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September 1901
Antonia Bruckner stand, noch im seidenen taillierten Nachthemd, mit dem Rücken zu dem Standspiegel und band ihrem Mann das Plastron aus schwarzem Satin. Hinten in ihrem Schlafzimmer in der Gründerzeitvilla an der Isar stand das Bett, wo der zweijährige Thomas mit seinem Holzpferdchen spielte. Er war bereits nach fünf Monaten Ehe zur Welt gekommen, aber zum Glück interessierte das niemanden, sobald man einen Ring am Finger trug. Seit Antonia und Melchior Bruckner verheiratet waren, hatte sie es sich angewöhnt, ihm die Krawatte zu binden. Wo die Kragen so hochgeschlossen, die Unterhosen so lang und die Korsetts so straffgeschnürt waren, musste man jede Gelegenheit nutzen, sich berühren zu können. Heute allerdings war sie abgelenkt. Mal lächelte sie verstohlen, dann presste sie die Lippen aufeinander.
«Fertig. Das wird unser drittes gemeinsames Oktoberfest», meinte sie. Das erste Mal war so schön gewesen, dass der zweite Besuch zwangsläufig ein wenig abgefallen war. Seit Melchior die Brauerei seiner Familie übernommen hatte, war für sie beide der Arbeitsalltag auf der Wiesn eingekehrt. Aber dieses Mal hatte er versprochen, sich wieder mehr freie Zeit zu nehmen. Antonia zog den Krawattenschal fest und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihren Mann zu küssen.
Melchior nahm sie in die Arme, dann ächzte er: «Seejungfräulein, wenn du weiterziehst, schaffst du es doch noch, mich zu Tode zu küssen. Nicht dass es kein schöner Tod wäre.»
Sie lachte und ließ ihn los. «Wenn es den Todeskuss der Nixen tatsächlich gäbe, hättest du längst irgendetwas dagegen erfunden.»
«Zweifellos. Ich bin jetzt Geschäftsmann, und Liebhaber, die man nur einmal verwenden kann, sind unrentabel.» Er kontrollierte den Sitz des Plastrons im Spiegel, ehe er den Hemdkragen mit dem schrecklichen Namen «Vatermörder» herunterklappte und die brokatverzierte Weste aus schwarzem Atlas zuknöpfte. Es war die beste Entscheidung ihres Lebens gewesen, ihn zu heiraten, dachte Antonia, als sie ihm zusah. So ironisch er sich nach außen geben konnte, sie hatte er immer mit einem Respekt behandelt, den sie von Männern nicht gekannt hatte. Mit seinem schmalen Gesicht, den geraden Brauen und den großen eisblauen Augen, mit dem glatt zurückgekämmten hellbraunen Haar hätte keiner in ihren Augen besser ausgesehen. Schon gar nicht in dieser eng geschnittenen Weste, die seine undurchsichtige Eleganz betonte. Die meisten anderen Brauereibesitzer hielten ihn für zynisch und berechnend. Der eine oder andere hätte sogar geschworen, dass Melchior Bruckner unter seinem Zylinder ein paar Hörner und in den modischen Lackschuhen behaarte Bocksbeine versteckte - ein Ruf, den er genüsslich kultivierte.
«Schon gut, Dorian Gray», zog sie ihn auf. Vormittags würde Melchior im Königszelt seine Geschäfte machen. Aber wenn er nach dem Pferderennen gegen vier Uhr frei wäre, würden sie eine Runde mit dem Riesenrad fahren. Nachmittags war das Licht so schön, wenn die ersten Bierhallen die elektrische Beleuchtung einschalteten und sich langsam wie ein funkelnder Schleier ein Leuchten über die Festwiese legte. Dort würde sie ihm sagen, dass sie wieder ein Kind erwartete - erst dort. Bei ihrer ersten Schwangerschaft war er so aufgeregt gewesen, dass er sie am liebsten die ganze Zeit unter eine Glasglocke gestellt hätte. Für jemanden, der so begeistert die Entwicklung der neuen Technik verfolgte, war es nicht leicht gewesen, einzusehen, dass manche Dinge noch immer der Natur überlassen werden mussten.
«Es ist schön, sich einmal im Jahr außerhalb von Zucht und Ordnung bewegen zu dürfen», meinte sie. «Nicht ständig darauf achten zu müssen, wen man wie berührt, mit wem man wann und wie reden kann.» Das Fest war eine Auszeit davon wie die Saturnalien im alten Rom - eine Zeit, in der die normalen Regeln nicht galten, in der nichts, was man tat, Folgen für die Wirklichkeit hatte. Eine verwunschene Realität, in der man Irrwege gehen, Luftschlössern nachjagen und Dummheiten machen durfte. Wenn sie verpufften, hatte sich nichts verändert.
«Ohne Frage», bestätigte Melchior mit dem vertrauten ironischen Zucken seines Mundwinkels. «Ich sehe jetzt schon die Schlägereien vor mir und all die gebrochenen Nasen und von berstenden Bierkrügen aufgeschnittenen Lippen. So wie letztes Jahr. Hinreißend romantisch.»
Antonia musste lachen, als sie sich erinnerte, wie sie damals beinahe in so eine Schlägerei hineingeraten wären. «Das war doch amüsant», meinte sie. «Vielleicht hätte ich den Burschen nicht am Kragen packen und zusammenstauchen, sondern zusehen sollen, wie du dich im Zweikampf mit Maßkrügen und Stuhlbeinen machst!»
