II.
Auf der Suche
Inhaltsverzeichnis Die Karte habe ich bis Spezia genommen. Dort bin ich einmal durchgefahren, vor . o Gott, sind das schon zweiundzwanzig Jahre? Und wie gereift und weltweise kam ich mir damals vor! Demnach wäre ich heute ein Greis? . einmal durchgefahren und habe weit in den Bergen drin, auf steilen Kuppen, zwei Städtchen liegen sehen. Die will ich nun besuchen. Damals schien es mir nicht der Mühe wert. Oder nein, seien wir nicht ungerecht! Ich wußte wohl, daß dort mein Glück wohnen könnte. Aber das Leben war so reich, das Glück so vielgestaltig, daß es mir unnütz schien, ihm nachzulaufen. Es würde sich mir anderswo und immer wieder in den Weg stellen. Das Glück. Heute tappe ich auf den Fährten meiner Jugend .
Wie oft, wie oft auf weiten Fahrten habe ich vom Schiff aus eine grüne Insel gesehen, vom Zug aus ein Haus unter Bäumen, auf einem Hügel oder in einem stillen Wiesengrund, habe die Sehnsucht gespürt wie einen elektrischen Schlag und ihr nicht nachgegeben! Hätte ich es doch getan! Wäre ich doch vom Schiff ins Meer gesprungen und an die Küste geschwommen, hätte ich doch den Zug angehalten und das Haus meines Glücks gesucht! Vielleicht wäre die Insel fieberverseucht gewesen, oder von Schlangen und Skorpionen bevölkert; und das Haus in der Wiese ein muffiger Kasten mit nassen Mauern, das auf dem Hügel eine halbe Ruine in einer Steinwüste! Dann brauchte ich heute nicht zu trauern, daß ich immer, immer am Glück vorbeigezogen bin .
Blase Trübsal, mein Herz, und laß mich sehen, ob nicht von dem Schalle, denen von Jericho gleich, die Mauern niederstürzen werden, die mir den Blick verstellen wollen! Willst du in Tränen schwimmen, wie eine Gurke im Salzwasser? Noch ist der Himmel hoch und die Welt weit! Es ist wahr, mir fehlen zehn Jahre - als mir eben die Augen aufgehen wollten, kam der Krieg und das Nachher . zehn Jahre! Werden die nie wieder zu finden sein? Laß uns suchen, mein Herz!
Wir halten an einem kleinen Bahnhof. Aus der Tür der Wirtschaft näselt ein Grammophon: » Io cerco una Titina, la cerco e non la trovo .«
So scherzt ein Teufel! Aber nicht mit mir! Ich nehme es als Omen! Laß uns im Onestep die Suche betreiben, mein Herz! Und ist der zweite Schritt verhallt, der einst neben mir klang - auch der rüstige Einschritt bringt voran!
Das Wetter will seinen Frieden mit mir machen: draußen begibt sich ein strahlender Sonnenuntergang. Sooft der Zug aus der kühlen Kellerluft eines Tunnels hervorsaust und eine offene Strecke überquert, sehe ich blaue Wogen und weißen Gischt an übergoldeten Felsen. Alles drängt zu den Fenstern an der Seeseite - für die Berge auf der anderen Seite hat kaum einer einen Blick. Ich aber höre wieder einmal die Stimme der alten Sehnsucht in mir, die mir sagt, daß nur die Berge mich heilen werden, nie das Meer. Ich lächle grimmig über meine Unbelehrbarkeit: die Berge! Bin ich nicht eben erst den Bergen entflohen, den Bergen der Heimat, habe das Meer gesucht, die Wiege aller Dinge, um meine Sehnsucht und mein Leid hineinzubetten? Du nörgelst, Knabe - fürchte meine Faust!
Die Wiege aller Dinge. - Hier nun werden solche geschaukelt, mit denen ich nichts gemein haben will: da wird das Meer in bekömmlichen Dosen, mit Palmen garniert, wie Aufschnitt, als Diätspeise aufgetischt. Nervi, St. Margherita, Rapallo. Es wird behauptet, daß die erheblichen Eingänge aus der Kurtaxe zum Ankauf von Anilinblau verwendet werden, mit dem das Meer, und von künstlicher Patina, mit der die Häuser und Dächer aufgefärbt werden. Darf ich es glauben? Ich muß, ich muß! Da die Großstädte der ganzen Welt nun einheitlich vertrustet sind, kommen auch die Kurorte an die Reihe. Die Perlen der Riviera, der Adria, des Tyrrhenischen, des Ägäischen oder sonst eines Meeres, der zahllosen Seen und unterschiedlichen Alpen - sie alle hängen an der seidenen Schnur, mit der der Fortschritt die Natur erdrosselt. Wo habe ich nicht überall die Werbeplakate für solche Perlen gefunden, die das Blau überblauen, das Grün übergrünen, kurz, alle Farben überfärben, und in denen sich regelmäßig ein Riesenhotel, wie die falsche Lösung eines Preisausschreibens von Ankers Steinbaukasten, in eine wohlgeordnete Landschaft schmiegt! Kurorte schmiegen sich immer irgendwo an, nebenbei bemerkt; nur ihre Preise sind unbeugsam. Da wird den Kranken versprochen, daß sie unweigerlich gesund, den Gesunden, daß sie noch gesünder werden; auch die Toten dürfen auf erstklassigen Abtransport in verlöteten Blechsärgen rechnen, oder auf Bestattung in stimmungsvollen Friedhöfen, je nach Wunsch und Zahlkraft, sowie auf vorherige Tröstungen der jeweiligen Religion und nachherige Totenmesse, unauffällig (ich bitte Sie: das Geschäft!) aber wirksam. Bäder, Friseur, Tennisplätze, Golflinks im Hause.
