am Rande der Stadt das Geflügel fütterte. Noch aufregender war es, wenn der Großvater ein Huhn auswählte, ihm auf dem Hackklotz mit der Axt den Kopf abschlug und es danach augenzwinkernd losließ. Es flatterte ein Stück den Gartenweg hinab, abrupt verstummt, verzweifelt die Flügel schlagend, als könne es so dem Tod entrinnen. Beide Handlungen, das Füttern und das Schlachten, standen für die Macht des Menschen über die Kreatur, die ihm ausgeliefert war - auf Gedeih und Verderb. Und von der er zugleich zu leben vermochte.
Ebenfalls im Kindesalter hatte Liebstöckl seine Leidenschaft für das Malen entdeckt. Damals unternahm er erste Versuche, das Huhn und sein Sterben auf Papier zu bannen. Von diesen frühen Zeugnissen seiner Kunst war aber nichts mehr belegt. Voller Neid dachte er später an den Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner, dessen Kinderkritzeleien vermutlich dank stolzer Eltern erhalten geblieben waren und sogar den Tod des großen Künstlers überdauert hatten. Die krakeligen Dampfloks besaßen heute einen astronomischen Wert, den Liebstöckls Strichhühner freilich nie erreicht hätten, selbst wenn der Vater, ein gehobener Finanzbeamter, sie nicht im Kamin verschürt hätte.
In der Kommunionklasse hatte der Pfarrer Münzer Liebstöckls erste künstlerische Huhnphase beendet, nachdem er einige Buntstiftentwürfe von Schlachtszenen im Religionsheft entdeckt hatte.
»Was sollen die grausamen Bilder?«, hatte er mit weihwässriger Tinte hineingeschrieben und die Unterschrift der Eltern verlangt.
Am selben Abend hatte der Vater drei Dinge getan, die dem sparsamen und gutmütigen Familienmenschen allerhand Kraft abrangen: Ende Mai noch einmal ein Kaminfeuer angezündet, dem neunjährigen Lutz eine Tracht Prügel verabreicht und ihm strikt verboten, unbeaufsichtigt den Großvater zu besuchen.
Der Malerei blieb Liebstöckl aber treu. Dabei war es keinem seiner Kunstlehrer am humanistischen Gymnasium gelungen, das Talent zu entdecken, das in ihm schlummerte, regelmäßig aus ihm herausbrach und sich auf Papier doch ganz offensichtlich manifestierte. Seine Kunstnoten kamen über »ausreichend« nie hinaus. Er hatte sich damals mit dem Gedanken getröstet, dass dieselben Lehrerbanausen sicher auch Kirchners frühe Züge nicht besser benotet hätten. Zudem konnte »ausreichend« auch »ausreichend gut« bedeuten.
Nach dem Abitur war ihm freilich klar geworden, ausreichend für den Lebensunterhalt würde seine Malerei nie sein. Er hatte daher beschlossen, wie sein Vater die Beamtenlaufbahn einzuschlagen, aber einen Zweig gewählt, der ihm neben dem Beruf genug Zeit ließ, seiner Berufung zu frönen. Liebstöckl wurde Lehrer.
Die Rechnung ging auf, zumal er sich für Latein als Lehrfach entschieden hatte - eine tote Sprache, in der sich abgesehen von gelegentlichen Marotten in der Aussprache nichts mehr veränderte. Was er an Zeit für die Unterrichtsvorbereitung sparte, widmete er dem Malen. So zählte er bald zu den produktivsten Aquarellisten im süddeutschen Raum.
Zugleich hatte Liebstöckl ein Sujet gefunden, das er mit keinem anderen Künstler teilte - das Huhn.
Anfangs hatte er sich noch der Vielfalt der bäuerlichen Idylle verschrieben. Mägde mit Kopftüchern, Leinenröcken und Holzschuhen beim Heumachen oder beim Melken von geflecktem Vieh. Barfüßige Kinder mit Schürzen, die Gänse zum Wasser und Schweine in den Koben treiben. Bauern in grünen Joppen und polierten Stiefeln mit dem Ochs beim Pflügen, Bäuerinnen in Spessarttracht, wie sie den Speck schneiden, Kleinkinder stillen oder bei Sonnenuntergang Arm in Arm mit dem Bauern auf der Bank vor der Hütte sitzen.
Doch dann erzielte ein Aquarell im Serviceclub der Rotalions, deren Mitglied er war, einen durchschlagenden Erfolg. Es war eine Reminiszenz an seine Kindheit, »Großmutter beim Hühnerfüttern«, wobei er die Szene in einen Bauernhof bei Breitendiel, vielleicht auch Beuchen oder Buch, verlegt hatte. Plötzlich bestellte jeder im Freundeskreis ein Bild dieser Art.
Liebstöckl lieferte zunächst einige Variationen, ließ dann die Großmutter weg und reduzierte die Zahl der Hühner nach und nach bis auf zwei oder gar nur ein Exemplar. Ihr Sterben thematisierte er freilich nicht mehr, zu gut erinnerte er sich an die Schmach, die ihm das eingetragen hatte. Nie sollte ein Huhn den Tod von seiner Hand finden, auch nicht in der Kunst.
Bald gingen ihm die Huhnvorlagen in den Biologiebüchern der Schulbibliothek und im schier unerschöpflichen Internet aus. Er durchstreifte das Mainviereck, die Spessarttäler und die lichten Höhen des Odenwalds. So war er eines Tages im Bachgau auf Schloters Eierfarm gestoßen.
