Schweitzer Fachinformationen
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Manchmal kann ein einziges Buch das ganze Leben verändern. Okay, das klingt kitschig, und ich meine auch nicht das Buch, das du gerade in den Händen hältst. Aber bei mir war das so. Als ich in der elften Klasse war, musste ich ein Referat halten. Es sollte sechzig Minuten lang sein, eine komplette Klausur ersetzen, und ich durfte mir nicht nur das Fach aussuchen, in dem ich es halten würde, sondern sogar das Thema. So viel Freiheit war ich nicht gewohnt. Etwas verzweifelt diskutierte ich mit meinen Eltern darüber, welches Gebiet ich überhaupt so interessant finde, dass ich eine ganze Stunde darüber referieren wollte. Mein Kopf war voll von Basketball, in manchen Wochen trainierte ich siebenmal. Daneben war kaum Platz für andere Leidenschaften.
Das Referat durfte sich auch auf ein Buch beziehen, also durchforstete ich das Bücherregal meiner Eltern. Zwischen Krimis aus Schweden und Erzählungen über das Leben von Frauen im Dritten Reich zog ich ein dünnes rot-weißes Buch hervor. Darauf stand: Medizin für die Bildung. Ein Weg aus der Krise.
»Hast du das schon gelesen, Mama?«, rief ich aus dem Wohnzimmer. Sie verneinte. Ich schlug es auf, begann zu lesen, und nach zwanzig Seiten wusste ich, worüber ich mein Referat halten würde. Im Buch ging es um Erkenntnisse aus der Hirnforschung und über das schier unglaubliche Phänomen, dass kaum eine davon in den Schulen der Republik angekommen zu sein schien. Ich las das Buch, hielt das Referat - und brannte plötzlich nicht mehr nur für Basketball.
Danach habe ich große Teile meiner Jugend damit verbracht, mir von einem Mann im Rollkragenpullover in Videos das Gehirn erklären zu lassen. Es geht mir heute noch so: Immer, wenn jemand das Wort »Gehirn« sagt, höre ich seine Stimme: »Guten Abend, meine Damen und Herren. Es geht um IHR GEHIRN!« Der Autor des rot-weißen Buches und der Mann in den Videos war der Hirnforscher und Psychiater Manfred Spitzer. Er ist heute durchaus umstritten, weil er regelmäßig verkündet, dass Smartphones dumm, dick und dement machen, und einige diese Darstellung für etwas verkürzt halten. Aber unter anderem seinetwegen habe ich angefangen, Bücher über Neurowissenschaften und Psychologie zu lesen, bin nach Osnabrück gezogen, um Kognitionswissenschaften zu studieren, und habe in Riga erforscht, ob Letten die Farbe Grau anders wahrnehmen als Deutsche, weil sie von viel mehr tristen Fassaden umgeben sind als wir. Die Arbeit trug den Titel Ten Shades of Grey, und die Antwort war: Nein, tun sie wahrscheinlich nicht.
Vielleicht kannst du dir unter dem Wort Kognitionswissenschaft nicht sofort etwas vorstellen. »Kognitiv« beschreibt eigentlich nichts anderes als das, was in deinem Kopf passiert, wenn du denkst, erinnerst, planst, entscheidest, wahrnimmst, vergisst, sprichst oder dir etwas vorstellst. Also alles, was du täglich tust - auch wenn du glaubst, du würdest gerade nichts tun. Das Wort kommt vom lateinischen cognoscere, auf Deutsch: erkennen, erfahren, wissen. Und das passt auch ganz gut, denn die Kognitionswissenschaft versucht herauszufinden, wie genau das funktioniert: Wie kommt ein Gedanke zustande? Wie treffen wir Entscheidungen? Warum erinnern wir uns an Dinge, an die wir uns gar nicht erinnern wollen, aber vergessen, was wir heute unbedingt im Supermarkt einkaufen wollten? Ich fand das damals enorm spannend. Und so geht es mir bis heute.
Seit ich angefangen habe, mich mit dem menschlichen Gehirn zu beschäftigen, bin ich über einige erstaunliche Erkenntnisse gestolpert. Eine davon - vielleicht die wichtigste - hat der Neuropsychologe Donald O. Hebb 1949 in diesem immer wieder zitierten Satz zusammengefasst: »Neurons that fire together wire together.« Auf Deutsch übersetzt: »Neuronen, die gemeinsam feuern, vernetzen sich.«
Darunter kann man sich wenig vorstellen. Deshalb folgt hier das hilfreichste Bild, das ich kenne, um zu verstehen, wie das menschliche Gehirn funktioniert: Stell dir vor, du ziehst in eine neue Stadt und willst morgens mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren. Am ersten Tag hast du keine Ahnung, welche Route am besten ist, also tippst du dein Ziel in die Navigations-App ein. Sie schlägt dir eine Strecke vor, aber es gibt viele Alternativen.
Beim ersten Mal fährst du noch langsam, hältst an jeder Kreuzung an und schaust, wo es langgeht. Ganz schön mühsam. Aber weil du jeden Tag die Strecke fährst, fällt es dir immer leichter. Nach ein paar Wochen brauchst du die Navi-App nicht mehr. Dein Gehirn hat die Route gespeichert, und du fährst sie automatisch. Gleichzeitig gibt es viele andere Straßen in der Stadt, die du nie nutzt. Weil dort kein Verkehr ist, wachsen sie langsam zu - es gibt keine klaren Fahrspuren mehr. (Okay, hier hakt das Bild etwas, aber ist ja auch nur ein Bild!) Wenn du plötzlich eine neue Strecke nehmen musst, fühlt es sich wieder an wie am ersten Tag: unsicher, langsam, ungewohnt, mühsam. Ohne App keine Chance.
