SÃO PAULO UND DIE DIÖZESEN IM LANDESINNEREN
Die Erzdiözese und die pastoralen Herausforderungen an der Peripherie
Den Bundesstaat mit der größten Bevölkerungsanzahl besuchte ich mehrmals. In den 13 Jahren meines Mandats (1983-1996) lernte ich die Hälfte aller Diözesen des Regional Sul 1 kennen. Die Metropole São Paulo stand wegen der nationalen Partner auch nach Abgabe dieses "Koloss" noch mehrmals auf dem Reiseplan, insgesamt 13 Mal. Den ersten Aufenthalt sah ich als Antrittsbesuch beim zuständigen Erzbischof und zu meiner Orientierung. Ich kannte bis dahin absolut niemanden und in dem kleinen Hotel im Zentrum überkam mich ein Gefühl der Verlorenheit und Einsamkeit wie sonst nirgendwo in Brasilien. Es war ein Schock. Das nicht endende Meer von Hochhäusern erdrückte mich, dazu die vielen Fahrbahnen auf den weiten Avenidas, die Schwimmbäder und Hubschrauberlandeplätze auf den Wolkenkratzern, der ununterbrochene Autolärm bei Tag und Nacht, der Smog - das alles war zu viel der fremden Eindrücke!
Der Taxifahrer hatte die Adresse der Kurie in der Av. Higienópolis am Montagmorgen, meinem ersten Arbeitstag in São Paulo, nicht richtig verstanden. Er witterte ein Geschäft und ich fühlte mich machtlos, zumal ich im Portugiesischen noch nicht sicher war. Das Gespräch mit Erzbischof Cardeal D. Paulo Evaristo Arns war kurz und eher förmlich. Dafür zeigte sich der anschließende intensive Informationsaustausch mit den drei für Verwaltung und Finanzen zuständigen Diözesanpriestern und dem Procurador Geral, D. Francisco M. Vieira als sehr informativ und orientierend. Hinzu kam, dass ich in der Mittagpause von einem der Gesprächsteilnehmer Pe. Dr. Dalton Begleitung bekam. Er machte das einzig richtige, nahm mich bei der Hand, sodass ich beim Gang durch die Einkaufsstrassen meine Unsicherheit abschütteln konnte. Ich sagte ihm später bei anderer Gelegenheit, dass er ein guter Psychologe für mich gewesen sei.
In dem Gespräch mit den Verwaltern bekam ich einen Überblick über die Situation, in der sich die Erzdiözese 1983 mit ihren 8.500.000 Einwohnern im Stadtgebiet bzw. 12.100.000 in der Metropoloregion befand. Die demographische, durch Migration bedingte Bevölkerungsexplosion sei der Erzdiözese aus den Händen geglitten, erfuhr ich vom Generalbevollmächtigten. Das Geschenk eines Klein-Computers solle zu einer Bestandsaufnahme aller Besitztümer und ihrer Verwaltung genutzt werden. Ich empfand den Kommunikationsstil erstaunlich transparent für ein Erstgespräch. Man zeigte mir die Büro - Räumlichkeiten, die mir für eine Erzdiözese dieser Größe mit lediglich 20 Mitarbeitenden ziemlich eng erschienen. Das Hauptgebäude hatte eine pastorale Funktion. Kardinal Arns empfing dort die Besucher, darunter viele Exilanten aus den Nachbarländern. Im Hauptgebäude war deshalb auch die Menschenrechtskommission untergebracht.
In dem Gespräch hörte ich heraus, dass die Kurie bei Projekten zunächst lokale Lösungen suchen werde und man sich mit der neuen Organisation der Verwaltung weitere Einnahmen erhoffe. Größtes Problem sei jedoch für die nahe Zukunft, Gemeindezentren in den neuen Siedlungsgebieten (Conjuntos Habitacionais), COHABs genannt, in den Bischofsregionen zu schaffen. Dafür erhoffe man sich die Unterstützung von Adveniat, weshalb ich am anderen Tag gleich eine COHAB in der Bischofsregion von São Miguel besuchte. Dort war man dabei, reihenweise schlichte Häuserblocks mit Wohnungen von max. 70 qm Wohnfläche zu erstellen. Ich traute Augen und Ohren nicht, im nächsten Jahr sollte dieses neue Siedlungsgebiet 900.000 (!) Menschen Wohnraum geben. 600.000 Neuankömmlinge in den fertigen Blocks zählte man schon. Dabei hatten die Stadtplaner in dem von der Weltbank und Zentralregierung geförderten Projekt weder Grünflächen, Einkaufszentren, Kindergärten, geschweige denn ein Krankenhaus berücksichtigt, lediglich einige Gesundheitsposten. Der kath. Kirche gewährte man nur ein Grundstück für eine Kirche mit Gemeindezentrum! Nach dem Besuch war ich sehr deprimiert über diese seelenlose, unmenschliche Art der Stadtplanung. Die Menschen schienen mir wie Heringe im Fass eingepfercht, ich sah keinen Unterschied zu Favelas, vielleicht waren die Lebensbedingungen sogar noch schlimmer, meinte auch mein Begleiter.