Liebstöckl war sofort begeistert gewesen. Tausend Hühner in sämtlichen Altersstufen. Fortlaufend wurden die alten gegen junge ersetzt, nach gut zwei Jahren waren alle ausgetauscht. Ein unerschöpfliches Reservoir. Allesamt weiß, wie er es bevorzugte, wegen des Schattenspiels im Gefieder.
Der alte Schloter hatte ihm nie erlaubt, das Gehege zu betreten, um die Legehennen nicht zu verstören. Er hatte ihm aber einen Platz direkt am Zaun zugewiesen, den er mit seiner Staffelei und dem Dreibeinhocker beziehen durfte. Er lockte die Hühner mit der begehrten Körnermischung eines Kleinheubacher Futterfabrikanten in seine Nähe. Ging ihm der Vorrat zur Neige, zerkrümelte er die Müsliriegel, die er beim selben Futterfabrikanten für sich selbst bezog. »Vitalkorn - der gesunde Start in einen lebendigen Tag«.
Elf Jahre verbrachte Liebstöckl jede freie Minute am Rande der Farm. Die Hühner bereicherten sein Leben, nicht nur durch den materiellen Erfolg, sondern auch durch die vielen Glücksmomente, die er ihnen verdankte.
Das friedliche Bild, das sich soeben bot, wäre ein solcher Augenblick gewesen, wenn er es hätte miterleben können. Mit einem elektrischen Summen öffnete sich eines der Rolltore. Von einer Zeitschaltuhr gesteuert, gab es die Luke der Stallabteilung frei, in der Schloter die noch nicht geschlechtsreifen Hennen hielt, Küken eigentlich, gut zwanzig Wochen alt. Da sie noch nicht legten, hatten sie das Privileg, die Freiheit früher zu genießen als die älteren.
Jetzt drängten die ersten zur Öffnung, reckten die Hälse, streckten den Kopf hinaus und zogen ihn wieder zurück. Sie schienen zu blinzeln, misstrauisch oder geblendet.
Die Sonne hatte sich schon ein gutes Stück über die sanften Ausläufer des Odenwalds im Osten gestemmt, träge, als falle ihr das Aufgehen so schwer wie Liebstöckls Großmutter einst das Aufstehen, wenn sie es im Kreuz hatte. Die Luft leuchtete honigfarben im frühen Sonnenlicht, das aus dem Bach im Talgrund feine Nebelfäden sog. Am Ufer, nur von einer Streuobstwiese und dem Freilandgehege vom Bach getrennt, lag Schloters Eierfarm. Ein verspäteter Steinkauz segelte darüber hinweg und verschwand im Geäst eines alten Apfelbaums.
Der archaische Vogel, das Licht, der Nebel über dem von Weiden und Eschen gesäumten Bach, die Einsamkeit des Hühnerhofs - ein Bild, wie es Liebstöckl niemals hätte besser malen können.
Endlich ergriff eine der angehenden Legehennen die Initiative. Berta 623 löste sich von den anderen, wagte sich auf die Rampe, die ins Freilandgehege führte. Eben hatte sie noch einen der potenziellen Feinde über den Stall fliegen sehen. Doch etwas anderes war stärker als ihre Furcht: die Gier. Da draußen war der Zweibeiner, der die wunderbaren Körner besaß. Sie sah ihn nicht, die Distanz war zu groß, aber alle sonstigen Sinne sagten es ihr. Instinktiv begann sie, sich zu beeilen, um ihn vor den anderen zu erreichen.
Am Fuß der Rampe verlor sie fast den Halt, flatterte leicht und zeterte ärgerlich.
Verflixt, jetzt waren die Konkurrentinnen aufmerksam geworden. Es rappelte auf den Metallplatten, sie drängten hinterher. Als sei sie vor ihnen auf der Flucht, wetzte Berta 623 über die schorfige Wiese. Bei jedem Tritt ruckte ihr Kopf nach rechts und links, damit sie den Weg besser im Blick hatte. Erst auf die letzten Meter verlangsamte sie ihr Tempo. Etwas stimmte nicht mit dem Zweibeiner.
Sie hatte ihn gut erzogen, was ihr nicht schwergefallen war, denn er war gelehrig, wie alle seine Artgenossen. Ja, es ließen sich Zeichen von Intelligenz an ihnen entdecken. Nicht umsonst hatte der Urhahn sie wie das Huhn mit einem aufrechten Gang gesegnet. Ihre Flügel waren allerdings stark zurückgebildet und im Grunde zu nichts zu gebrauchen - außer zum Verteilen der Körner.
In der kurzen Zeit ihres Hoflebens hatte sich Berta 623 bei ihm mit einem Basis-Dressurprogramm begnügt. Wenn sie sich näherte, hatte er zu zeigen, dass er sie erkannte. Sein Gesicht sollte sich rot färben, dabei musste er die Winkel seines flachen, aber breiten Schnabels nach oben ziehen. Das Wichtigste aber: Sobald sie den Zaun erreichte, hatte er den mageren Flügel durch die Maschen zu strecken, mit seiner Kralle die Körner vor sie hinzustreuen und ein paar seiner unverständlichen Gurgellaute auszustoßen. Zu echter Kommunikation waren...