Ich kenne euch, ihr Sirenen, die ihr mit Himmelsklängen und verheißenden Gebärden den Wanderer an euren Strand lockt, um ihn dann unverweilt zu verschlingen! Traurig genug, daß gerade ihr weiterlebt, wo alle Götter gestorben sind! Doch mich lockt ihr vergebens - ich brauche mich nicht einmal, wie Odysseus selig, festbinden zu lassen! Der gute Odysseus! Auch sein Geist lebt fort, er ist mir oft genug begegnet, und ginge es nach mir, so mußte in jedem bürgerlichen Ehegemach sein Bild hängen, wie er gefesselt den Sirenen lauscht, mit der Unterschrift: »Führet mich in Versuchung, aber haltet mich fest, damit ich nicht hineinfalle!« O zeitloser Homer, Göttlicher!
Die Berge grüßen immer noch, im Abendschein. Über Kastanien und Olivenwäldern steigen die Wiesenhänge, steigen Felshalden empor, licht und frei. Was soll mir das Meer? Und die Ziellosigkeit meiner Fahrt drückt schwer: immer vorbei, immer?
Wir fahren in eine Station ein, deren Name mir völlig fremd ist. Ich kann mich nicht erinnern, ihn auf Plakaten oder in Zeitungsanzeigen gelesen zu haben. Sollte es doch noch ein Fleckchen an dieser Küste geben, wo der Fremdenfang nicht als alleiniges Gewerbe ausgeübt wird? Vielleicht überhaupt nicht?
Von jäher Hoffnung erfüllt, reiße ich mein Gepäck an mich und springe auf den Bahnsteig. Ein Träger mit kupfernem Nummernschild erschreckt mich: das schmeckt nach Fremdenverkehr! Doch da fährt mein Zug schon, und ich tröste mich, weil die Nummer eins ist. Vielleicht habe ich es nur mit einem Auswuchs der Selbstgefälligkeit zu tun, und es gibt gar keinen andren?
»Ich unterbreche,« sage ich zu dem Faschisten an der Sperre, der die Karte nach Spezia mustert. Bin ich nicht frei? Nichts und niemand erwartet mich, oder wenn doch, dann nicht mit Freude. Keine Angst, ich komme nicht wieder! - Das Gepäck lasse ich am Bahnhof und trete in das sinkende Dunkel hinaus, in völlige Fremde. Das ist meine Stunde: alles macht Feierabend, freut sich der Ruhe, ist zu Hause - da gehören ich und meinesgleichen auf die Straßen. Das grüßt und lacht und plappert - kein Gruß, kein Scherz gilt mir. Habe ich Hunger, möchte ich schlafen? Irgendwo wird man mir zu essen, wird man mir ein Bett geben, alles für Geld, mir wie jedem andern. Zucke nicht, du dummes Herz: »Wem nie von Liebe Leides kam, dem kam auch nie von Liebe Lust!«
Die Stadt - nun, die Stadt werde ich nicht nennen. Sie befindet sich in fieberhaftem Aufschwung, und ich finde es ungezogen, Städte, die doch weiblich sind, bei dieser Verrichtung zu belauschen oder die Aufmerksamkeit auf sie hinzulenken.
Niemals habe ich den Geschmack von Großmüttern begriffen, die sich ein Löwengebiß zwischen die morschen Kiefer klemmen, einen Lockenwust auf den kahlen Schädel, die sich die Runzeln mit Puder und Schminke überkleistern und sich in Stilkleider zwängen - anstatt in Seidentaft und Spitzenhäubchen ehrwürdig dazusitzen, den Enkeln eine Erbauung. Doch ach, die Großmütter sind selten geworden; ihre Märchen erzählt nun der Rundfunk, und da die Erfindung des Fernriechers vor der Türe steht, wird bald auch der Duft gebratener Äpfel die schnarrenden Klänge des Lautsprechers begleiten.
Und Städtegroßmütter haben es natürlich noch härter. Wenn sie ihr Alter unterstreichen, machen sie es schwerlich recht. Ich denke an Rothenburg, wo die Einwohner, um das Stadtbild zu beleben, mittelalterlich lächelnd ihre Holzköpfe zu den Fenstern herausstecken - nur die Köpfe, um nicht zu verraten, daß sie unterwärts in Nürnberger Konfektionsware gekleidet sind - und wo ein eigener Stromunterbrecher in den Glühbirnen hinter den Butzenscheiben das Blaken der alten Ölfunzeln vortäuschen hilft .
Andrerseits: kann und darf der Siegeszug der Wasserspülung, dieses Wahrzeichen unserer Gesittung, vor noch so historischem Gemäuer haltmachen? Hier liegt ein Problem! - Ich werde es heute nicht mehr lösen. Ich streiche durch die uralten Laubgänge, an Läden vorbei, die meist noch offen sind. Ich könnte zu dieser späten Abendstunde noch kanadischen Büchsenlachs kaufen, Salz, Tabak, Briefmarken, auch einen Hut, ein Hemd, ein Paar Schuhe. Die Tür eines Barbiers haucht mich mit Wohlgerüchen an. Ich brauche nichts - doch das bloße Bewußtsein, alles unter der Hand zu haben, nimmt der einsamen Nacht viel von ihren Schrecken.
Um die Ecke einer Seitengasse dringt Marschmusik, und Lichtschein springt davor her, wie gejagt. Es ist eine Prozession und zwar, wie man mir gleichmütig erklärt, die Oktave von Fronleichnam.
Weißgekleidete Kinder voraus, Knaben und Mädchen gesondert; dann und wann ein Kreuz, ein reichgesticktes Banner; zu beiden Seiten Greise, die abwechselnd schöngetriebene alte Messinglaternen an roten Stangen tragen, oder dicke Kerzen. Priester in langer...