«Unterschätz mich nicht. Ich war auch einmal fünf Jahre alt und habe mich geprügelt.» Melchior griff nach seinem Gehrock, den er achtlos über einen Stuhl geworfen hatte, und bemerkte mit seinem üblichen Sarkasmus: «Allerdings fürchte ich, du hast recht. Es fällt mir schwer, die Philosophie einer Kneipenschlägerei unter erwachsenen Männern nachzuvollziehen.»
«Schon gut, Mylord.» Antonia wollte an ihm vorbei und hätte dabei fast die Lampe von seinem Schreibtisch gerissen. Es war ein wunderschönes, ziemlich teures Art-nouveau-Stück: eine schwarzhaarige nackte Nymphe, die den Arm um einen Pfau gelegt hatte. Das Pfauenrad stabilisierte den Fuß, der Schirm hatte die Form einer Blüte - laszives Gegenstück zu einer Welt, in der Körper und Seelen von Walknochen in Schnürbrüsten zurechtgepresst wurden. Gerade noch rechtzeitig bewahrte sie das Kunstwerk vor dem Sturz. «Ich bin spät dran. Wenn ich mit dir fahren will, muss ich mich anziehen.»
Ihr dichtes dunkelbraunes Haar hatte sie schon über Nacht mit Papillotten aufgedreht und gleich nach dem Aufstehen zu einer Lockenfrisur gesteckt und ein rotes Seidenband hineingeflochten. Darüber würde der breitkrempige Strohhut mit den blassroten Kunstrosen und eine passende Schärpe aus Atlas kommen. Das Wetter war so schön, dass sie sich gegen das förmliche Damenkostüm aus schwarzem Jackett und langem Rock entschieden hatte. Das helle Sommerkleid lag schon auf das Bett gebreitet: hochgeschlossen, aber mit Seidenrüschen, angedeuteten Puffärmeln aus Spitze und verzierten Knöpfen. Unter diesen Reformkleidern musste man kein einschnürendes Korsett tragen, das einen aussehen ließ wie eine gequetschte Weißwurst: den Bauch nach innen, Brüste und Hinterteil nach außen gepresst, sodass Sitzen überhaupt nur in vorgebeugter Haltung möglich war. Bestenfalls kam ein lockeres Reformkorsett darunter, das die Taille nicht einschnürte und das Gewicht der Brust auf die Schultern statt nach unten verteilte. Antonia hatte nicht die geringste Lust, sich die Organe einzuschnüren oder gar die Rippen zu brechen für eine Wespentaille. Von Korsetts wurde man ohnmächtig, kurzatmig und krank. Außerdem klemmten sie ständig beim Ausziehen, kurz: Es war der Keuschheitsgürtel des Industriezeitalters. In diesem Kleid konnte sie Düfte tief einatmen, konnte das Flattern des Saums um ihre Knöchel fühlen, den weichen Stoff auf ihrer Haut.
Melchior schien ihre plötzliche leichte Verstimmung zu spüren, er hielt sie an der Hand zurück und küsste sie noch einmal. Da er dieses Mal dabei nicht gewürgt wurde, dauerte es etwas länger, und Antonia genoss das Prickeln, das sie dabei durchlief. Dann allerdings hörte sie das Geräusch vom Bett her.
«Tommy, nein! Meine Perlen!»
Der kleine Thomas hatte die Kette auf dem Bett gefunden und angefangen, daran zu nagen. Dabei hatte er wohl zu fest zugebissen. Schleunigst brachte Antonia das Hochzeitsgeschenk ihres Mannes auf der Kommode in Sicherheit und nahm ihren Sohn auf den Arm. Von Geburt an hatte er alle verzaubert mit seinem dunklen Lockenköpfchen. Aber auch zauberhafte Kinder bekamen Zähne.
Lachend ließ sich Melchior in den im historischen Stil geschnitzten Sessel fallen. Antonia beruhigte den Kleinen, trocknete ihm das Gesicht mit seinem Lätzchen und setzte ihn dann in sein Bettchen neben ihrem eigenen. Sie streichelte das Köpfchen und gab ihm wieder das Pferd. Zufrieden biss er in das Holz und strahlte sie mit seinen riesengroßen Augen an. Das Kindermädchen war noch in der Kirche, aber nachher auf der Wiesn würden sie Zeit für sich haben.
«Es wird leider nichts mit dem Riesenrad», sagte Melchior auf einmal.
Überrascht blickte Antonia auf.
Es war ihm sichtlich unangenehm. Sie kannte diesen nachdenklichen Blick, wenn er eine Braue hob. «Carl von Linde hat kurzfristig noch einen Termin für mich einrichten können. Die Drahtnachricht kam gestern Abend. Es geht um die Kühlanlage, über die wir gesprochen hatten. Ich will, dass er die neueste Generation bei uns in der Brauerei testet. Er hätte auch dich gern dabei, du hast schließlich die Kalkulation erstellt.» Langsam ging sie zu ihm hinüber, und er zog sie auf seinen Schoß. «Ich weiß, du hattest dich gefreut.»
Antonia legte die Arme um ihn. Sie hätte ihm nie gezeigt, wie enttäuscht sie war. Natürlich freute sie sich für ihn, dass er seinen Weg gefunden und damit Erfolg hatte. Aber was einmal Freiheit und Ausgelassenheit bedeutet hatte, wurde nun durch Termine und Verpflichtungen von Jahr zu Jahr stärker in geradezu preußische Disziplin gepresst. Würde ihr Leben am Ende doch von der Enge beherrscht werden, vor der sie damals hierher in die Stadt geflohen war? Die Tochter eines armen Bauern und der reiche Patrizier: Konnte das gutgehen, wenn dieses strenge Regelkorsett wieder Macht über sie bekam? Vielleicht waren Fragen wie diese der Grund, warum Märchen immer mit der Hochzeit endeten. «Warum hast du...
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