Genauso funktioniert unser Gehirn: Die Stadt ist dein Gehirn mit seinen neuronalen Netzen, deine täglichen Fahrten mit dem Fahrrad sind die elektrischen Signale, und die Strecken, die du dir mit der Zeit einprägst, sind deine synaptischen Verbindungen. Wege, die du oft nutzt, werden zur festen Gewohnheit, und es fällt dir immer leichter, sie zu fahren. Ein Phänomen, das allgemein als lernen bekannt ist. Straßen, die du ignorierst, werden holprig oder verschwinden ganz. Ganz nach dem Motto: »Use it or lose it.« Benutze sie, oder verliere sie.
Aber Obacht: Wenn du jahrelang dieselbe Strecke fährst, fällt es schwer, irgendwann eine neue Route zu nehmen, selbst wenn sie kürzer wäre. So ist es auch mit unserem Gehirn. Es liebt eingespielte Gewohnheiten. Sie loszuwerden ist gar nicht so einfach.
Du wirst in diesem Buch einen kompletten Tag erleben. Er beginnt mitten in der Nacht, wenn du schläfst. Du wirst träumen, aufwachen, deinen Kaffee trinken, frühstücken, zur Arbeit gehen (ja: gehen) und bei der Arbeit in Meetings sitzen, die kein Brainstorming enthalten - denn dabei entstehen die schlechtesten Ideen. Nach der Arbeit wirst du Sport treiben, mit deinem besten Freund ein Feierabendbier trinken und dich an deine erste große Liebe erinnern. Zu Hause angekommen wirst du etwas länger am Handy hängen als dir lieb ist. Du wirst noch ein paar Seiten in einem Buch lesen und schließlich, nach einem ereignisreichen Tag, zufrieden einschlafen.
Und ich? Ich werde dir erklären, was während alldem in deinem Gehirn passiert. Dabei wirst du Dinge lernen, die dir im Alltag wirklich weiterhelfen: Wie du deine Träume steuern kannst, warum du dich im Großraumbüro nicht konzentrieren kannst, was wirklich dabei hilft, mehr Sport zu treiben, wie du es schaffst, weniger Zeit am Handy zu verbringen, was disziplinierte Menschen gemeinsam haben, warum du und deine Freunde über die gleichen Witze lachen, warum du einen Filmriss hast, wenn du zu viel trinkst, warum du schlechter schläfst, wenn du gestresst bist, und was du dagegen tun kannst.
All das habe ich natürlich nicht selbst erforscht. Ich habe mich nach meinem Studium entschieden, Journalist zu werden. Die Bücher und Studien über das Gehirn aber habe ich weitergelesen und daraus einen Newsletter und Podcast gemacht. Sie tragen beide den Titel »Das Leben des Brain«, auf ihnen basiert dieses Buch. Aber noch wichtiger: Nur dank der Arbeit der vielen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die jeden Tag die ganz kleinen und die ganz großen Fragen zum menschlichen Gehirn erforschen, konnte ich dieses Buch überhaupt schreiben. Die Studien und Bücher, auf die ich mich beziehe, findest du alle im Quellenverzeichnis weiter hinten, geordnet nach den Kapiteln, in denen sie vorkommen.
Ich werde auf den folgenden Seiten viele Fachgebiete der Hirnforschung anschneiden. Über jedes einzelne dieser Gebiete könnte man ein eigenes Buch schreiben. Mich hat aber schon immer das große Ganze interessiert. Ich fand Forschung immer spannend, aber noch spannender fand ich die Frage, was man mit der Forschung denn nun anfangen könne. Wie können Erkenntnisse, die in teils ultrakomplexen wissenschaftlichen Set-ups gewonnen wurden, unseren Alltag beeinflussen? Genau darum geht es hier.
Eins ist dabei wichtig: Jedes Gehirn ist ein Einzelstück. Es gibt kleine, große, schnelle, verträumte und wendige Köpfe. Es gibt Gehirne, die Informationen filtern wie ein Flusensieb, und solche, die jede Kleinigkeit aufsaugen wie ein Schwamm. Wer sich heute ein bisschen mit Neurowissenschaft beschäftigt, stößt schnell auf Begriffe wie ADHS, Autismus, Hochsensibilität, Dyslexie - also auf all die Formen von sogenannter Neurodiversität, die zeigen, wie unterschiedlich Menschen die Welt wahrnehmen und verarbeiten.
Vielleicht fragst du dich: Wenn es dieses riesige Spektrum gibt, warum spreche ich in diesem Buch vom »Gehirn« und nicht von »den Gehirnen«? Ich setze hier einen anderen Fokus. In diesem Buch geht es nicht darum, neurologische Unterschiede zu kategorisieren. Hier und jetzt konzentriere ich mich auf das, was uns verbindet: darauf, wie erstaunlich formbar, lernfähig und anpassungsfreudig dieses kleine Wunderwerk in unserem Kopf ist.
Klar ist aber auch: Wissenschaft ist selten komplett eindeutig. Erkenntnisse lassen sich so oder so interpretieren. Damit man sich aber überhaupt fragen kann, was die Ergebnisse von Studien für den eigenen Alltag bedeuten, muss man sie erst mal verstehen. Deshalb wirst du in diesem Buch keinen Fachbegriff und keinen Vorgang finden, den ich nicht versuche, so einfach wie nur irgendwie möglich zu...
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