Bei folgenden Besuchen im Großraum São Paulo lernte ich mehrere CO-HABs kennen, wo Adveniat sich bei der Erstellung von Gemeindezentren und Kirchenräumen engagierte. Misereor half damals beim Kauf von 51 Grundstücken. Mir wurde immer klarer, dass die COHAB - Siedlungen prioritäres Arbeitsfeld der Erzdiözese sein mussten und ihr einheitliches Pastoralkonzept, vor allem zur Förderung von Basisgemeinden in den vier Bischofsregionen, Sinn machte. Dieses eckte jedoch kirchenpolitisch im Laufe der Jahre immer mehr an, weshalb es 1989 durch den Vatikan zur Abtrennung der Bischofsregionen von der Erzdiözese und zur Gründung der vier neuen Diözesen Santo Amaro, São Miguel Paulista, Osasco und Campo Limpo kam. Da stießen zwei unterschiedliche Modelle von Kirche - Sein aufeinander, die sich nicht mehr verstanden. Ich empfand es wie viele als ein ebenso trauriges wie ärgerliches Kapitel weltkirchlichen Unverständnisses. Die Wellen schlugen damals bis nach Europa hoch.
Projektbesuche bei Partner:innen einer befreienden Pastoral
Das Thema Wohnsituation der armen Paulistanos beschäftigte mich bei weiteren Aufenthalten. Ich lernte interessante Projektpartner:innen kennen und traf auch einen Studienkollegen aus meiner Studienzeit in Bielefeld, den Spiritaner P. Klaus Velsinger, wieder. Ihm verdanke ich orientierende Gespräche und logistische Hilfe beim Fortbewegen in der Stadt. In seiner 100.000 Einwohner großen Pfarrei "da Reconciliação" der Bischofsregion von Belém hatten die Spiritaner das alte Pfarrkonzept horizontalistisch umstrukturiert in comunidades, grupos de rua und grupos de predio, über die sich ein Netz von linhas pastorais (Katechese Jugendarbeit, Arbeiterpastoral u.a.) legte. Vor allem ging es um eine gute Ausbildung der lideres in Bibel-oder Katechesekursen. Beim Besuch erfuhr ich, wie wichtig die Treffen und Kurse für das Empowerment der marginalen Bevölkerung sind. Politisch zeigte sich bei meinem Besuch im Jahr 1988 mit der Wahl der Sozialarbeiterin Luisa Erundina von der PT als Bürgermeisterin auch ein Lichtblick am Horizont zu einer stärkeren Förderung von Eigeninitiativen in den Armenvierteln.
Im selben Jahr lernte ich die deutsche Theologin und AGEHlerin Dr. Ana Maria (Hadwig) Müller aus der Pro-Pfarrei Sao Sebastião von Itaquéra kennen. Auch sie gab mir Hilfen bei der Orientierung in der Kirchenlandschaft dieser Metropole. Ihr verdanke ich einen mehrtägigen Aufenthalt in ihrer Pfarrei, wo ich Gelegenheit hatte, neben meinem täglichen Arbeitsprogramm der Projektbesuche an Treffen von Frauengruppen teilzunehmen und mit Führungspersonen der comunidades zu sprechen. Ich wollte auf den Reisen auch einmal die Erfahrung machen, mit den Armen ausführlicher zu sprechen und nicht nur mit den Hauptamtlichen der Pastoral, unseren Antragsteller:innen. In diesen Gesprächen erlebte ich viel Selbstbewusstsein, Würde, tiefen Lebens- und Glaubensschatz. Die afrostämmigen Frauen entdeckten den Reichtum ihrer Herkunft, gestalteten die Liturgie kreativ und bekamen Mut, die Behörden und die Lokalpolitiker herauszufordern, aber auch die Padres. Ich erinnere mich an eine Diaserie des Teams von Paulo Freire, das mit der Erzdiözese zusammenarbeitete: in einem hochsymbolischen Bild wird eine Kirche aus den Wolken mit einem Seil auf die Erde gezogen. So erlebte ich diese Begegnungen - die Kirche kommt auf eine Ebene mit den Menschen. Sie schwebt nicht mehr über ihnen! Diese Dynamik musste, wie schon erwähnt, Widerspruch von "oben" auslösen.
Unter vielen eindrücklichen Begegnungen bleibt mir ein Projektbesuch 1991 in der Pfarrei São Francisco de Assis der neu gegründeten Diözese São Miguel Paulista in Erinnerung. Der Antragsteller, P. Antonio Luiz Marchioni, war für sein Engagement in der Pastoral da Moradia, der Pastoral für Wohnungsfragen, stadtbekannt. Von P.Ticão hatte ich unterwegs schon viel gehört. Er war einer der Impulsgeber für diese wichtige Pastoral, gleichzeitig ein guter Organisator bei der Gründung von Wohnungsbaukooperativen. Die Stadtverwaltung unter Luisa Erundina stellte Grundstücke und Baumaterial zur Verfügung und an Wochenenden errichteten die Wohnungslosen in Eigenarbeit - mutirão, wie man in Brasilien sagt - ihre schlichten Blockhäuschen. Pe. Ticão machte mit mir einen Rundgang durch die 4000 Familien große Favela seiner Pfarrei, die nach zehn Jahren Besiedlung schon über eine erstaunliche Infrastruktur verfügte mit Kanalisation, asphaltierten Strassen und Treppen, kleinen Kindergärten. Für den visionären Priester einer caridade libertadora waren die Gründung und Begleitung von Bibelgruppen das Fundament aller...